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Am 17. Mai wird in Norwegen gefeiert. Es ist Nationalfeiertag, man feiert das norwegische Grundgesetz, das 1814 verabschiedet wurde und 1905 den friedlichen Übergang in die Unabhängigkeit ermöglichte. Dies wird gefeiert aber nicht mit einem Festakt, sondern eher mit einer Art Kirmes. Überall im Lande ziehen die Kinder mit ihren Eltern in einer Art Demonstrationszug durch Dörfer und Städte. Oft spielt dazu auch noch das Schulorchester. Es gibt Gottesdienste und es wird gefeiert. Jede Menge Limonade, Eis und Spiele für die Kinder. Der bekannteste Kinderzug ist der in Oslo. Stundenlang ziehen Schulklasse um Schulklasse am Schloss vorbei, von dessen Balkon der König und seine Familie den Kindern zuwinken. Das Fernsehen sendet den ganzen Tag Live-Übertragungen von den Zügen im ganzen Land.

 

Auch dieses Jahr wird gefeiert. Jetzt erst recht! Denn an allen anderen Tagen nimmt der Prozess gegen den Narziss von Utøya sehr viel Raum ein. Die Berichterstattung darüber beansprucht mehr Sendezeit als der Norweger Lieblingsprogramm: Liveübertragungen vom Fußball oder Wintersport.

Das was wir da teilweise als Liveübertragung aus dem Gericht zu sehen bekommen, ist so etwas wie die Entkleidung eines selbstverliebten Täters. Anders Behring Breivik, der zu Beginn noch verlangte in einer Phantasieuniform auftreten zu dürfen, wird gemeinsam mit uns Stück vor Stück vor Augen geführt wie viele seiner  Behauptungen reine Hirngespinste sind. Dessen Hauptziel im Prozess ist es inzwischen, nicht als unzurechnungsfähig erklärt zu werden.

Viele Vorstellungen des Täters sind als bereits entlarvt als Phantasien worden. Durch aus real ist das Leid seiner Opfer. Opfer um Opfer wird behandelt. Die Toten bekommen ein Gesicht und die Überlebenden bekommen Gelegenheit, das Schreckliche das auf Utøya erlebt haben zu berichten. Manchen gelingt dies im Angesicht des Mannes, der auch ihr Leben auslöschen wollte. Bei anderen muss der Täter weiter entfernt vom Zeugenstuhl Platz nehmen oder sogar den Gerichtssaal verlassen. Einige leiden noch immer so unter den Erlebnissen dass sie nicht davon berichten können. Trotzdem scheint der Mann, der 77 Menschen  tötete mit jedem Tag im Gericht ein wenig kleiner zu werden. Er tritt auch längst nicht mehr so großspurig auf wie vor und zu Beginn des Prozesses. Aber noch immer zeigt er kein Bedauern oder mittmenschliche Regungen.

Ein anderer Mann dagegen leidet sichtbar. Der Prozess zehrt an ihm auch wenn er dort seinen Beruf ausübt. Geir Lippestad ist Anwalt und der Verteidiger des Attentäters. Er ist ein Mann der mir imponiert. Wenn der Jurist nach dem Tag im Gericht auf’s Fahrrad steigt erwartet ihn seine Familie: Seine Frau und 8 Kinder, vier eigene und vier Stiefkinder. Die jüngste Tochter wurde geboren als Lippestad bereits mit der Verteidigung Breiviks beschäftigt war. Zwei dieser Kinder sind schwer behindert. Der Strafverteidiger ist selbst Sozialdemokrat, genauso wie die Opfer auf Utøya. Trotzdem  übernahm er die Verteidigung. Lippestad ist es bisher stets gelungen sich deutlich vom Täter und dessen Anschauungen zu distanzieren und ihn trotzdem zu verteidigen. Unaufgeregt und ruhig gelingt es ihm einen Straftäter zu verteidigen und ihn nicht zum „Monster von Utøya“ werden zu lassen.

Viele Anschauungen des Täters sind verdreht und wirr. Trotzdem gibt es manches, das es schafft mich durcheinanderzubringen: Breivik ist Mitglied der Kirche in der ich Pfarrer bin. Er bezeichnet sich selbst als militanten Christen. Er meint dass ihn Christen in seinem angeblichen Kampf gegen die Entchristlichung Europas unterstützen müssten. Er bezeichnet seine Taten als grausam aber notwendig. Dies verletzt mich. Jesus opferte sich selbst für uns nicht andere für sich. Doch auch Breivik behauptet von sich an den selben Gott und den selben Erlöser zu glauben. Ist Jesus auch für einen 77fachen Mörder gestorben, der nicht wirklich bereut? Ich bin froh diese Frage jetzt und hier nicht beantworten zu müssen. Vielleicht wird dies mit der Zeit gelingen.

„Ja, vi elsker dette landet“ – „Ja wir lieben dieses Land“ so beginnt unsere Nationalhymne, deren Text vom Pfarrerssohn Bjørnstjerne Bjørnson verfasst wurde. In der zweiten Strophe so wie es in unserem Gesangbuch steht, heißt es:

”Norske mann i hus og hytte,
takk din store Gud!
Landet ville han beskytte,
skjønt det mørkt så ut.
Alt hva fedrene har kjempet,
mødrene har grett,
/: har den Herre stille lempet,
så vi vant vår rett. :/”

„Norwegischer Mann in Haus und Hütte,
danke unser großer Gott!
Das Land möge er beschützen,
auch wenn es deutlich schwarz aussah.
Alles wofür die Väter gekämpft haben,
wofür die Mütter geweint haben,
|: hat unser Herr still erleichtert,
so dass wir unser Recht gewonnen haben :| „

Ich freue mich darüber dass am 17. Mai jeder in seiner Tracht mitfeiern darf. Auch ich ziehe wieder meinen Bergmannshabit an und laufe mit meinen Kindern im Zug mit. Die zweite Strophe der Nationalhymne werde ich diesmal als Gebet singen, denn ich erlebe das Gott trotz all dem Schrecklichen bisher beschützt hat. Egal ob der Narziss vom Utøya am im Gefängnis oder in der Psychiatrie landet, sowohl die Familien als auch wir alle müssen mit dem was geschehen ist leben. Ich hoffe dass Gott allen Betroffenen im Stillen ihr Schicksal erleichtert. Bisher ist der sehr sachliche Prozess eine gute Hilfe dabei. Doch was kommt im Juni, wenn er zu Ende ist und Geir Lippestad seine wohlverdiente Elternzeit antritt? Hoffentlich kommt ein friedlicher Sommer in dem ich versuchen werde regelmäßig für die Opfer und ihre Familien zu beten.