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1. Fachwissenschaftliche Analyse

Der Text Lk 10, 25-37 behandelt das Doppelgebot der Liebe, das als ein Kern der Lehre Jesu gilt. Es lassen sich deutlich zwei Teile ausmachen:

Der die Verse 25-28 umfassende Abschnitt erörtert die Frage, was denn das höchste Gebot sei, bzw.  was man tun müsse, um das ewige Leben zu erlangen. In diesem Abschnitt wird diese Frage auch mit dem Liebesgebot beantwortet. Zu diesem Thema lassen sich auch in den andern beiden synoptischen Evangelien Parallelstellen finden, so in  Mt 22, 35-40 und Mk 12,28-34. Auch im Lukasevangelium wird der Problemkreis in Lk 18,18-20 noch einmal  kurz angerissen. Der Abschnitt ist im Lukasevangelium jedoch anders gestaltet als in den beiden anderen Evangelien. In ihnen geht es um die Frage des höchsten Gebotes, während bei Lukas das Doppelgebot mit der Frage nach der Erlangung des ewigen Lebens verbunden ist. Die Verbindung von Dtn 5,5 und Lev 19,18 teilen alle drei Synoptiker, allein bei Lukas bleibt es nicht nur eine theoretische Frage, sondern wird mit der Aufforderung zum Handeln verbunden. Der Autor des Lukasevangeliums griff also vermutlich für diesen Teil auf markinisches Traditionsmaterial zurück, das sich in den Versen 26 und 27 findet und rahmte sie seinen Intentionen entsprechend mit den Versen 25 und 28.

Diese Intentionen erläutert auch der die Verse 29-37 umfassende zweite Abschnitt, der lukanisches Sondergut darstellt. Er illustriert das Vorangegangene. Kern des Abschnittes sind die Verse 30b-36, die meist als das Gleichnis vom barmherzigen Samariter bezeichnet werden. Sie stellen jedoch nur im weiteren Sinn ein Gleichnis dar und sind genauer betrachtet und im Kontext gesehen eine Beispielgeschichte.  In Bezug auf diese Beispielgeschichte stellt sich die Frage, wer mit dem Samariter[2] hier gemeint ist. Auf die Alternative, ob es sich um einen Bewohner der Landschaft Samaria, durch die galiläische Pilger nach Jerusalem reisen mußten, oder um einen Angehörigen der von Jerusalem unabhängigen JHWHgläubigen Gemeinschaft der Samaritaner handelt, kann nur gesagt werden, daß dies keine vom Autor vorgegeben Problemstellung ist. Für Lukas, der mit je drei Textabschnitten im Evangelium und in der Apostelgeschichte auf die Samariter eingeht, ist wichtig, daß es sich um Menschen handelt, die den Zuhörern Jesu vertraut sind und von diesen als unrein angesehen und mit Geringschätzung  behandelt werden. Sie werden bei Lukas bereits zu Lebzeiten in die Israelmission miteinbezogen.

Die Verse 30b-35? werden durch die Verse 29-30a und 36 gerahmt. Diese leiten zum einen die Beispielerzählung ein und unterstreichen zum anderen die lukanische Intention, sie als klare Handlungsanweisung zu sehen.

Das Doppelgebot der Gottes- und Menschenliebe ist heute zentraler Bestandteil christlicher Ethik. Es gilt, wie auch im Text gezeigt wird, über die eigene Glaubensgemeinschaft hinaus und wird in dieser Dimension als etwas genuin christliches gesehen. Es ist die Grundlage des diakonischen Auftrags und Handelns der Kirche und somit auch der Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen an sich. Menschliche Gottes- und Nächstenliebe steht in all ihrer Unvollkommenheit in Beziehung zu Gottes Liebe zu den Menschen, die sich in seinem Heilshandeln äußert. Dieses Heilshandeln besitzt verschiedene Dimensionen. Auch menschliches diakonisches Handeln, das aus dem Gebot der Gottes- und Nächstenliebe entspringt, besitzt verschiedene Dimensionen. Diese gehen von einem persönlichen Auftrag des einzelnen bis hin zu einem politischen Diakonat der Kirche als Ganzes.[3]

Das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe stellt sich dem den Menschen eigenen Egoismus entgegen. Es steht damit beispielsweise dem homo oeconomicus der Wirtschaftwissenschaften entgegen.[4] Es wendet sich dagegen, daß der Mensch nur nach dem Gebot der Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit für sich selbst handelt. Mit Gott gewinnt der Mensch einen anderen Maßstab als sich selbst und mit dem Nächsten ein Objekt der Verantwortung, das über ihn selbst hinausgeht.

In einer Zeit, in der immer stärker Ichbezogenheit und Selbstverwirklichung zählen und in der Individualität oft mißverstanden wird als Rücksichtslosigkeit ist der Text aktueller denn je. Die Beispielerzählung greift nach wie vor. Sie fordert Helfen und Zivilcourage statt Wegsehen. Dies wird an vielen Stellen aktuell: Rechtsradikale verprügeln Ausländer. Stärkere schlagen auf Schwächere ein. Flüchtlinge werden wie Gefangene und Kriminelle behandelt. Daneben erfahren Menschen aber auch immer noch uneigennützige Hilfe. Gerade im kirchlichen Raum hat man die Hilfe durch Partnergemeinden noch nicht vergessen. Nächstenliebe wird erlebt, aber in wesentlich geringerem Maße als Egoismus, der durch eine Gesellschaft gefördert wird, die sich so selbst zerstört.

In einer Gesellschaft, die in einem großen Maße auf Ichbezogenheit setzt, nehmen einerseits soziale Probleme, wie Armut und Vereinsamung zu, zum anderen nehmen in diesem Zusammenhang aber auch psychische Probleme und Krankheiten zu. Vieles, was durch Nächste ausgeglichen und aufgefangen wurde, gerät so aus dem Ruder und muß behandelt werden. Die Medizin wird Notnagel der Gesellschaft und damit überladen.

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