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Anhänge zu: Rationierung im Gesundheitswesen

Gedanken nach einem Seminar  zum Thema:

„Veralltäglichung der Triage“

bei

Prof. Dr. Weyma Lübbe

im

Sommersemester 1999

am

Lehrstuhl für Praktische Philosophie

 

Leipzig, den 11. Oktober 1999

 

 

 

 

 

 

 




Rationierung im Gesundheitswesen - Die Smith-Debatte

Smith, Richard

Plädoyer für eine offene Rationierungsdebatte

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 40 (02.10.1998), Seite A-2453
THEMEN DER ZEIT: Forum

Die Rationierung medizinischer Leistungen ist unvermeidbar, meint der Chefredakteur des British Medical Journal. Er fordert, eine offene Debatte zu diesem Thema zu führen. Weltweit befinden sich die meisten Gesundheitssysteme in einer Krise. Hauptgrund dafür ist die Unfähigkeit, auf die breiter werdende Kluft zu reagieren zwischen dem, was bei uneingeschränkten Ressourcen möglich wäre, und dem, was man sich tatsächlich leisten kann. Eine mögliche Reaktion wäre, die notwendige Rationierung von medizinischen Leistungen offen anzusprechen. Der Gouverneur des US-Bundesstaates Oregon, der Arzt John Kitzhaber, hat es so ausgedrückt: "Die Frage, welche Leistungen im Gesundheitssystem erbracht werden sollen, ist sicherlich die schwierigste, die kontroverseste, aber möglicherweise die wichtigste. Sie ist das sine qua non einer Gesundheitsreform. Deshalb muß ein Prozeß zur Lösung dieses Problems in Gang gesetzt werden, der nachvollziehbar ist und die Öffentlichkeit ebenso einbezieht wie die Realität begrenzter Mittel."
Gesundheitsleistungen rationieren bedeutet, Patienten eine wirksame Behandlung vorzuenthalten. "Prioritäten setzen" klingt politisch akzeptabler, meint aber dasselbe. Geht man von der These aus, daß die Rationierung medizinischer Leistungen unvermeidbar ist, sollte sie besser offen als verschleiert erfolgen. Folglich müssen die Verantwortlichen im Gesundheitswesen Rationierung eingestehen und entscheiden, wie sie vonstatten gehen soll.
Die Debatte über Rationierung ist weltweit unterschiedlich fortgeschritten. In vielen Staaten, möglicherweise in den meisten, hat die Diskussion nicht einmal begonnen. Politiker geben vor, daß für Kranke alles getan wird, was getan werden muß, und die Öffentlichkeit glaubt ihnen. Staaten wie Neuseeland, die Niederlande, Schweden und Norwegen haben die Unvermeidbarkeit der Rationierung akzeptiert und die Diskussion darüber vorangetrieben. Andere wie Großbritannien befinden sich irgendwo zwischen diesen Positionen: Die meisten Beschäftigten im Gesundheitswesen erkennen die Unvermeidbarkeit von Rationierung (ebenso wie die Medien), aber die Regierung weigert sich, dies einzugestehen.
Verhältnis von Kosten und Nutzen
Die meisten im Gesundheitswesen Tätigen erkennen, daß nicht alles für jeden getan werden kann. Die Ärzte in Großbritannien erleben dies schon seit Jahren. Aber wie läßt sich diese Unvermeidbarkeit beweisen?
Während therapeutische und diagnostische Verfahren bei einigen Patienten kosteneffektiv sind, stehen bei anderen Kosten und Nutzen nicht mehr in Relation. Ein Beispiel: Die Mortalität von Patienten mit koronaren Herzerkrankungen und einem erhöhten Cholesterinspiegel konnte nachweislich gesenkt werden, wenn sie mit Statinen behandelt wurden. Die Statin-Therapie ist bei schwer erkrankten Männern in mittlerem Alter äußert kostengünstig. Bei Frauen im Alter zwischen 45 und 54 mit Angina pectoris und einer Cholesterinkonzentration von 5,5 bis 6,0 nmol/l kostet dagegen jedes weitere Lebensjahr 361 000 Pfund. Dasselbe - erwiesene Wirksamkeit bei unverhältnismäßig hohen Kosten - trifft unter anderem auf Patienten mit Bluthochdruck zu, die mit ACE-Hemmern behandelt werden. Ein weiteres Beispiel betrifft eine Empfehlung aus den USA, sechs Tests auf okkultes Blut im Stuhl durchzuführen, um ein Kolonkarzinom zu erkennen. Die Mehrkosten, einen Krebs zu erkennen, der von fünf vorangegangenen Tests nicht diagnostiziert wurde, betragen fast 50 Millionen Pfund. Möglicherweise wird damit ein Leben gerettet, aber die Kosten sind unvertretbar hoch. Das bedeutet, daß Entscheidungen getroffen werden müssen, einigen Patienten eine effektive Diagnostik und Therapie vorzuenthalten.
In Großbritannien und anderen Ländern wird derzeit über den Einsatz neuer, aber teurer Arzneimittel unter anderem gegen Alzheimer oder Multiple Sklerose diskutiert. Hohen Kosten steht dabei ein verhältnismäßig geringer Nutzen für einen kleinen Kreis von Patienten gegenüber. Die Medikamente heilen die Krankheiten nicht, verzögern aber ihre Progression. Auf diese Weise erhöhen sie die Prävalenz der Erkrankungen und damit auch die Gesamtkosten. In Großbritannien erhält derzeit nur eine Minderheit der betroffenen Patienten die neuen Mittel. Wem sie verordnet werden, gleicht häufig einem Glücksspiel.
David Eddy, US-amerikanischer Herzchirurg und anerkannter gesundheitspolitischer Experte, vertritt die Meinung, daß Grenzen in der Gesundheitsversorgung Rationierung bedeuten. Die Mammographie beispielsweise steht in Großbritannien Frauen zwischen 50 und 65 Jahren zur Verfügung. Frauen über 65, die eine höhere Inzidenz für Brustkrebs haben, würden vermutlich mehr von dieser Untersuchung profitieren. Ähnliches trifft auf Frauen unter 50 zu, vor allem, wenn sie familiär vorbelastet sind. Hier die Altersgrenze zu ziehen heißt rationieren.
Eddy unterscheidet "sinnvolle" und "unsinnige" Rationierung. Als Beispiel nennt er die Behandlung von Patienten mit hohen Cholesterinwerten. Viele Richtlinien geben einen Cholesterinwert vor, ab dem eine Behandlung beginnen sollte. Aber, so Eddy, Ärzte sollten mehr als den Grenzwert im Blick haben. Eine junge Frau mit einem Cholesterinwert über dem Grenzwert, aber ohne weitere Risikofaktoren wird mit wesentlich geringerer Wahrscheinlichkeit an einer Herzerkrankung sterben als ein alter Mann, der an Diabetes, Bluthochdruck und Übergewicht leidet, dessen Cholesterinwert jedoch zufällig unterhalb des Grenzwertes liegt. Deshalb plädiert Eddy dafür, Ressourcen dorthin umzuverteilen, wo sie den größtmöglichen Nutzen erzielen. Um dies zu erreichen, müssen unter anderem die Ärzte über Kosten und Nutzen nachdenken. Der Kostenaspekt medizinischer Leistungen wird jedoch Eddy zufolge von Ärzten tabuisiert. Sie haben Nutzen und Qualität, Manager die Kosten im Blick. Folglich bekämpfen sich beide, weil, wie in jedem anderen Bereich des Lebens auch, Kosten und Nutzen zueinander in Relation gesetzt werden müssen. Die Lösung liegt nach Ansicht von Eddy darin, daß eine Person oder ein Team Nutzen und Kosten in der Gesundheitsversorgung gegeneinander abwägt. Das bedeutet, daß Ärzte in die Rationierung einbezogen werden. In Großbritannien zeichnet sich dies beispielsweise bei den General Practitioners ab, die ihr eigenes Budget verwalten.
Ronald Dworkin, Professor für Recht an den Universitäten Harvard und Oxford und einer der führenden Medizinethiker, betrachtet die Unvermeidbarkeit der Rationierung in der Gesundheitsversorgung und die gesellschaftliche Reaktion darauf auf etwas andere Art. Er nennt seine Theorie die "Klugheit des Versicherungsprinzips".
Die gegenwärtige Ausgabenpraxis im Gesundheitswesen basiert - mehr implizit als explizit - auf der Grundlage des "Isolierungsmodells". Das Modell setzt drei Dinge voraus: 1. Die Gesundheitsversorgung unterscheidet sich grundsätzlich von der Versorgung mit anderen Gütern. 2. Die Gleichheit des Zugangs zu Gesundheitsleistungen ist essentiell. 3. Wenn etwas den Tod verhindern kann, sollte dies auch getan werden ("Rettungsprinzip").
Dieses Modell hat beispielsweise in den USA dazu geführt, daß bei Kosten von mehreren Millionen Dollar siamesische Zwillinge getrennt wurden, die am Herzen zusammengewachsen waren. Dabei stand fest, daß ein Zwilling sterben würde und der andere eine Überlebenschance von einem Prozent und keine Chance auf ein normales Leben hat.
Dworkin hält das "Isolierungsmodell" weder für vernünftig noch für nachvollziehbar. Keine Gesellschaft könne ihre gesamten Ressourcen für die Gesundheitsversorgung aufwenden zu Lasten anderer Bereiche wie Bildung, Wohnen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen.
Dworkin entwirft eine Gesellschaft mit fünf Eigenschaften:
1 Der Wohlstand ist gleichmäßig verteilt.
1 Aktuelle Informationen über Stand und Nutzen der Medizin stehen allen zur Verfügung.
1 Die Menschen entscheiden rational.
1 Eltern betrachten die Interessen ihrer Kinder gleichrangig mit den eigenen.
1 Niemand weiß etwas über die genetische, kulturelle oder soziale Prädisposition für Krankheiten.
In dieser imaginären Gesellschaft würde die Regierung keine staatliche Gesundheitsversorgung bereitstellen. Die Menschen müßten selbst entscheiden, wie und wogegen sie sich krankenversichern lassen. Dworkin behauptet, daß unter solchen Bedingungen jeweils ein angemessener Betrag für die Gesundheitsversorgung aufgewendet würde und daß jedermann gleichermaßen Zugang zu allen medizinischen Leistungen hätte: Die Menschen würden rational darüber entscheiden, wieviel sie im Verhältnis für ihre gesundheitliche Versorgung ausgeben wollen. Sie würden selber entscheiden, ob sie eine Versicherungspolice erwerben, die ihnen den Zugang zur Herzchirurgie bis zum 75. Lebensjahr ermöglicht, oder eine wesentlich teurere, die ihnen dies bis zum 90. Lebensjahr erlaubt.
Die Frage ist, ob viele Menschen eine Police erwerben würden, die ihnen lebenserhaltende Maßnahmen auch für den Fall garantiert, daß sie in einen dauerhaft vegetativen Zustand (PVS) fallen. Dworkin behauptet, daß sich dafür nur wenige entscheiden würden, und dennoch erhalte man derzeit einige 10 000 PVS-Patienten in den USA am Leben.
Würden die Menschen eine Police wählen, die ihnen eine lebenserhaltende Behandlung verweigert, wenn sie innerhalb der folgenden vier Monate sterben, oder eine sehr viel teurere Police, die jede mögliche Behandlung gewährleistet? Dworkin meint, daß die meisten sich für erstere Police entscheiden würden, obwohl 40 Prozent der Medicaid-Ausgaben derzeit auf die letzten vier Lebensmonate von Patienten entfallen.
Die meisten Menschen würden sicherlich eine Versicherung wählen, die ihnen ab einem Alter von beispielsweise 85 Jahren lebenserhaltende Maßnahmen verwehrt; zum Teil, weil sie möglicherweise ein solches Alter gar nicht erreichen, vor allem aber, weil sie sonst auf vieles verzichten müßten, um die Versicherungsprämie zu bezahlen.
Unter den Bedingungen von Dworkins Modell würden sich vermutlich drei Versorgungskategorien entwickeln: Leistungen, die nahezu jeder für erforderlich hält; Leistungen, die nahezu jeder für nicht erforderlich hält; und Leistungen, bei denen sich die Menschen unterschiedlich entscheiden. In den USA würde dies bedeuten, daß die Menschen zwischen unterschiedlichen Versicherungspaketen wählen (was amerikanische Arbeitgeber tatsächlich zunehmend anbieten). In Großbritannien könnte es bedeuten, daß der Staat Grundleistungen anbietet und darüber hinausgehende Leistungen privat versichert werden müssen.
Die These der Unvermeidbarkeit der Rationierung läßt sich anhand von Beispielen aus der Praxis belegen. Die Methoden lassen sich im Englischen durch Wörter klassifizieren, die alle mit "d" beginnen: denial (Verweigerung), deflection (Umlenkung), delay (Hinhalten), dilution (Ausdünnung) und deterrence (Abschreckung).
Die Verweigerung von Leistungen ist in Großbritannien an der Tagesordnung. Patienten, die ein bestimmtes Alter überschritten haben, werden auf Intensivstationen nicht mehr aufgenommen. Pflegepersonen von chronisch Kranken wird die Unterstützung verwehrt. Die In-vitro-Fertilisation ist für viele unfruchtbare Ehepaare nicht verfügbar.
Umlenkung bedeutet beispielsweise, daß Patienten, die Langzeitpflege benötigen, vom staatlichen Gesundheitssystem an den privaten Sektor weitergereicht werden.
Verzögerung ist eine der Hauptmethoden der Rationierung in Großbritannien. Patienten müssen manchmal Monate auf einen Termin beim Spezialisten warten, und danach mitunter Jahre auf einen Operationstermin.
Ausdünnung ist die möglicherweise gängigste Form der Rationierung im britischen Gesundheitswesen. Krankenschwestern kümmern sich auf einer Station häufiger um 20 als um die vorgesehenen 16 Patienten! Patienten erhalten eher viertägige Behandlungsreihen mit Medikamenten als fünftägige. Chirurgen verwenden eine billigere Prothese, obwohl sie überzeugt sind, daß eine teurere für den Patienten besser wäre. Rationierung durch Abschrekkung ergibt sich durch Bestimmungen wie Verordnungsgebühren, lange Wege zur Behandlung oder durch ausschließlich englischsprachige Informationen.
Rationierungsprozesse nicht verschleiern
Die Unvermeidbarkeit der Rationierung wird gerne geleugnet. Dabei wird häufig betont, daß viele medizinische Behandlungsmethoden unwirksam sind. Wenn, so lautet die Argumentation, alles unterlassen würde, was nicht nachweislich wirksam ist, bestünde keine Notwendigkeit, Leistungen zu rationieren. Es ist richtig, daß ein großer Teil der ärztlichen Leistungen (dem US-amerikanischen Office for Technology Assessment zufolge vermutlich 85 Prozent) nicht durch qualifizierte Nachweise gestützt wird. Das Fehlen von Wirksamkeitsnachweisen ist jedoch nicht gleichbedeutend mit dem Nachweis der Wirkungslosigkeit. Zudem liegen häufig gute Nachweise dafür vor, daß Ärzte statt der preiswerten die teurere Therapie anwenden sollten.
Obwohl die Argumentation, sich auf effektive Therapien zu beschränken, wichtig ist, unterscheidet sie sich grundsätzlich von der der Rationierung. Ähnlich bedeutsam ist die Diskussion darüber, wie die Effizienz der Gesundheitseinrichtungen verbessert werden kann. Sie wird die Notwendigkeit der Rationierung jedoch ebensowenig beseitigen wie die Debatte über die Finanzierung des Gesundheitswesens. Wenn mehr Geld für Gesundheit zur Verfügung stehe, so die Argumentation, schwinde die Notwendigkeit der Rationierung. Dies wird in Großbritannien gewöhnlich von der jeweiligen Oppositionspartei vorgetragen. Auch zusätzliche Mittel verlangen jedoch Entscheidungen, wie diese verwendet werden. Viele Ärzte befürchten zudem, daß eine Diskussion um Rationierung die Kostenträger aus der Pflicht entläßt, die Mittel für die Gesundheitsversorgung aufzustocken.
Rationierung hat unterschiedliche Erscheinungsformen und findet auf verschiedenen Ebenen statt. In einem staatlich finanzierten System wie dem in Großbritannien entscheidet die Regierung, wieviel Geld sie im Verhältnis zu anderen Bereichen des Staatshaushaltes in die Gesundheitsversorgung investiert. Regierungen zögern zunehmend, die Mittel für die Gesundheitsversorgung zu erhöhen. Sie begreifen, daß der Gesundheitszustand der Bevölkerung nicht ausschließlich vom Gesundheitssystem abhängt. Größeren Einfluß haben sozioökonomische Faktoren wie Wohlstand, Ausbildungsniveau, Beschäftigungsstruktur oder Wohnungswesen. Höhere Ausgaben für die Gesundheitsversorgung führen letztlich dazu, daß sich der Anteil kranker Menschen in einer Gesellschaft erhöht.
Die meisten britischen Ärzte nehmen es hin, daß sie die medizinische Versorgung rationieren. Sie mögen es nicht und diskutieren es selten offen mit ihren Patienten. Aber sie tun es, weil sie wissen, daß in einem System mit begrenzten Mitteln, wie dem National Health Service, Ressourcen, die einem Patienten zugute kommen, einem anderen vorenthalten werden.
Ob Gesundheitsleistungen explizit rationiert werden sollten oder ob wir uns "durchmogeln" sollten, ist einer der zentralen Punkte der Rationierungsdebatte. Das Hauptargument vieler Kommentatoren gegen Offenheit lautet: "Es ist unmöglich, die Frage der Rationierung moralisch und methodisch zur Zufriedenheit aller zu lösen. Der Versuch der Offenheit wird das Vertrauen in die Ärzte und die Gesundheitseinrichtungen zerstören."
Rationierung sollte jedoch nicht im Verborgenen erfolgen, nur weil sie schwierig ist. Die Menschen verstehen, daß nicht jeder alles haben kann. So zu tun, als wäre dies doch möglich, heißt sie zu entmündigen. Patienten verlieren vermutlich eher das Vertrauen in ihre Ärzte, wenn sie von ihnen getäuscht werden, als wenn ihnen gesagt wird, daß harte Entscheidungen getroffen werden müssen.
Ein zweites Argument gegen die Offenheit ist, daß sie vermutlich dazu führt, die Öffentlichkeit direkt in die Entscheidungen über Rationierung einzubeziehen. Möglicherweise hätte dies zur Folge, daß bestimmte Gruppen wie Alte, psychisch Kranke oder Drogenabhängige diskriminiert werden. Dieser Einwand spricht allerdings eher dafür, die Menschen besser zu informieren, statt die Notwendigkeit der Rationierung vor ihnen zu verbergen.
Ein drittes Argument ist, daß das öffentliche Vertrauen in die Gesundheitseinrichtungen untergraben würde, wenn Patienten aufgrund abstrakter Prinzipien Therapien vorenthalten werden. Gewiß, die Bestürzung in Großbritannien war groß, als einem leukämiekranken Mädchen eine zweite Knochenmarktransplantation offenbar aus Kostengründen verwehrt wurde. Dies ist jedoch ein weiteres Argument für mehr Information und gegen eine Verschleierung der Rationierungsprozesse.
Für einen offenen Umgang mit Fragen der Rationierung spricht, daß Erwachsene Zugang zu den Entscheidungen haben sollten, die ihr Leben beeinflussen. In einer Demokratie muß es den Bürgern erlaubt sein, Entscheidungsprozesse zu beeinflussen. Zudem hindern offene Entscheidungsprozesse bestimmte Interessengruppen daran, unter dem Einfluß mächtiger oder vermögender Gruppen nach Tradition, Vorurteil oder Laune zu entscheiden. Rationierung ist ein "schmutziges Geschäft", und gerade deshalb darf die Öffentlichkeit nicht getäuscht werden.
Außerdem kodifizieren klare Prinzipien der Rationierung nicht das Verhalten. Sie ziehen lediglich moralische Grenzen für die Entscheidungen im Einzelfall. In der Diskussion um völlige Offenheit oder völliges Verschleiern wird keine Gesellschaft einen der Extremstandpunkte einnehmen. Sie wird sich vielmehr entscheiden, an welcher Stelle des Spektrums sie sich wohlfühlt. In Großbritannien ist derzeit eine Bewegung zur Offenheit spürbar.
Die Fragen, wer Rationierung durchführen wird und wie sie erfolgen sollte, können nicht definitiv beantwortet werden. Jedes System wird eigene Methoden entwickeln. Kein System wird das Problem lösen, weil es nicht zu lösen ist. Es bedarf vielmehr der fortgesetzten Diskussion und Entwicklung.
Ein Lösungsansatz stammt aus dem US-Bundesstaat Oregon, einem Vorreiter der offenen Rationierung der Gesundheitsversorgung. Die Diskussion in Oregon begann, als der Staat beschloß, die Kosten für Transplantationen bei Patienten, die über Medicare (staatliche Krankenversicherung für Mittellose) versichert sind, nicht zu übernehmen. Zur Begründung hieß es, der Staat wolle lieber mehr Mittel für die medizinische Versorgung eines großen Personenkreises bereitstellen, als teure Leistungen für eine kleine Zahl von Patienten zu übernehmen. Diese Entscheidung rief heftige Proteste hervor auch von denen, die behaupteten, daß Transplantationen unter bestimmten Umständen durchaus kosteneffektiv seien. Auf diese Weise wurde jedoch ein Prozeß eingeleitet, in dessen Verlauf die Unvermeidbarkeit der Rationierung akzeptiert wurde ebenso wie die Notwendigkeit, dies offenzulegen. Der Staat führte beispielsweise Meinungsumfragen zu Themen wie Lebensqualität versus Lebensquantität durch. Die öffentliche Meinung wurde mit der Ansicht von Experten abgestimmt. Daraus ergab sich eine Rangliste verschiedener medizinischer Interventionen. Das Ziel: Das Parlament setzt das Medicare-Budget fest, und der Staat finanziert daraus die medizinischen Leistungen nach ihrer jeweiligen Priorität auf der Liste.
Die Neuseeländer haben ihre offene Rationierung darauf beschränkt, Prioritätenlisten für bestimmte Patientengruppen zu erstellen, die beispielsweise auf eine Katarakt-Operation, einen Koronar-Bypass oder auf eine Hüft- oder Knieprothese warten. Sie haben ein Punktesystem (scoring) entwickelt, wobei diejenigen mit den höchsten Werten die erforderliche Operation zuerst erhalten. Das Instrumentarium basiert primär auf der klinischen Notwendigkeit. Heftige Debatten gab es darüber, inwieweit soziale Faktoren berücksichtigt werden sollten wie Alter, Gefährdung der Selbständigkeit, Pflege abhängiger Personen, Arbeitsfähigkeit und Wartezeit. Letztlich wurden einige dieser Punkte berücksichtigt. Sowohl die professionelle als auch die öffentliche Reaktion auf diese "Rationierungsoffensive" war positiv.
Medizinische Leistungen werden in allen Gesundheitssystemen rationiert. Steigende Effizienz und Effektivität werden daran ebenso wenig ändern wie steigende Gesundheitsausgaben. Es sollte jedoch offen rationiert werden, um die Verantwortlichkeit zu gewährleisten und das öffentliche Vertrauen zu erhalten. Einfache Lösungen gibt es nicht. Oregon und Neuseeland sind vorangegangen, andere Länder müssen folgen.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1998; 95: A-2453-2458
[Heft 40]


Anschrift des Verfassers
Richard Smith
British Medical Journal
BMA House
Tavistock Square
London WC1H 9JR, Großbritannien
Der Text wurde aus dem Englischen übersetzt von Friedrich Werner, Wiener Krankenanstaltenverbund

 

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Kerschreiter, Dr. med. Dr. rer. pol. Manfred

Rationierung: Über den Preis des Lebens reden

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 49 (04.12.1998), Seite A-3094 (Zu dem Beitrag "Plädoyer für eine offene Rationierungsdebatte" von Richard Smith in Heft 40/1998:)
SPEKTRUM: Leserbriefe

Richard Smith hält Rationierung in der Medizin für unvermeidlich und plädiert für eine offene Debatte, in der Kosten und Nutzen berücksichtigt werden. Dem stimme ich im Prinzip zu. Bei alleiniger Nutzenbetrachtung würde man CSE-Hemmer statt Aspirin nach einem Herzinfarkt geben. Bei Berücksichtigung der Kosten ist die Entscheidung offen.
Die Notwendigkeit der Rationierung wird oft mit drei Argumenten abgestritten:
! Wenn man auf alle Medikamente mit nicht nachgewiesener Wirksamkeit verzichtet, ist genügend Geld vorhanden. Beispiel: Arzneiverordnungsreports, KV-Empfehlungen. Probleme hierbei sind: Synthetische Arzneimittel sind oft teurer als pflanzliche Mittel, Kompetenzverlust der Ärzte bei banalen Erkrankungen. ! Wenn die Effizienz des Gesundheitssystems verbessert wird, sind genügend Reserven vorhanden. Insbesondere im Krankenhaussektor werden noch große Rationa-lisierungsreserven vermutet. Problem hierbei: Verbesserte Effizienz ist nicht kostenlos (Abschieben teurer Kranker, unentdeckte Krankheiten wegen unterbliebener Doppeluntersuchungen unentdeckt).
! Wenn die Finanzbasis des Gesundheitssystems verbessert wird (Verminderung von Arbeitslosigkeit, Ausweitung der Finanzierungsbasis), ist Rationierung nicht nötig.
Durch alle drei Argumente wird die Notwendigkeit der Rationierung nicht prinzipiell beseitigt, sondern nur hinausgeschoben. Das Unangenehme an einer Rationierungsdebatte: Man muß über den Preis menschlichen Lebens reden. Daß man hierüber nicht so gerne reden will, mag mit jüngerer deutscher Vergangenheit, aber auch dem hierzulande unbeliebten Utilitarismus, der zugrundeliegenden philosophischen Denkrichtung, zu tun haben.
Dr. med. Dr. rer. pol. Manfred Kerschreiter, Kirchstraße 23, 89150 Laichingen

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Bertram, Dr. med. Mathias

Rationierung: Glänzend

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 49 (04.12.1998), Seite A-3096 (Zu dem Beitrag "Plädoyer für eine offene Rationierungsdebatte" von Richard Smith in Heft 40/1998:)
SPEKTRUM: Leserbriefe

Fast Bravo! Längst überfällig ist auch für die Bundesrepublik die öffentliche Debatte über die Rationierung von Gesundheitsleistungen. Schleichend und gegenüber dem Patienten meist sorgsam verschleiert findet die Rationierung längst statt, parallel natürlich zu Verschwendung und falscher Ressourcenallokation. Gestützt wird diese Entwicklung durch divergente Interessen im medizinisch-industriellen Komplex, vor allem aber durch weitverbreitete Unkenntnis über Nutzen (nicht: Effizienz oder Wirkung) medizinischer Interventionen - nicht etwa, weil die Ärzte schlecht wären, sondern weil entsprechende Daten bisher nie im Zentrum des Interesses standen. Quantifizierung von Nutzen ist eine Frage von Wertung, die nicht ohne ärztlichen Sachverstand erfolgen kann. Hier hat die Ärzteschaft eine gesellschaftliche Bringeschuld.
Falsch aber, und da ist Smith in seiner ansonsten glänzenden Übersicht für hiesige Verhältnisse nicht pointiert genug, ist zugleich die Auffassung, daß die Gestaltung von Rationierung eine Sache der ärztlichen Selbstverwaltungen oder individueller ärztlicher Entscheidungen sein solle. Die Frage, an welchen Leistungen wie bei wem zu sparen sei, ist vielmehr im politischen Raum zu erörtern. In einem System der Solidarversicherung mit Zwangsmitgliedschaft muß so etwas demokratisch geklärt werden. Dazu bedarf es des öffentlichen Diskurses.
Spätestens nach Abschluß einer Phase der Effizientisierung aller Sektoren des Gesundheitssystems, die in vollem Gange ist, reichen die dumpfen Schuldzuweisungen argumentativ nicht mehr aus, die es heute mit schöner
Regelmäßigkeit vor jeder Verhandlungsrunde gibt, dieser oder jener sei ein unverantwortlicher Kostentreiber. Natürlich sind viele Technologien additiv und nicht substitutiv, natürlich werden wir noch lange auf die eine Neuerung warten müssen, welche schlagartig die Volksgesundheit meßbar heben könnte, natürlich agiert die Medizin vielfach in der Nähe eines Grenznutzens. Nur: Sind dies Argumente, die es dem individuellen Arzt im Einzelfall erlauben, dem individuellen Patienten ein möglicherweise nützliches Verfahren nicht anzubieten? Ich kann mich nicht erinnern, daß die Standortpolitiker der letzten Jahre sich je öffentlich dafür interessiert hätten, ob die Einnahmeseite der Krankenversicherung unter der expliziten Bedingung von Rationierung einem politischen Mehrheitswissen entspricht. Die implizite demokratische Legitimierung ist bisher immer unter den Voraussetzungen der Lüge ("jeder bekommt alles, was er braucht") erfolgt. Entspricht dem Wählerwillen die politische Prioritätensetzung, nämlich Vollbeschäftigung anzustreben, innere und äußere Stabilität zu sichern etc. durch Begrenzung der Lohnzusatzkosten, auch auf die Gefahr hin, in Zukunft Opfer von Rationierung im Gesundheitswesen zu werden? Bestünde hierzu expliziter öffentlicher Konsens, so könnte der Arzt im Einzelfall dem ansonsten nicht auflösbaren Widerspruch von Verantwortung für den Individualpatienten versus Mitverantwortung für ein sich ihm immer nur umrißhaft darstellendes, nicht faßbares, aber im Sanktionsfalle bedrohliches "System" entgehen.
Dr. med. Mathias Bertram, Bahnhofstraße 45 c, 25474

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Stöhr, Prof. Dr. Manfred

Rationierung: Gehütetes Tabu

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 49 (04.12.1998), Seite A-3096 (Zu dem Beitrag "Plädoyer für eine offene Rationierungsdebatte" von Richard Smith in Heft 40/1998:)
SPEKTRUM: Leserbriefe

Die Diskussion um eine künftig unabweisbare Rationierung medizinischer Leistungen ist in Deutschland noch nicht einmal in Gang gekommen, da dieses Thema ein allseits gehütetes Tabu darstellt. Noch gravierender ist die Tatsache, daß hierzulande nicht einmal über eine Einschränkung überflüssiger oder gar unsinniger Leistungen gesprochen wird. So werden Patienten mit Migräne und Spannungskopfschmerz in großer Zahl von ihren Hausärzten zur Kernspintomographie des Schädels überwiesen; nicht wenige Privatpatienten überweisen sich sogar selbst - obwohl bildgebende Verfahren zur Diagnose dieser häufigen Erkrankungen nicht das geringste beitragen. Nicht viel anders verhält es sich mit dem Heer der Rückenschmerz-Patienten, bei denen im großen Umfang bildgebende Verfahren zum Einsatz kommen, noch bevor eine adäquate klinische Untersuchung erfolgt ist. Würde man Überweisungen zur bildgebenden Diagnostik des Schädels beziehungsweise der Wirbelsäule aus-schließlich den "Kopffächern" beziehungsweise Orthopäden, Neurologen, Neuro- und Unfall-Chirurgen zugestehen, könnten immense Kosten eingespart werden, ohne die Qualität der medizinischen Versorgung auch nur im geringsten zu verschlechtern.
Ähnliche Einsparpotentiale finden sich auf dem therapeutischen Sektor. Die alleinige Reduktion unsinnig gewordener Intensiv- und Maximaltherapien auf eine Minimalbehandlung - zum Beispiel bei vielen Koma- und Tumor-Patienten mit infauster Prognose - würde Millionen einsparen, die anderweitig sinnvoll eingesetzt werden könnten.
Prof. Dr. Manfred Stöhr, Neurologische Klinik und klinische Neurophysiologie, Zentralklinikum Augsburg, Stenglinstraße 2, 86156 Augsburg

 

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Kajdi, Dr. med. Thomas

Rationierung: Freier Markt für freie Bürger

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 49 (04.12.1998), Seite A-3096 (Zu dem Beitrag "Plädoyer für eine offene Rationierungsdebatte" von Richard Smith in Heft 40/1998:)
SPEKTRUM: Leserbriefe

Die Forderung, daß "Rationierungsprozesse nicht verschleiert werden dürfen", zeigt in Wirklichkeit, daß die Rationierungs-Befürworter beim Sparen mittlerweile unsicher geworden sind, weil es um richtige Menschenleben geht. Sie glauben, daß ihre Entscheidung darüber, wer durch Mangel an Therapie stirbt, legitimer und "ethischer" wird, wenn sie sich "konsensfähiger Mehrheiten" versichert haben. In Wahrheit ist aber Moral keine Frage von Mehrheiten, sondern Mehrheiten sind hier nur das Machtinstrument für Lobbyisten und Politiker zur Durchsetzung des Rationierungsgedankens. Die Verteidiger dieses Mängelsystems entrüsten sich darüber, daß Gesundheit "doch keine Ware" sei. Sie warnen vor jener "Zweiklassenmedizin", die erst durch ihre Budgetierungen entsteht und den Kassenpatienten gegenüber den Privatpatienten immer schlechter stellt, weil der Fortschritt - der gößte Preistreiber in der Medizin - nicht eingeplant ist. Sie lehnen die Steuerungswirkung von Preisen in einem freien Marktsystem ab, weil ihnen das Belohnungssystem - sprich das "böse" Profite-Machen - zuwider ist und sie auf "Leistungsbegrenzung" setzen. Aber nur in einem System, in dem Preise bekannt sind, kann man richtig sparen und Knappheit durch Leistungsausweitung (durch Belohnung, Konkurrenz und anschließende Preissenkung) kostengünstig beheben. Dagegen schreiben "Budgets" unsinnige Leistungen fest und werden immer restlos "ausgeschöpft". Die Alternative zur unmoralischen Budget-Mißwirtschaft heißt freier Markt für freie Bürger, die in Fragen von Leben und Tod, ohne Bevormundung, selbst entscheiden können müssen, wofür die Gelder verwendet werden sollen, die sie einzahlen. Nur in einem funktionierenden privatwirtschaftlichen subsidiären Versicherungssystem gibt es eine ethisch saubere und organisatorisch effektive Lösung für das Knappheitsproblem im Gesundheitswesen.
Dr. med. Thomas Kajdi, Berufsverband der Niedergelassenen Neurologen und Psychiater des Saarlandes e.V., Wadgasser Straße 170, 66787 Wadgassen

 

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Schnetzer, Klaus

Rationierung: Im Alltag schon Wirklichkeit

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 50 (11.12.1998), Seite A-3182 (Zur Verwechslung und Vermischung von Begriffen und Sachverhalten wie Rationalisierung und Rationierung Anmerkungen eines als Sachverständiger im Prüfwesen tätigen Arztes:)
SPEKTRUM: Leserbriefe

Rationieren bedeutet zunächst nichts anderes als lediglich Begrenzung von verfügbaren Möglichkeiten oder Mitteln. Wenn der Gesetzgeber derzeit Solidarität vor Subsidiarität als Gestaltungsprinzip für das System der Gesetzlichen Krankenversicherung wählt, muß er festlegen, wieviel Prozent des Bruttosozialproduktes er den gesetzlichen Krankenkassen zu Lasten von anderen Teilen der Volkswirtschaft zukommen lassen will. Das heißt: Er legt die finanziellen Grenzen fest, innerhalb derer die Solidargemeinschaft in der Lage ist, individuelle Lebensrisiken des einzelnen zu Lasten der Solidargemeinschaft zu finanzieren. Sind diese Grenzen überschritten, zum Beispiel durch Einnahmerückgänge der Krankenkassen zur Entlastung der Wirtschaft, wird der einzelne dazu gezwungen, die dadurch auftretenden eigenen gesundheitlichen Risiken zu übernehmen.
In diesem Sinne ist Rationierung (verstanden als Begrenzung von finanziellen Möglichkeiten) somit bereits elementarer Bestandteil des bundesrepublikanischen Gesundheitswesens von Beginn an und nicht erst seit dem Inkrafttreten des Gesundheitsstrukturgesetzes.
Mit der Tatsache, daß die ökonomischen Möglichkeiten im System Solidarität vor Subsidiarität begrenzt sind, ist noch lange nicht geklärt, nach welchen inhaltlichen Kriterien diese begrenzten Möglichkeiten von welcher verantwortlichen Instanz, mit welcher ethischen Begründung, welcher rechtlichen Legitimation, welchem Personenkreis zugestanden werden und welchem Personenkreis unter ähnlicher Fragestellung zugemutet wird, eigenverantwortlich für die Abdeckung der daraus resultierenden Versorgungsrisiken zu sorgen. Ein armer (menschlich bedauernswerter) Kranker ist nicht automatisch ein finanziell armer Patient, dem etwa eine überproportionale individuelle Kostenbeteiligung an den Lasten der Solidargemeinschaft nicht zugemutet werden kann (zum Vergleich: freiwillig Versicherte der GKV mit hohem Einkommen/ Diskussion in der Schweiz zur Ausgrenzung von Hochvermögenden aus der Sozialversicherung). Andererseits ist nicht einleuchtend, daß Finanzierungsgrenzen der Solidargemeinschaft einfach auf eine Berufsgruppe wie die Vertragsärzteschaft übergewälzt werden. Die vielfach zu hörende Gleichsetzung von Patient gleich Kunde, Vertragsarzt gleich Leistungsanbieter, Vertragsärzte untereinander gleich konkurrierende Wettbewerber am Markt der Heilkunde übersieht die Tatsache, daß derartige Gleichsetzungen nur dann haltbar wären, wenn
die vertraglichen Beziehungen zwischen diesen angeblichen "Markt"-Teilnehmern auf alleiniger zivilrechtlicher Grundlage beruhen würden. Dies ist jedoch nicht der Fall. Aus der Tatsache, daß der Vertragsarzt im Schadensfall dem Kassenpatienten haftet, folgt keineswegs, daß zwischen beiden eine zivilrechtliche Vertragsbeziehung besteht. Was für Privatärzte ohne Budget und Versorgungsauftrag im Umgang mit Privatpatienten gilt, ist nicht automatisch auf das Versorgungssystem der Kassenärzte mit Sicherstellungsauftrag unter Budgetdruck zu übertragen . . .
Klaus Schnetzer, Herrenstraße 14, 76437 Rastatt

 

 

 

Medizinethik - Die Höffe-Debatte

 

Höffe, Prof. Dr. phil. Otfried

Aus philosophischer Sicht: Medizin in Zeiten knapper Ressourcen oder: Besonnenheit statt Pleonexie

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 5 (30.01.1998), Seite A-202
THEMEN DER ZEIT: Aufsätze

Weder im Eid des Hippokrates, weder in alten indischen, hebräischen, persischen oder japanischen Gelöbnissen noch im Genfer Ärzte-Gelöbnis von 1948 taucht die "Ressourcenknappheit" auf. Der größeren Sozial- und Ideengeschichte ist das Thema aber seit der Antike vertraut. Nach der wirtschaftlichen und politischen Theorie des Liberalismus gehört die Ressourcenknappheit sogar zu den Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit.
Warum werden Ressourcen knapp? Generell spielen drei sogar anthropologische Faktoren eine Rolle: Erstens ist die letzte Naturvorgabe unseres Lebens, die Erde samt den Tieren, Pflanzen und Materialien, begrenzt. Zweitens müssen wir die Vorgaben "im Schweiße unseres Angesichts" verarbeiten, was jeder lieber meidet. Drittens wohnt dem Menschen eine tendenzielle Unersättlichkeit inne, jene Pleonexia, ein Mehr-und-immer-mehrWollen, das schon nach Platon alles Menschliche - ob Individuum, ob Gruppe oder Institution - mit einer ausufernden Begehrlichkeit ausstattet.
Für die Medizin treten drei kultur- und epochenspezifische Faktoren hinzu. Der erste Faktor, seinerseits komplex, beginnt bei einer Veränderung des Wissensideals: Nach Aristoteles erfüllt sich die natürliche Wißbegier (griechisch: Philo-sophia) in einem nutzenfreien Wissen, letztlich in jenem Wissen höchster Stufe, der Metaphysik, die sich mit den schlechthin ersten Gründen allen Seins und allen Sollens befaßt. Die Neuzeit, nachdrücklich Bacon und Descartes, läßt sich dagegen vom christlichen Gebot der Nächstenliebe inspirieren. Sie stellt das Wissen in den Dienst menschlichen Wohlergehens und bestimmt dieses in Begriffen von Arbeitserleichterung und vor allem Erhaltung der Gesundheit. Zugespitzt formuliert: an die Stelle der Metaphysik tritt die Medizin.
Das neue, nicht mehr nutzenfreie Wissen befriedigt nicht bloß bestehende Bedürfnisse, sondern spricht auch die Pleonexie an; es weckt und gestaltet neue Begehrlichkeiten. Und weil die Erfolge sich rasch einstellen, steigert man sich gern in Hybris, in Allmachtsphantasien, und erwartet mit Descartes (1637/1971, 58), die Medizin werde "unendlich viele Krankheiten . . ., vielleicht sogar die Altersschwäche loswerden können". Spätestens die Erfahrung, daß es trotz medizinischer Forschung, manchmal sogar ihretwegen, mehr und längere Pflegefälle gibt, belehrt uns eines Besseren. Oder: Seit AIDS weiß auch die Öffentlichkeit, was Fachleuten schon vorher bewußt war: daß die Infektionskrankheiten nicht aussterben, sich vielmehr um neue Arten erweitern. Die Kluft zwischen der Erwartung an die Medizin, vielleicht sogar ihrer Verheißung, und der tatsächlichen Erfüllung schließt sich nicht.
Die Medizin Opfer ihres Erfolgs
Andererseits sind die Möglichkeiten derart gewachsen, daß die Medizin zum Opfer ihres Erfolgs wird. Darin vollendet sich der erste epochenspezifische Faktor: daß wir statt einer Kostenexplosion eine Leistungsexplosion erleben, deretwegen allerdings auch die Gesamtkosten des Gesundheitswesens überschäumen. Nach Berechnungen des britischen "Office of Health Economics" erforderte das Gesundheitswesen, stünde die Medizin auf dem Stand von vor hundert Jahren, nur ein Prozent der gegenwärtigen Medizin-Kosten. In Deutschland fielen - was sich ohne Zweifel bequem finanzieren ließe - statt "satter" 400 Milliarden lediglich vier Milliarden Mark an. Weder die Politiker noch die Medien bringen aber den Mut auf, der Öffentlichkeit klarzumachen, daß eine Medizin, die sich dank ständiger Fortschritte auf immer mehr versteht, entweder einen ständig wachsenden Anteil am Bruttosozialprodukt verlangt - und dann mit den Ansprüchen des Bildungswesens, der Rechtssicherheit, der Altersvorsorge . . . in Konflikt gerät - oder aber unmöglich jedem Patienten eine Versorgung nach dem letzten Stand der Forschung bieten kann.
Die traditionelle Antwort auf die Pleonexie und zugleich eine Antwort auf die Ressourcenknappheit heißt Sophrosyne, Besonnenheit oder Maß. Besonnenheit ist eine moralische Grundhaltung - früher sagte man Tugend -, die weit tiefer ansetzt als alle Rationalisierungs- oder Rationierungs- vorhaben. Sie bekämpft die Ressourcenknappheit am wahren Ursprung, bei den ausufernden Antriebskräften. Was Aristoteles (1991, 59) sowohl bei der Menge als auch bei den Mächtigen kritisiert, trifft auf den Besonnenen nicht zu: Er ist kein Sklave seiner Bedürfnisse, sondern im Gegenteil ihr Herr. Wer besonnen ist, teilt die Erfahrung des ersten Moralphilosophen, Sokrates: Auf ein Leben ausgerichtet, auf das es dem Menschen eigentlich ankommt, auf eine gute und gelungene, eine sinnerfüllte Existenz, hat er im Gegensatz zur Menge so wenige und bescheidene Bedürfnisse, daß es ihm an Ressourcen nicht fehlt. Daß selbst angesehene Menschen viele Ärzte in Anspruch nehmen, hält Platon (1958, 136) deshalb für ein sicheres Kennzeichen schlechter Sitten.
Eine Gesundheitspolitik im Geist von Sokrates und Platon verbindet eine ebenso umfassende wie gründliche Prophylaxe, die angemessene Lebensführung, mit einer strengen Leistungsbegrenzung: Auf der einen Seite lasse man sein Leben von Aufgaben geprägt sein, deretwegen man zum Kranksein keine Zeit hat. Außerdem unterwerfe man sich einer mäßigen Lebensweise, angeleitet von einer Diätetik, von der Foucault zu Recht sagt, daß sie aus mehr als einer bloßen Sammlung von medizinischen Vorsichtsmaßnahmen und Heilungsanweisungen besteht. Auf der anderen Seite sagt Platon (1958, 137), was bei umsichtiger Anwendung etwa für die Intensivmedizin nicht bloß aus Kostengründen gelten könnte: daß es dem Menschen nicht auf ein langes, dabei aber elendes Leben ankomme.
Besonnenheit aus Selbstinteresse
Moralphilosophen sind keine rückwärtsgewandten Moralisten, die über schlechter gewordene Weltläufe klagen. Sie kennen durchaus den zweiten Grund für die spezifische neuzeitliche Ressourcenknappheit, eine weitere Mentalitätsveränderung, erneut eine radikale Umwertung der Werte, jetzt aber nicht beim Wissenschaftsideal, sondern beim Lebensideal: Während man vorher die ausufernden Antriebskräfte als Leidenschaften ansah, oft sogar als Laster, sie mithin als illegitim zumindest verdächtigte, gelten sie nun als Interessen, folglich als normativ neutral. Im Wirtschaftsbereich etwa wandelt sich das Laster des Neides zur wirtschaftlichen Kompetenz, und die Habsucht wird zum lobenswerten Geschäftssinn. Offensichtlich erschwert diese Umwertung die Besonnenheit von Grund auf, und darin liegt der zweite epochenspezifische Faktor für Ressourcenknappheit: Früher in normative Fesseln, nämlich in den Vorwurf von Leidenschaft, sogar von Laster eingebunden, wird die Begehrlichkeit jetzt geradezu entfesselt.
Wer sich trotzdem noch einschränkt, hat entweder das Prinzip der Moderne nicht verstanden, oder es fehlt ihm an Durchsetzungskraft. Im einen Fall steht er als schwach, im anderen als der Dumme da. Um beides zu verhindern, pflegen Interessen als Verbandslobbys aufzutreten, was zum bekannten Ergebnis führt: einer nicht bloß entfesselten, sondern in ihrer Entfesselung auch noch schlagkräftig organisierten Begehrlichkeit.
Solange die Umwertung wirksam bleibt und die ehemaligen Leidenschaften und Laster als normativ harmlose Interessen gelten, kommt die Besonnenheit nur "systemkonform" zustande: durch Interessen, die den Begehrlichkeitsinteressen entgegenwirken. Eine Chance hat die Besonnenheit nur als Inbegriff von Gegeninteressen, nämlich als ein Anreiz gegen Begehrlichkeit, der sich aus Selbstinteresse speist.
Eine Besonnenheit unter den beiden Bedingungen der Moderne, der Leistungsexplosion und der entfesselten Begehrlichkeit, kommt daher nicht umhin, Gegenkräfte zu stimulieren. Nur empirische Überlegungen zeigen, welche Anreize es beim Gesundheitswesen überhaupt gibt, nur die Erfahrung, welche von ihnen kräftig, welche wirksam genug sind. Eine genuin philosophische Kompetenz liegt hier nicht vor; allerdings kann sich der Philosoph kundig machen.
Auf seiten des Patienten steuern der Begehrlichkeit beispielsweise entgegen: eine Selbstbeteiligung und eine Beitragsrückerstattung bei Nichtinanspruchnahme von Leistungen. Begehrlichkeitsdämmend wirkt sich glücklicherweise auch gute Aufklärung aus. Kostenwirksam wird die Begehrlichkeit des Patienten freilich erst dann, wenn sie auf eine entgegenkommende Begehrlichkeit der sogenannten Leistungsanbieter stößt. So geben Ärzte gelegentlich den Wünschen, sogar Forderungen ihrer Patienten nach, um diese nicht zu verlieren. Vielleicht nehmen sie auch manches im Hinblick auf das Honorierungs-System vor. Eine weitere Frage: Ist es sinnvoll, daß man an jeder Komplikation, sogar an jenen Nachoperationen verdient, die durch einen ärztlichen Fehler erforderlich werden? Die Alternative - Fallpauschalen - bergen freilich die Gefahr einer Risikoselektion in sich: Komplizierte Fälle sucht man lieber abzuschieben.
Wie geht die Gesellschaft
mit Knappheit um?
Kostensteigernd wirken sich auch Strukturschwächen aus, beispielsweise die mangelnde Verzahnung von ambulanter und stationärer Medizin. Vielleicht gibt es auch unnötige Überweisungen. In den Niederlanden beispielsweise kommen im Jahr 1992 pro tausend Einwohner nur halb so viele Überweisungen zustande wie in Deutschland (nach Schneider 1995, 56).
Der Besonnenheit bedarf es auch bei der Forschung, weil deren Kosten das Gesundheitswesen nicht unberührt lassen. Ohnehin hat der Nutzenzuwachs deutlich abgenommen. Bei der Lebens- erwartung, auf die sich die medizinische Forschung selbst gern beruft, fallen in unseren entwickelten Gesellschaften die Zuwachsraten aus neuen medizinischen Erkenntnissen immer geringer aus. Überdies steigen die Möglichkeiten der Diagnose weit stärker als die der Therapie.
Solange die Besonnenheit nicht von allein zustande kommt, freiwillig und auf allen Seiten, bleiben die Ressourcen notwendig knapp. Das provoziert die Frage: Wie geht die Gesellschaft mit der Knappheit moralisch angemessen um? Generell gibt es drei Ansätze: den Utilitarismus, den Standpunkt der Gerechtigkeit und jenes Überbieten von Gerechtigkeit, das in Mitleid, Großzügigkeit und Wohltätigkeit besteht.
Der Utilitarismus betrachtet die Gesellschaft als ein Kollektiv, das die vorhandenen Mittel zugunsten eines maximalen Gesamtwohls einsetzt. Im Konfliktfall ist unter sonst gleichen Bedingungen das Leben eines Kindes wichtiger als das älterer Menschen; denn es werden mehr Lebensjahre gerettet. Analog ist die Mutter von vier Kindern wichtiger als der Junggeselle. Gewiß, die Position ist verfeinert worden; aber auch dann widerspricht sie unseren moralischen Intuitionen deutlich genug. Während wir jedem Menschen unveräußerliche Rechte zusprechen, erlaubt der Utilitarismus, das Wohlergehen der einen gegen das der anderen zu verrechnen.
Der Standpunkt der Gerechtigkeit schließt diese Möglichkeit aus. Mit gutem Grund herrscht er deshalb vor: sowohl in der Geschichte der Philosophie als auch in den zeitgenössischen Debatten. Obwohl eine Welt, in der Gerechtigkeit herrscht, ein Leitziel der Menschheit seit ihren Anfängen bildet, ist aber die Frage, worin die Gerechtigkeit besteht, heftig umstritten. In dieser Situation beginnt die Philosophie mit einer Begriffserklärung; sie weist auf eine prinzipielle Grenze hin: Im Rahmen der Sozialmoral geht es der Gerechtigkeit bloß um jenen kleinen Anteil, dessen Anerkennung die Menschen einander schulden. Auf einen Mangel des anderen Anteils, der verdienstlichen Mehrleistung, auf zu wenig Mitleid, Großzügigkeit oder Wohltätigkeit, reagiert man mit Enttäuschung, auf fehlende Gerechtigkeit hingegen mit Empörung. Wegen dieses Unterschiedes soll man persönlich durchaus großzügig oder wohltätig sein; eine zwangsbefugte Gesellschaftsordnung dagegen, ein Rechts- und Staatswesen, ist im wesentlichen nur für Gerechtigkeit zuständig.
Daraus folgt eine Verschiebungsgefahr, die oft schon bewußt eingesetzt wird und dann auf Mißbrauch hinausläuft: Man erklärt für eine Gerechtigkeitspflicht, was in Wahrheit zum verdienstlichen Mehr gehört. Und gelegentlich sagt man "soziale Gerechtigkeit" und meint nichts anderes als "sozialen Neid". Hier deutet sich der dritte epochenspezifische Faktor für Ressourcenknappheit an: Die Moderne hat die Tendenz, noch als geschuldete Grundleistung anzusehen, was in Wahrheit schon in den Bereich des verdienstlichen Mehr fällt. Müßte jeder, der nach medizinischer Leistung verlangt, diese, wie bei Dienstleistungen üblich, selber vergüten, sei es unmittelbar, sei es über eine Privatversicherung, so pendelten sich Angebot und Nachfrage aufeinander ein. In Form einer Säkularisierung der christlichen Nächstenliebe wird aber aus manch freiwilliger Mehrleistung eine geschuldete Solidaritätspflicht. Erst sie setzt die Balance aus Angebot und Nachfrage außer Kraft und gibt neue Begehrlichkeiten frei. Eine Wohltat kann sich allerdings bei näherer Betrachtung als gerechtigkeitsgeboten erweisen: Wer jemandem aus einer Not hilft, die er mitverschuldet hat, handelt nicht aus Mitleid, sondern aus Gerechtigkeit. Weil die Menschen hilfsbedürftig und ohne ihre Zustimmung auf die Welt kommen, ist die Verantwortung für ihr Wohl - freilich nicht auf unbegrenzte Zeit - gerechtigkeitsgeboten.
Der Grundgedanke der Gerechtigkeit besteht in der Gleichheit, ihre Minimalforderung im Willkürverbot beziehungsweise dem Gebot der Unparteilichkeit. Nun denkt man üblicherweise bei der Gerechtigkeit an Verteilungsgerechtigkeit. Die zu verteilenden Mittel müssen aber erst erarbeitet und dann, im Fall einer Arbeitsteilung, wechselseitig getauscht werden. Wegen dieser Binsenweisheit empfiehlt sich für die Gerechtigkeitstheorie ein Paradigmenwechsel: Man beginne nicht bei der Verteilung, sondern beim Tausch. Denken darf man allerdings nicht nur an Wirtschaftsgüter und Dienstleistungen; getauscht werden auch Gewaltverzichte, was zu den Freiheitsrechten führt, namentlich dem Recht auf die Integrität von Leib und Leben.
Zugunsten eines Paradigmenwechsels spricht schon der Umstand, daß eine Verteilung von oben her erfolgt, also Hierarchien voraussetzt, ein Tausch dagegen als Beziehung unter Gleichen das Grundmuster der Demokratie bildet. Eine Demokratie, die sonst jeden Paternalismus und Maternalismus von sich weist, mancherorts aber den Tausch als Grundmuster der Verteilung verwirft, lebt in einem tiefen Widerspruch. Mancher Einwand liegt auf der Hand, etwa daß Kinder und Behinderte nicht (genug) tauschen können oder daß die früher verantwortlichen Institutionen, Familien, Zünfte, Kommunen . . ., in den letzten Jahrhunderten entmachtet worden sind, daher einen Teil ihrer Aufgaben nicht mehr zu erfüllen vermögen. In beiden Fällen tritt aber die zur Tauschgerechtigkeit schon immer notwendige Ergänzung - die korrektive Gerechtigkeit - auf den Plan. Insofern der Staat die genannten Institutionen politisch und finanziell entmachtet hat, ist der entsprechende Ausgleich gerechtigkeitsgeboten.
Ohne Zweifel ist die Gesundheit ein spezielles, weder nur privates noch lediglich soziales, öffentliches Grundgut. Mindestens drei Faktoren sind nämlich für sie zuständig: außer den gesellschaftlichen Umständen eine natürliche Vorgabe und der eigene Lebensstil. Nun gehört zur Selbstverantwortlichkeit des demokratischen Bürgers das Recht, aber auch die Pflicht, seine Lebensführung selbst in die Hand zu nehmen. Wer trotzdem selbst Erwachsene auf eine bestimmte Vorsorge fürs Leben, auf eine Versicherung gegen Krankheit, verpflichtet, kann sich beispielsweise auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen berufen - etwa auf die Entmachtung der Solidargemeinschaften, der Familien und Zünfte - und auf die Abhängigkeit der Arbeitnehmer und ihrer Familien von der Arbeitsfähigkeit. Derartige Argumente begründen aber erst eine Versicherungspflicht, noch keine Pflichtversicherung.
Die gewöhnlichen Versicherungen funktionieren auf der Basis der Risikoäquivalenz. Bei jüngerem Beitritt hat man eine geringere Beitragsrate, bei riskanten Berufen oder Hobbys eine höhere. Infolgedessen pflegen sie wenig Probleme zu haben. Wo man das Prinzip der Risikoäquivalenz aufhebt und diejenigen, die mehr einzahlen, als es die Risikoäquivalenz verlangt, die Mehrzahler, stillschweigend einer (Umverteilungs-)Steuer unterwirft, dort weckt man zusätzlich die Begehrlichkeit der Politiker. Zugunsten ihrer Wahlklientel haben sie den Kern, eine Grundversicherung gegen Krankheit, um eine immer üppigere Hülle von Zusatzaufgaben angereichert und stehen heute vor dem Problem, wieder zum Kern zurückzufinden.
Die entsprechende Entwicklung hat allerdings mit der Mentalität einer Gesellschaft zu tun. Deshalb lohnt sich ein Blick in die Statistik. Auf die Frage, was ihnen wichtiger sei, Freiheit oder Gleichheit, votieren unter den Deutschen im Vergleich zu den Briten doppelt so viele für die Gleichheit und halb so viele für die Freiheit. Von dieser Einstellung her ist es kein Zufall, daß ein Land, unser Land, das ohnehin mehr Gleichheit als Großbritannien kennt, nicht dem Prinzip Risikoäquivalenz folgt, außerdem hinsichtlich des Leistungsversprechens zur Weltspitze gehört. Die Entwicklung trifft übrigens auf den Sozialstaat generell zu. Er, der als gezielte Hilfe für sozial Schwache begann, ist im Laufe der Jahrzehnte zur umfassenden Fürsorge für die Mehrheit der Bevölkerung geworden, und dies, obwohl deren (inflationsbereinigtes) Pro-Kopf-Einkommen enorm gestiegen ist.
Versuchen wir zum Schluß einen konstruktiven Vorschlag: Nach dem Prinzip, das oberhalb eines sozialen Minimums ohnehin zuständig ist, nach dem Prinzip Freiheit, erlaube man, die Entscheidung, was einem die Gesundheit wert ist, selber zu treffen. Nach diesem Grundsatz wäre für die Krankenversicherung ein neuartiges, jetzt mehrstufiges System empfehlenswert: (1) die Grundstufe, eine möglicherweise gesetzliche Krankenversicherung, ist für das elementare Minimum zuständig. (2) Die Aufbaustufe, die genossenschaftlichen oder privaten Krankenkassen, übernimmt die Mehraufwendungen - und erhält dabei das Recht, über Risikofaktoren wie Übergewicht, Bewegungsmangel, Alkohol- und Nikotinmißbrauch als Parameter nachzudenken. (Allerdings könnte es sein, daß diejenigen, die gesund leben, aufgrund ihrer höheren Lebenserwartung höhere Kosten verursachen.) (3) Ähnlich wie private Lebensversicherungen die persönliche Altersvorsorge abrunden, ist auch in der Krankenversicherung für Zusatzwünsche eine Abrundungsstufe denkbar.
Die genaue Abgrenzung zwischen den Stufen mag schwierig sein. Spätestens der internationale Vergleich zeigt aber, daß Deutschland sehr großzügig verfährt.
Nicht der geringste Vorteil der skizzierten Stufenordnung besteht in ihrer Transparenz. Es wird wieder sichtbar, daß es bei der medizinischen Versorgung ein Mehr-oder-Weniger gibt, ferner daß man selber entscheiden dürfen soll, wieviel man davon will; schließlich, daß der Eintritt in die höhere Stufe eine Investition in die eigene Zukunft vornimmt, die - wie jede Investition - einen Konsumverzicht in der Gegenwart verlangt.
Wie in der Arzt-Patienten-Beziehung die Selbstbestimmung des Patienten eine wachsende Rolle spielt, so darf man sich aber fragen, ob diese Autonomie nicht erweitert werden sollte. Die Entscheidung über die nähere Krankenversicherung selbst zu treffen wäre dem demokratischen mündigen Bürger nur angemessen.
Obwohl meine Überlegungen sehr vorläufig sind, dürften sie deutlich machen, daß das traditionelle Ethos des Arztes, das die Ressourcenknappheit noch ausblendet, künftig um dieses Thema zu erweitern ist. Auch wer nicht allen vorangehenden Überlegungen zustimmt, dürfte um diese Einsicht nicht herumkommen. Da von den zwei genannten Gesichtspunkten, der Besonnenheit und Gerechtigkeit, der zweite vornehmlich in den Aufgabenbereich der Politik gehört, braucht das ärztliche Ethos die Ergänzung um Sophrosyne, um Besonnenheit und Maß. Das Ergebnis mag bedauernswert sein und ist trotzdem kaum zu ändern: Daß jedem Patienten zu jeder Zeit alles medizinische Wissen und Können zur Verfügung gestellt werden - zugespitzt: "Macht, was ihr könnt, bezahlt wird alles" - , dieser Grundsatz kann in Zukunft nicht mehr gelten.


Literatur
Aristoteles 1991: Die Nikomachische Ethik, übersetzt von Olof Gigon, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1. Aufl. Zürich- Stuttgart: Artemis Verlag 1951, 21967; zitierte Stelle: Buch I, Kap. 3, 1095b 19-22.
Descartes, René 1637/1971: Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs, übersetzt von Kuno Fischer, Stuttgart: Reclam; zitierte Stelle aus sechstem Kapitel.
Platon 1958: Politeia, in: Sämtliche Werke, Band 3, Hamburg Rowohlt, zitierte Stellen: Buch III, Kap. 13, 405a, und Kapitel 14, 406 a-b.
Schneider M, u. a. 1995: Gesundheitssysteme im internationalen Vergleich, Augsburg; BASYS.
Als Nachschlagewerk: Lexikon der Ethik, hrsg. v. Otfried Höffe, München: Beck’sche Reihe 51997.


Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1998; 95: A-202-205
[Heft 5]

Anschrift des Verfassers
Prof. Dr. phil. Otfried Höffe
Philosophisches Seminar
Eberhard-Karls-Universität
Bursagasse 1
72070 Tübingen

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Dabrock, Peter

Medizinethik: Zur Ungerechtigkeit tendierende Elitisierung

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 21 (22.05.1998), Seite A-1272 (Zu dem Beitrag "Aus philosophischer Sicht: Medizin in Zeiten knapper Ressourcen" von Prof. Dr. phil. Otfried Höffe in Heft 5/1998:)
SPEKTRUM: Leserbriefe

Höffes diskussionswürdige gesundheitspolitische Diagnosen und Therapievorschläge sind eingebettet in problematische Präsuppositionen: Was er gesundheitspolitisch zu analysieren anmahnt, hat er weder sozial- noch bildungspolitisch bedacht: Ressourcenknappheit. Bedingungsmöglichkeit und nicht nur nachträgliche Korrektur der Verhältnisbestimmung von Freiheit und Gleichheit und damit der Gerechtigkeit ist die Teilhabe, das heißt die Zugangschance zu (nicht nur politischen, sondern auch sozialen) Ressourcen. Nur wenn sie gewährleistet wird, kann sich der einzelne qualifiziert zwischen Freiheit und Gleichheit entscheiden. Bevor Teilhabe nicht thematisiert wird, ist alle Rede vom Vorrang der Freiheit und der Tauschgerechtigkeit nicht vom Vorwurf einer zur Ungerechtigkeit tendierenden Elitisierung freizusprechen. Besonnenheit allein wird weder die Ressourcenknappheit beheben noch den Weg in die Zweiklassenmedizin aufhalten.
Peter Dabrock, Ruhr-Universität Bochum, 44780 Bochum

 

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Raitzig, Dr. (H) Marion

Medizinethik: Sozialdarwinismus

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 21 (22.05.1998), Seite A-1268 (Zu dem Beitrag "Aus philosophischer Sicht: Medizin in Zeiten knapper Ressourcen" von Prof. Dr. phil. Otfried Höffe in Heft 5/1998:)
SPEKTRUM: Leserbriefe

In Zeiten knapper Mittel müssen diese gerade mit Hilfe ethischer Kriterien gerecht verteilt werden. Herr Höffe plädiert für Bescheidenheit. Nur entpuppt sich diese als eine Bevorzugung der Privilegierten, Reichen und Gesunden unserer Gesellschaft, denn nur diese werden die Versicherungsbeiträge für die vorgeschlagene Abrundungs- und Aufbaustufe bezahlen können. Hier wird ein Sozialdarwinismus und eben nicht Gerechtigkeit und Freiheit vertreten. Herr Höffe greift auf Aristoteles zurück und erwähnt dabei nicht, daß dieser Gewalt und Zwang forderte, um seine Auffassungen durchzusetzen, die "Unverbesserlichen . . . (hätte er) ganz aus der Gemeinschaft (ge)stoßen" (Aristoteles: Nikomachische Ethik). Die Gesundheit aber jedes einzelnen Menschen ist ein erhaltenswürdiges Gut, Bescheidenheit des einzelnen ist hier, für den, der leben will, unangemessen. Der einzelne muß, seinem natürlichen Lebenswillen folgend, jedes Mittel zum Erhalt seiner Gesundheit wollen. Daher ist Aufgabe der Gemeinschaft, die gerechte Verteilung der knappen Ressourcen vorzunehmen, damit diese allen in gleicher Weise zugute kommen.
Dr. (H) Marion Raitzig, Steimbker Hof 8, 30625 Hannover

 

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Baden, Dr. med. Rainer

Medizinethik: Sorge nimmt tragisch-komische Züge an

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 21 (22.05.1998), Seite A-1272 (Zu dem Beitrag "Aus philosophischer Sicht: Medizin in Zeiten knapper Ressourcen" von Prof. Dr. phil. Otfried Höffe in Heft 5/1998:)
SPEKTRUM: Leserbriefe

Auch wenn die Argumentationsfigur der Knappheit gesellschaftlicher Ressourcen aus Philosophenmunde nicht weniger ideologieverdächtig bleibt als ihr Mißbrauch in den bekannten politischen Begründungen restriktiver Maßnahmen, bleibt die Zitatensammlung aus dem Schatzkästlein der Sophrosynen bedenkenswert. Es fehlte dabei der Verweis auf I. Illichs bekannte Kritik: "Daß die Sorge des medizingesättigten Wohlstandsbürgers um seine Gesundheit zu den größten Gefahrenquellen geworden ist." Jene Sorge, die vielleicht zu den folgenreichsten Infektionen mit dem Keim der Pleonexie gehört. Über den Surrogatcharakter dieser Art von Sorge, als Pervertierung des Begriffes von Heil, als transzendente Größe nachzudenken ist weniger aus ökonomischen, denn aus sittlichen Gründen geboten.
In Anbetracht des Gesundheitszustands der Armen dieser Welt, deren medizinische Ressourcen in "sophrosynischer Versonnenheit" übergangen werden, nimmt die Sorge um Begrenzung der Ressourcen hier tragisch-komische Züge an . . . Dr. med. Rainer Baden, Diakonie Stetten e.V., Devizesstraße 4, 71332 Waiblingen

 

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Bormuth, Matthias

Medizinethik: Skepsis bei Vertrauen in den Markt

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 21 (22.05.1998), Seite A-1272 (Zu dem Beitrag "Aus philosophischer Sicht: Medizin in Zeiten knapper Ressourcen" von Prof. Dr. phil. Otfried Höffe in Heft 5/1998:)
SPEKTRUM: Leserbriefe

Ob der antikisierte Blick Höffes auf die Tugenden zwischen "Unersättlichkeit" und "Mäßigung" hinreicht, die komplexe Sachfrage der Verteilungsgerechtigkeit mit der wünschenswerten Tiefenschärfe zu erfassen, steht dahin. Denn ihr Umrißcharakter erfuhr unter der Führung des "Protestantischen Geistes" eine ambitendente Zuspitzung, wie sie ökonomiehistorisch Max Weber im Blick auf den "Geist des Kapitalismus" untersuchte. Die Tugend des leistungsbezogenen, zweckrationalen Maßhaltens triumphierte im okzidentalen Wirtschaften, so daß sie - abgelöst von ihrer religiösen Motivation - im Markthabitus mit der Tendenz zur alleinigen innerweltlichen Bereicherung übereinkommen konnte. Diese paradoxe Indienstnahme der asketischen Lebensführung - auch für das medizinische Wirtschaften - läßt zweifeln, ob sie als via regia aus der Ressourcenknappheit zu empfehlen ist. Zudem stimmt das ungebrochene Vertrauen des Denkers vom Fach auf den sich selbst ausbalancierenden Markt angesichts der Langzeitarbeitslosigkeit skeptisch, wie auch der "konstruktive Vorschlag" des "Prinzip[s] Freiheit" ob der begrenzten Kontextanalyse nur dem glücklichen Zufall - oder verdienten Schicksal - des Langzeitarbeitstätigen gefallen darf.
Matthias Bormuth, Gartenstraße 175, 72074 Tübingen

 

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Höffe, Prof. Dr. phil. Otfried

Medizinethik: Schlußwort

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 21 (22.05.1998), Seite A-1272 (Zu dem Beitrag "Aus philosophischer Sicht: Medizin in Zeiten knapper Ressourcen" von Prof. Dr. phil. Otfried Höffe in Heft 5/1998:)
SPEKTRUM: Leserbriefe

Eine vernünftige Knappheitspolitik fällt der professionellen Politik aus dem einfachen Grund schwer, daß sich ihr Auftraggeber und Souverän, der Bürger, selber schwer tut. Nach wenigen Jahrzehnten wirtschaftlicher Blüte hat er die Einsicht verdrängt, daß die Knappheit zur Conditio humana gehört und daher nach zwei Grundhaltungen (Tugenden: aretai) verlangt, die wir seit der Antike kennen: Die Besonnenheit tritt der ausufernden Begehrlichkeit (pleonexia) entgegen, und die Gerechtigkeit dem Sozialdarwinismus (zu Dr. Raitzig), da sie jene Knappheit, die auch nach Korrektur mancher "Fehlverwendung" zurückbleibt (zu Herrn Mahler), nach Maßgabe einer zwangsbefugten Moral (und nicht freiwilliger Mehrleistungen) bewältigt. Weil die heutige Knappheit nicht bloß anthropologische, sondern auch zeitspezifische Ursachen hat, erliegt meine Diagnose nicht, wie Herr Bormuth befürchtet, einem "antikisierten Blick".
Im übrigen ist es schön, daß die humanistische Bildung lebendig bleibt. Das von Dr. Seemann genannte apeiron der physis spielt aber in Platons und Aristoteles’ Ethik keine Rolle, und da die Sache der Tugend eingeführt ist und der Stoiker-Hinweis an meiner Diagnose nichts ändert, erweist sich das selbstauferlegte Weiterleseverbot als überflüssig. Und Aristoteles’ Metaphysik, ihre Einleitungskapitel und die Schlußkapitel der Nikomachischen Ethik geben in der Tat dem nutzenfreien Wissen den Vorrang vor der praktischen Philosophie (zu Dr. Laux).
Nicht nur in der Medizin besteht die Neigung, das hierzulande herrschende Anspruchsniveau für schlicht gerechtigkeitsgeboten zu halten.
Der Ländervergleich mahnt zur Vorsicht. Wenn in den USA auf die entsprechende Einwohnerzahl gut vier, bei uns aber gut zehn Betten kommen, so kann man schwerlich jede kleinste Reduktion schon als Gerechtigkeitsverstoß brandmarken. Im übrigen darf man nicht übersehen, daß für die Gesundheit außer genetischen Vorgaben sowohl soziale als auch persönliche Faktoren zuständig sind. Infolgedessen ist die Gesundheit nur teilweise ein öffentliches, teilweise aber auch ein privates Gut, und dem mündigen Bürger stehen eigene Entscheidungsbefugnisse zu, die ihm ein ausufernder Fürsorgestaat gern verwehrt. Das aus mündiger Entscheidungsfreiheit resultierende Mehrstufenmodell der Krankenversicherung darf man nicht mit dem "Totschlagwort" Zweiklassenmedizin abtun (Herr Dabrock). Die höheren Stufen können nämlich das bisherige Maß, gewisse Lohnprozente, beibehalten. Jeder Bürger soll aber unterscheiden dürfen, was ihm die Gesundheit wert ist, wert an gesundheitsbewußter Lebensführung und an prozentualer Beitragshöhe.
Eine nüchterne Diskussion, deren die Knappheitsfrage endlich bedarf, muß für aktuelle Gefahren offenbleiben: daß die Übermacht der Diagnostik fast jeden Gesunden als krank definieren kann, daß eine Zunahme attraktiver Nischenmedizin droht, ferner eine Dominanz kurzfristiger Behandlungserfolge über den langfristigen Gesundheitserfolg.
Prof. Dr. phil. Otfried Höffe

 

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Seemann, Dr. med. Oliver

Medizinethik: Schade

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 21 (22.05.1998), Seite A-1270 (Zu dem Beitrag "Aus philosophischer Sicht: Medizin in Zeiten knapper Ressourcen" von Prof. Dr. phil. Otfried Höffe in Heft 5/1998:)
SPEKTRUM: Leserbriefe

Daß die einheitsstiftende Sprache des Griechischen benutzt wird, war mir große Freude. Daß das Thema Ressourcenknappheit damit zu tun haben sollte, ist dagegen völlig daneben. Als ob ein Grieche sich mit Endlichkeit der Natur, der physis, beschäftigt hätte. Das apeiron hat keine Grenzen, per definitionem.
Den Begriff der Tugend arte/virtus hätten Sie einführen können, wollten Sie aber lieber nicht. Das verstehe ich. Die Tugend besteht für den Stoiker im homologomenon zen. Vernunftgemäß zu leben heißt für den Stoiker, weder Sklave noch Tyrann zu sein. Und übrigens ist der Mensch von Natur aus tendenziell unersättlich? Da hätte Epikur auch etwas dazu zu sagen, zum Wesen der Wohlgemutheit.
Den Begriff der sophrosyne benutzte Platon für die Sklaven. Daß der moderne Arzt ein Sklave ist, haben Sie zwar vergessen zu erwähnen, aber unbewußt doch suggeriert. Dem freien Herren stand nach Platon die dikaiosyne besser zu Gesicht. Nach diesem proton pseudos habe ich mir erlaubt, den Text nicht zu Ende zu lesen. Schade, mit griechischer Philologie kann man auch viel Gutes, Wahres und Schönes tun.
Dr. med. Oliver Seemann, Schillerstraße 33/408, 80336 München

 

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Gommann, Dr. med. R.

Medizinethik: Mehr öffentliche Diskussion

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 21 (22.05.1998), Seite A-1272 (Zu dem Beitrag "Aus philosophischer Sicht: Medizin in Zeiten knapper Ressourcen" von Prof. Dr. phil. Otfried Höffe in Heft 5/1998:)
SPEKTRUM: Leserbriefe

Vielen Dank für Ihren anregenden Beitrag "im Jahrzehnt der Verunsicherung". Der philosophische Vorschlag eines Paradigmenwechsels hin zur Besonnenheit in der Medizin ist sicherlich überfällig. Wenn er denn nur rasch über die Fachgesellschaften in Qualitätsstandards umgesetzt würde. Wenn sich dann auch noch der Berufsstand der Juristen zum Mithandeln entschließen würde. Wenn die Sozialpolitiker die notwendige Zivilcourage zur notwendigen Rahmenstrukturierung aufbringen würden.
Ich wünsche mir darüber nur noch eine öffentliche Diskussion, nicht nur im DÄ, sondern in den maßgeblichen, meinungsbildenden Medien, denn nur dann erleben wir im nächsten Jahrtausend das Zeitalter von Besonnenheit und Maß anstelle von Aggression ob des Scheiterns des allseits propagierten und ausgelebten Hedonismus.
Dr. med. R. Gommann, Voßstraße 49, 47574 Goch

 

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Jessen, Dr. med. H. F.

Medizinethik: Markt der Besorgnis

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 21 (22.05.1998), Seite A-1268 (Zu dem Beitrag "Aus philosophischer Sicht: Medizin in Zeiten knapper Ressourcen" von Prof. Dr. phil. Otfried Höffe in Heft 5/1998:)
SPEKTRUM: Leserbriefe

Auf der Suche nach dem Halt in unserem Sein ist ein großer Markt (?) der Besorgnis entstanden, den es neu zu ordnen gilt. Dabei müssen alle Beteiligten einbezogen werden (auch die Pharmazie und die Pharmaindustrie). Eine Unterteilung der Märkte, das heißt eine Abgrenzung vom Markt der Notwendigkeit und vom Markt der Begierde, wäre vielleicht ein Weg der Innovation, die Hinterfragung von Markt schon eine Richtung?
Dr. med. H. F. Jessen, Gleiwitzstraße 271, 44328 Dortmund

 

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Mahler, Klaus

Medizinethik: Fehlverwendung von Milliarden

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 21 (22.05.1998), Seite A-1270 (Zu dem Beitrag "Aus philosophischer Sicht: Medizin in Zeiten knapper Ressourcen" von Prof. Dr. phil. Otfried Höffe in Heft 5/1998:)
SPEKTRUM: Leserbriefe

Es gibt keine Ressourcenknappheit, sondern eine "Fehlverwendung", sprich eine Unterschlagung von 100 Milliarden DM der mehr als 250 Milliarden DM GKV-Beiträge (das hat Norbert Jachertz höchstpersönlich unwidersprochen im DÄ beschrieben), die vom mit 2,2 Billionen DM überschuldeten Staat (das ist so viel, als hätte Theo lang vor dem Bau der ägyptischen Pyramiden jeden Tag eine Million DM Schulden gemacht) heimlich betrieben wird!
Wirkliche "Besonnenheit": die durch Zins und Zinseszins sich selbst alimentierenden leistungslosen Einkommen der Gesamtheit der Kapitaleigner führten seit 1961 in exponentiell steigenden Wachstumsraten ganz automatisch zur "Pleonexie" beziehungsweise repräsentierten diese. Und die leistungslos über die Zinsdynamik in immer kürzeren Zeitabständen wachsenden Geldvermögen beanspruchen einen immer größeren Anteil am Sozialprodukt, nicht die Gesundheits-Konsumhaltung, Sie blinder Seher! Es sind nicht die bösen Menschen, die habgierig sind.
Klaus Mahler, Preußenallee 34, 14052 Berlin

 

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Fulda, Dr. med. Ulrich E.

Medizinethik: Endlich Klartext

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 21 (22.05.1998), Seite A-1270 (Zu dem Beitrag "Aus philosophischer Sicht: Medizin in Zeiten knapper Ressourcen" von Prof. Dr. phil. Otfried Höffe in Heft 5/1998:)
SPEKTRUM: Leserbriefe

Der Aufsatz von Herrn Prof. Höffe tut richtig gut: endlich mal einer, der, wenn auch sehr elegant formuliert, Klartext spricht!
Sein Modell mit Grund-, Aufbau- und Abrundungsstufe habe ich vor Jahren bereits vertreten. Meine Begriffe sind dem Kfz-Wesen entliehen und lauten Haftpflicht (wie der Name sagt, verpflichtend, muß jeder abschließen), Teilkasko (wenn’s etwas mehr sein darf) und Vollkasko (für die Reichen; paßt zur entsprechenden Mentalität). Allerdings war dies lange Zeit nicht salonfähig, da sofort ein Aufschrei ob einer Zwei-KlassenMedizin die Szene erschütterte. Dabei weiß doch jeder, daß es diese schon immer gegeben hat, heute gibt und auch morgen geben wird - vielleicht sogar deutlicher als je zuvor, da die Schere zwischen Reich und Arm in Deutschland zunehmend weiter aufgeht.
Nun bin ich gespannt, wann die Politik diese Gedanken aufgreift und umsetzt. Wetten, daß dies nicht vor dem 27. September der Fall sein wird?
Dr. med. Ulrich E. Fulda, Talstraße 29, 51399 Burscheid

 

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Laux, Dr. med. Peter

Medizinethik: Anmerkungen

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 21 (22.05.1998), Seite A-1268 (Zu dem Beitrag "Aus philosophischer Sicht: Medizin in Zeiten knapper Ressourcen" von Prof. Dr. phil. Otfried Höffe in Heft 5/1998:)
SPEKTRUM: Leserbriefe

Wieso ist Aristoteles ein Befürworter des nutzenfreien Wissens? Auch wenn der Nutzen für ihn nicht wie zum Beispiel beim Eklektiker Cicero an oberster Stelle einer Werteskala liegt, weisen seine praktische Philosophie und sein Strebensmodell auf eine Ergebnis- und Nutzenorientierung hin. "Die höchsten Tugenden müssen die sein, die für die anderen am nutzbringendsten sind, wenn anders die Tugend eine Kraft des Wohltuns ist." "Die im Mannesalter werden ersichtlich zwischen beider stehen . . . Und ohne nur dem Edlen oder nur dem Nutzen zu leben, sondern beidem gerecht werdend . . ."
Ich glaube nicht, daß die Vorschläge auf Dauer greifen, wenn nicht systematisch eine Änderung der Grundeinstellung weiter Bevölkerungsschichten erreicht wird. Helfen kann eine Schule der Philosophie und Rhetorik, die allen oder einem großen Teil der Bevölkerung regelmäßig und in ausgedehnterem Maß als heute zuteil wird. Sie muß Pflicht werden in Schule und Studium. Dabei sollte das Prinzip von Theorie und Praxis, Lehre und Übung unbedingt eingehalten werden. So gibt es eine Chance, die Anzahl derjenigen an den Schaltstellen der Macht in Politik und Unternehmen zu reduzieren, die "das Recht der Gemeinde von sich aus verlachen, vor dem Studium der Philosophie gar und den Lehren der Weisen im Innersten zurückschrecken".
Literatur beim Verfasser
Dr. med. Peter Laux, Rosengarten 11, 76228 Karlsruhe

 

 

Versorgung unter Budgetzwang - Die Krimmel-Debatte

 

Krimmel, Lothar

Ambulante Versorgung unter Budgetzwang: Was ist "medizinisch notwendig"?

in: Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 1-2 (06.01.1997), Seite A-20
POLITIK: Aktuell

In Zeiten unbegrenzter finanzieller Ressourcen waren die Begriffe "ärztlich empfehlenswert" und "medizinisch notwendig" weitgehend deckungsgleich. Angesichts der Mittelverknappung und stringenten Budgetierung verengt sich der Ermessensspielraum des Arztes jedoch zusehends. In dem folgenden Beitrag stellt Dr. med. Lothar Krimmel, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, dar, wie die Ökonomie den Leistungsanspruch bestimmt. Die Budgetierung führt seiner Ansicht nach zwangsläufig in eine Zwei-Klassen-Medizin - mit dem Arzt in der aufgezwungenen Rolle des Rationierers.


Derzeit taucht in der Diskussion um die Arzneimittel- und Heilmittelbudgets in der gesetzlichen Krankenversicherung immer wieder ein Begriff auf, der insbesondere auf Politiker und Kassenfunktionäre eine geradezu magische Anziehungskraft auszuüben scheint: die "medizinische Notwendigkeit". Es handelt sich dabei um einen der zahlreichen unbestimmten Rechtsbegriffe des Sozialgesetzbuches, die einen weiten Interpretationsspielraum eröffnen und daher geradezu prädestiniert sind, von verschiedenen Seiten für die jeweils eigenen Vorstellungen instrumentalisiert zu werden. Kaum wurde von Ärzteseite angedeutet, daß das von den Kassen provozierte Einfrieren der Arzneimittelbudgets auf dem Stand von 1991 unweigerlich in eine Rationierung münden müsse, wurde von Krankenkassen und Politikern die bekannte Leerformel bemüht: "Alles, was medizinisch notwendig ist, muß auch auf Kassenrezept verordnet werden!" Angesichts der ungeheuren Komplexität der modernen Medizin ziehen sich offensichtlich gerade Politiker und Kassenfunktionäre nur allzu gerne auf diese scheinbar stabile Plattform im unruhigen Meer medizinischer Versorgungsvielfalt zurück. Die Frage ist nur: Was ist "medizinisch notwendig"?
Der entscheidende Ansatz für das Verständnis der "medizinischen Notwendigkeit" in einer gesetzlichen Krankenversicherung liegt in der Erkenntnis, daß der Variations- und Interpretationsspielraum unmittelbar abhängig ist von den jeweils herrschenden ökonomischen Bedingungen, insbesondere also der Finanzkraft des Gesundheitsversorgungssystems. Dabei besteht diese Abhängigkeit der Behandlungsspielräume von den finanziellen Ressourcen gleich in doppelter Hinsicht: sowohl hinsichtlich der Definition des Umfangs der ethisch gebotenen Maßnahmen als auch in bezug auf den Ermessensspielraum des Arztes jenseits dieser Grenze ethisch gebotener Maßnahmen.
So ist beispielsweise der Einsatz von Chemotherapeutika bei Leukämie in den meisten Entwicklungsländern aufgrund fehlender finanzieller Ressourcen schlichtweg nicht darstellbar. In Osteuropa ist aus denselben Gründen die in Deutschland selbstverständliche Dialyse bei Hochbetagten faktisch nicht verfügbar, und auch hierzulande muß die Grenze der ethischen Vertretbarkeit einer Verweigerung von Behandlungsansätzen unter dem Budgetdruck des Jahres 1996 enger gezogen werden als unter den größeren finanziellen Spielräumen des Jahres 1992.
Die teilweise völlig insuffizienten KV-bezogenen Arzneimittel- und Heilmittelbudgets können sogar so gering sein, daß sie noch nicht einmal den Leistungsanspruch innerhalb der Grenzen des ethisch Unverzichtbaren und damit auch medizinisch zwingend Notwendigen abdecken (zum Beispiel Mecklenburg-Vorpommern im Herbst 1996). Allerdings sind die Kassenärzte auch in dem Fall, daß aufgrund der Verordnung medizinisch zwingend notwendiger Arznei- und Heilmittel eine Budgetüberschreitung droht, zur Verordnung dieser Maßnahmen verpflichtet. Hier entpuppt sich die Budgetierung vollends als verfassungswidrige Zwangsabgabe des Kassenarztes zur Mitfinanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung. In budgetierten Systemen noch bedeutsamer sind die Einschränkungen des Ermessensspielraums des Arztes. Dabei wird zunächst offensichtlich, daß die nach dem Gebot ärztlicher Ethik notwendigen Leistungen mit dem Begriff der "zwingenden medizinischen Notwendigkeit" übereinstimmen. Jenseits dieser Grenze beginnt der Ermessensspielraum, der insoweit auch unmittelbar den Umfang des Leistungsanspruchs des Versicherten definiert. Je geringer der finanzielle Spielraum eines Versorgungssystems ist, desto näher muß die Interpretation der "medizinischen Notwendigkeit" an die Grenze der "zwingenden medizinischen Notwendigkeit" im Sinne ethisch gebotener Maßnahmen rücken.

Billigstes Generikum ist ausreichend
Ist zum Beispiel die Verordnung eines bestimmten Wirkstoffs medizinisch notwendig und wählt der Arzt unter mehreren wirkstoffgleichen Arzneimitteln das billigste aus, so hat der Versicherte nur Anspruch auf dieses billigste Arzneimittel. Wünscht der Versicherte dagegen ein teureres Präparat - etwa weil er das im Krankenhaus verabreichte Arzneimittel nicht wechseln möchte -, so ist der Arzt angesichts einer fehlenden zwingenden medizinischen Notwendigkeit nicht verpflichtet, dieses vom Versicherten gewünschte, teurere Arzneimittel zu verordnen. Ein weiteres Beispiel für die Abhängigkeit der "medizinischen Notwendigkeit" von den verfügbaren Finanzressourcen eines Gesundheitssystems gibt die Diskussion um den Einsatz neuer Arzneimittelwirkstoffe in solchen Bereichen, in denen bereits therapeutische Möglichkeiten bestehen. Ist zum Beispiel die Verordnung eines neuartigen Arzneimittels, das nur einmal statt dreimal täglich eingenommen werden muß, dafür jedoch mehr als doppelt so teuer ist wie die für dieselbe Indikation bereits eingeführte Substanz, tatsächlich "medizinisch zwingend notwendig"? Steht also der größere Anwendungskomfort des Arzneimittels in einem angemessenen Verhältnis zum deutlich erhöhten Ressourcenverbrauch? Dies sind die Kernfragen gesundheitsökonomischer Überlegungen, die sich mit dem sogenannten "Grenznutzen" medizinischer Behandlungsverfahren beschäftigen. Dabei sind solche Überlegungen keineswegs unethisch. Im Gegenteil: In budgetierten und damit rationierten Gesundheitssystemen wie der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung des Jahres 1996 geben Grenznutzen-Analysen wichtige Hinweise für die Verlagerung von Finanzmitteln in Bereiche mit höherem Kosten-Nutzen-Verhältnis. Auf diese Weise können in einem budgetierten Gesundheitssystem Rationierungsüberlegungen gerade auch ethisch begründet und legitimiert sein. Andererseits können solche Analysen auch Bereiche aufzeigen, in denen angesichts eindeutig belegter Effizienzsteigerungen Budgetanhebungen erforderlich sind. Die Durchsetzung des Prinzips der "Therapiefreiheit" des Arztes setzt angesichts der Dynamik des medizinischen Fortschritts und der demographischen Entwicklung ein finanziell weitgehend unbegrenztes Gesundheitswesen voraus. Im Korsett einer budgetierten gesetzlichen Krankenversicherung ist dagegen für die Ärzteschaft die Durchsetzung dieses Prinzips derzeit nur um den Preis der Existenzgefährdung (Budgethaftung!) möglich.
Auch die betroffenen Zweige der Gerichtsbarkeit, namentlich die Zivil- und Sozialgerichte, die in der Vergangenheit durch eine immer extensivere Auslegung der Versicherten- und Patientenansprüche die existentielle Krise der gesetzlichen Krankenversicherung mitverursacht und damit - ungewollt, aber dennoch wirkungsvoll - das Sozialstaatsprinzip in Frage gestellt haben, werden umdenken müssen. Entscheidungen in Einzelfragen werden künftig immer zu berücksichtigen haben, ob nicht diese Entscheidung die offensichtlich abnehmende Finanzkraft des Gesundheitssystems überfordert und damit zum Zusammenbruch dieses Versorgungssystems - mit unabsehbaren Folgen für alle Beteiligten - beitragen wird.


Zwei-Klassen-Medizin als Budgetfolge
Auch wenn diese Zusammenhänge ganz unzweideutig Aspekte einer Rationierung und damit einer "ZweiKlassen-Medizin" aufweisen, so sollte gerade angesichts des übergeordneten Ziels eines Erhalts der solidarischen Krankenversicherung hier nicht vergessen werden: Die unterschiedliche Verteilung der Bedürfnisse und insbesondere die unterschiedliche Beurteilung des Stellenwertes der eigenen Gesundheit gehören zu den Grunderfahrungen unserer Gesellschaft. Wäre dem nicht so, gäbe es keine Raucher, keine Alkoholiker, keine Drachenflieger und auch keine Rennfahrer. Auch müßte die Illusion einer völligen Gleichverteilung von Gesundheitsgütern letztlich beispielsweise in die Forderung münden, wegen der erwiesenen Einkommensabhängigkeit von Gesundheitszustand und Lebenserwartung allen Bürgern ein Mindesteinkommen von zum Beispiel 5 000 DM zu garantieren.


Politik muß Farbe bekennen
Um diesen Sachverhalt auch sprachlich zur Geltung zu bringen, ist der angesichts strikt limitierter Finanzmittel unbrauchbare, da unscharfe Begriff der "medizinischen Notwendigkeit" zu trennen in "medizinisch zwingend notwendig" (als Synonym für den nicht weiter disponiblen Anspruch auf "Kernleistungen" in der gesetzlichen Krankenversicherung) und "ärztlich empfehlenswert" (jedoch nicht medizinisch zwingend notwendig) auf der anderen Seite (siehe Grafik). In Zeiten unbegrenzter finanzieller Ressourcen waren die Begriffe "ärztlich empfehlenswert" und "medizinisch notwendig" weitgehend deckungsgleich. Deswegen geht der Vorwurf von Politik und Krankenkassen, die tatsächlich erzielbaren Einsparungen zeigten, daß die Kassenärzte in der Vergangenheit zuviel medizinisch nicht Notwendiges verordnet hätten, vollständig in die Irre. Hierbei wird der Ermessensspielraum in der Abgrenzung zwischen der ärztlich empfehlenswerten und der medizinisch (zwingend) notwendigen Behandlung schlichtweg übersehen. Diese Darstellung zeigt auch, daß es letztlich nicht angehen kann, in einer gesetzlichen Krankenversicherung mit mehr als 70 Millionen Versicherten den Umfang des Leistungsanspruchs dieser Versicherten jenseits des medizinisch unbedingt Notwendigen ganz in das Ermessen des einzelnen Arztes zu stellen. Für die Ärzteschaft ist es inakzeptabel, daß ihr in dieser "Grauzone" des ärztlich Empfehlenswerten jenseits der zwingenden Notwendigkeit die Rolle des "Rationierers" aufgebürdet werden soll - eine Rolle, welche die Patient-ArztBeziehung als den Eckpfeiler jedes Gesundheitssystems massiv gefährdet. Ungeachtet der ethischen Dimension eines solchen permanenten Triage-Konflikts ist diese Aufgabe für den Arzt auch deswegen unerfüllbar, weil die von der Politik gesetzten Rahmenbedingungen absolut kontraproduktiv sind. Der Wettbewerb der Krankenkassen, die "Chipkarten-Souveränität" des Patienten und nicht zuletzt der Wettbewerb der Ärzte untereinander müssen dazu führen, daß die von Politik und Krankenkassen in diesem Segment postulierten Wirtschaftlichkeitsreserven vorläufig reine Luftbuchungen bleiben. Die Gesundheitspolitik ist in dieser Situation gefordert, eindeutige leistungsrechtliche Vorgaben zu machen, was außerhalb einer medizinisch unbedingt notwendigen Versorgung weiterhin von den Krankenkassen finanziert und was definitiv ausgeschlossen werden soll. Fliehen die politisch Verantwortlichen dagegen weiterhin in die Illusion der vermeintlichen Ordnungskraft des Kriteriums der "medizinischen Notwendigkeit" und bleiben die leistungsrechtlichen Unklarheiten unter massiven Budgetzwängen auf diese Weise bestehen, so droht das Versorgungssystem in kürzester Zeit in einem Sumpf von Risikoselektion, Erpreßbarkeit und Günstlingswirtschaft unterzugehen.
Politik und Krankenkassen müssen endlich zur Kenntnis nehmen, daß sie gerade mit der Einführung der Budgetierung selbst maßgeblich dazu beigetragen haben, daß nicht mehr alles, was ärztlich empfehlenswert ist, den gesetzlich Krankenversicherten zur Verfügung gestellt werden kann. Die Metapher von der "medizinischen Notwendigkeit", die in jüngster Zeit gerade von Politik und Krankenkassen offensichtlich wieder einmal als "Nasenring" mißbraucht werden soll, um daran den Kassenarzt wie einen Tanzbär in der Arena des Gesundheitswesens vorzuführen, hat für diesen Zweck endgültig ausgedient.
Dr. med. Lothar Krimmel
KBV, Herbert-Lewin-Straße 3
50931 Köln

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Schmitt-Tecklenburg, Wolfgang

Budgetierung: Wenig Sachverstand

in: Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 11 (14.03.1997), Seite A-628 (Zu dem Beitrag "Ambulante Versorgung unter Budgetzwang: Was ist ,medizinisch notwendig'?" von Dr. med. Lothar Krimmel in Heft 1-2/1997)
SPEKTRUM: Leserbriefe

. . . Wer mit dem Hinweis auf das gesellschaftliche Phänomen der unterschiedlichen "Beurteilung des Stellenwertes der eigenen Gesundheit" Alkoholiker in einem Satz mit Drachenfliegern und Rennfahrern nennt, hat offensichtlich immer noch nicht realisiert, daß Alkoholabhängigkeit eine schwere psychische Erkrankung ist (übrigens die zweithäufigste nach Depressionen) und nicht mit eigener Risikoabschätzung zu tun hat.
Es ist schon ärgerlich genug, daß die Medien wenig sensibel und eher sensationell alljährlich den neuerlichen deutschen "Weltrekord" im Pro-Kopf-Alkoholkonsum vermelden. Wenn nun auch Mediziner in einem Fachorgan den Herren nach dem Mund reden, die den Konsum von Alkohol tolerieren und fördern, die Opfer, nämlich die Erkrankten, aber in eine selbstverschuldete Ecke stellen, beweisen sie wenig Sachverstand . . .
Wolfgang Schmitt-Tecklenburg, Arbeitskreis Alkohol in der Freien Hansestadt Bremen, Osterdeich 63, 28203 Bremen

 

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Budgetierung: Untauglicher Begriff

in: Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 11 (14.03.1997), Seite A-626 (Zu dem Beitrag "Ambulante Versorgung unter Budgetzwang: Was ist ,medizinisch notwendig'?" von Dr. med. Lothar Krimmel in Heft 1-2/1997)
SPEKTRUM: Leserbriefe

. . . Mir scheint, der Begriff ist insgesamt untauglich, um eine Grenze zu markieren, hinter die wir unter keinen Umständen zurückgehen wollen. Dieser Begriff geht von einem ethischen Konsens im Sinne eines Axioms aus. Es gibt diesen Konsens nicht, er ist natürlich auch kein Axiom. Das Leben des Menschen steht vielfältig zur Disposition, auch in unserer Gesellschaft . . . Wenn ich einen dementen Parkinson-Patienten so weit medikamentös einstelle, daß seine alte Ehefrau die Handgriffe der täglichen Pflege verrichten kann, kann man das, ist die Ethik erst aus dem Elfenbeinturm, mit gleicher Berechtigung als "medizinisch zwingend notwendig" oder als "therapeutischen Luxus" bezeichnen. Die Richtschnur für die Formulierung steht in "Abhängigkeit der Behandlungsspielräume von den finanziellen Ressourcen". In der Situation in Hessen im Herbst 1996 durfte ich diese Behandlung noch als "medizinisch zwingend notwendig" durchführen, wofür ich froh und dankbar bin. Wenn für diese nicht unbeträchtlichen Kosten zum Beispiel ein jugendlicher Patient keinen Dialyseplatz bekommen hätte, sähe die Beurteilung fix anders aus, wie Sie in Ihrem Artikel ja auch skizzieren: Ab wann ist jemand "hochbetagt", so daß man "auch hierzulande . . . die Grenze der ethischen Vertretbarkeit einer Verweigerung von Behandlungsansätzen unter dem Budgetdruck des Jahres 1996 enger" ziehen muß als bisher? Wenn wir hoffen, daß wir irgendwann mit dem Rücken an der Wand stehen, so daß man uns nicht weiter zurückdrängen kann, irren wir! Wir sind nur Berater und verwalten so viel Kapital im Sinne der "Gesundheit", wie uns "der Versicherte" als Auftraggeber in die Hand gibt. Keinen Pfennig mehr.
Der Begriff "medizinisch dringend notwendig" erscheint vollständig untauglich, er ist die Wand, die unser Zurückgedrängtwerden nicht limitieren wird. Das ist furchtbar bitter. In Ihrem Artikel gebrauchen ja auch Sie das fürchterliche Wort "Triage". Ich kann sagen: "Das Ei ist faul", ich kann kein frisches legen. Ob eine ärztliche Ethikkommission Richtlinien für eine Hierarchie medizinischer Wirklichkeit aufstellen sollte? Ob wir einen "Preis-Leistungs-Katalog" entwikkeln? Vielleicht werden damit ohnehin bald die Krankenkassen anfangen . . .
J. D. Fuhr, Die Schmittenhöfe 25, 34537 Bad Wildungen
J. D. Fuhr

 

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Budgetierung: Anonym

in: Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 11 (14.03.1997), Seite A-626 (Zu dem Beitrag "Ambulante Versorgung unter Budgetzwang: Was ist ,medizinisch notwendig'?" von Dr. med. Lothar Krimmel in Heft 1-2/1997)
SPEKTRUM: Leserbriefe

Die Redaktion veröffentlicht keine ihr anonym zugehenden Zuschriften, auch keine Briefe mit fingierten Adressen. Alle Leserbriefe werden vielmehr mit vollem Namen und voller Anschrift gebracht. Nur in besonderen Fällen können Briefe ohne Namensnennung publiziert werden - aber nur dann, wenn intern bekannt ist, wer geschrieben hat. DÄ

 

Andere Aufsätze

Hesse, Eberhard; Lichte, Thomas; Sturm, Eckart

Kooperation beim Ressourceneinsatz im Medizinsystem

in: Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 23 (07.06.1996), Seite A-1524
THEMEN DER ZEIT: Aufsätze

Einer der Gründe, warum das Gesundheitswesen in der Bundesrepublik Deutschland seine volle Effizienz noch nicht entfaltet, ist darin zu suchen, daß bisher nur die Möglichkeiten des Medizinsystems eingesetzt werden, ohne die umfangreichen Ressourcen der Patienten genügend zu mobilisieren. Dies erfordert eine eindeutige Aufgabenverteilung und eine verstärkte Kooperation zwischen Allgemein-, Gebiets-, Krankenhausärzten, Gesundheitsberufen und Gruppenselbsthilfe.


Krankheit entwickelt sich meist als langjähriger Prozeß (Mi-chael Balint) multifaktoriell, einerseits durch verschiedenartige äußere Schädigungen (Erreger, Noxen, Traumen, Konflikte, einschneidende Lebensereignisse), andererseits durch die "innere" Reaktion des Menschen aufgrund seiner genetischen Disposition und seiner lebenslangen Persönlichkeitsentwicklung.
Verlauf und Heilungschancen einer Krankheit sind somit abhängig sowohl von Art und Umfang der äußeren Schädigung (Spur 1) als auch von Reaktions- und Verhaltensweisen des Patienten (Spur 2). Ärztliche Diagnostik sollte deshalb in beiden "Spuren" (Brouwer) nach pathogenetischen Faktoren suchen, um den individuellen Hilfebedarf zu ermitteln. Den beiden Ursachenbereichen Spuren 1 und 2 entsprechen zwei Ressourcenbereiche, in denen der Arzt die für jeden Kranken indizierten therapeutischen Ansatzmöglichkeiten findet. Er setzt in der Praxis das Wissen über die Ressourcen der Medizin und die Informationen über die Ressourcen des Pa- tienten in spezielle und allgemeine Leistungen um (Tabelle 1). Spezialisten (Gebietsärzte) werden fast ausschließlich mit den Krankheiten ihres Fachgebietes konfrontiert. In der Behandlung dieser Erkrankungen können sie große Erfahrungen sammeln. Die Ressourcen der Gebietsärzte entstammen der gehäuften und wiederholten Beobachtung gleicher Krankheiten sowie bewährter Therapieverfahren. Sie werden durch wissenschaftliche Überprüfung validiert und in der Praxis als spezielle Leistungen angewendet (Spur 1).
Demgegenüber werden Hausärzte (Allgemeinärzte, allgemeinärztlich tätige Internisten und Pädiater) überwiegend von denselben Patienten wegen ganz unterschiedlicher Gesundheitsstörungen konsultiert (Eberhard Hesse, 1992). Dadurch lernen sie diese Patienten besonders gut kennen. Sie erwerben große Erfahrung, wie unterschiedlich jeder Patient "seine" Krankheiten bewältigt und welche eigenen Ressourcen er dafür einsetzt. Allgemeinärzte erarbeiten mit ihren Patienten die Fähigkeit, eigene Ressourcen zu mobilisieren (Spur 2).
Aufgrund der Langzeitbeobachtung und umfangreicher Informationen über ihre Patienten können Hausärzte die zur Krankheitsentstehung beitragenden Teilursachen aus der somatischen, psychischen, sozialen und menschlichen Dimension meist sehr gut einschätzen (Eckart Sturm, 1983). Aus diesen diagnostischen Ressourcen gewinnen sie Ansatzpunkte für eine maßgeschneiderte Individualtherapie, die dem Hilfebedarf des einzelnen ziemlich genau entspricht. Allerdings benötigen Hausärzte dazu die Mitwirkung gemeindenaher Netzwerke, anderer Gesundheitsberufe und der Gruppenselbsthilfe (Eberhard Hesse, 1996).
Über die Bedeutung der beiden sich ergänzenden Ressourcenbereiche und der Aufgabenverteilung haben weder Ärzte noch Patienten eindeutige Vorstellungen. Hier liegt auch ein Grund für die ungerichtete Anspruchshaltung der Patienten und die berufliche Unzufriedenheit unter den Ärzten. Wie der Ressourcenbereich 1 durch Spur 2 ergänzt und wie die Aufgaben besser verteilt werden könnten, ist in Tabelle 2 dargestellt.
Allgemeine Leistungen sind nicht auf Krankheiten, sondern auf den einzelnen Patienten bezogen. Sie sollen bei Gesunden und Kranken Gesundheitsbewußtsein wecken und ihnen helfen, gesundheitsfördernde Maßnahmen selbständig durchzuführen sowie eigene Ressourcen einzusetzen (Eberhard Hesse, 1986). "Das hohe Ausmaß der Selbsthilfe und der Hilfe im Familien- und Bekanntenkreis erscheint deshalb von Vorteil, weil auch ein noch so gut und breit ausgebautes Medizinsystem nicht in der Lage wäre, diesen Problemumfang zu bewältigen."*
Grundlegende allgemeine Leistungen werden von allen Ärzten erbracht:
l Kontakt- und Beziehungsaufbau zwischen Patient und Arzt;
l Wahrnehmung von Gesundheitsstörungen;
l Information des Patienten über gesundheitsrelevante Fragen.
Differenzierte allgemeine Leistungen erfordern Umfeld- und Langzeitkenntnisse über den Patienten; sie sind deshalb vorwiegend von Hausärzten zu erbringen:
l Motivierung zu Verhaltensänderungen;
l Auffinden und Bearbeiten von Widerstand;
l Hilfe zur Selbsthilfe;
l Unterstützung bei der Krankheitsbewältigung;
l Sicherstellung der Hauskrankenpflege;
l Begleitung beim Sterben.
Die "Instrumente" für die Vermittlung allgemeiner Leistungen sind Gespräch und Hausbesuch. Sie setzen eine patientenorientierte Grundeinstellung voraus: Verständnis, Empathie und offene Zuwendung zum Patienten. Der Haus- und Familienarzt entspricht damit den Erwartungen der Patienten auch im psychosozialen Bereich (Carol P. Herbert et al., 1986, Doris Weinhold, 1990).
Jeder Patient benötigt Hilfeleistung aus beiden Ressourcenbereichen in unterschiedlichem Umfang. Um sie dem individuellen Hilfebedarf entsprechend gezielt und richtig dosiert erbringen zu können, sind in einem arbeitsteiligen Gesundheitswesen gute Kooperation und genaue Absprache erforderlich. Dabei ist jedoch eine Effizienzsteigerung nur zu erreichen, wenn die Tätigkeit der Haus- und Gebietsärzte optimal ineinandergreift. In Zukunft werden beide auf Leistungen verzichten, die der andere aufgrund der besseren Voraussetzungen qualifizierter erbringen kann und zu denen dieser den besseren Zugang besitzt. Voraussetzung dafür sind Erarbeitung und Kompetenzvermittlung im Ressourcenbereich 2, definierte Aufgabenverteilung sowie funktionierende Kooperationsformen.
Anschrift für die Verfasser:
Dr. med. Eberhard Hesse
Facharzt für Allgemeinmedizin
Lehrbeauftragter für Allgemeinmedizin der Universität Münster
Bahnhofstraße 26
28816 Stuhr

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Wahl, Stephan

Kooperation: Schwer verständlich

in: Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 28-29 (15.07.1996), Seite A-1866 (Zu dem Beitrag "Kooperation beim Ressourceneinsatz im Medizinsystem" von Dr. med. Eberhard Hesse, Dr. med. Thomas Lichte und Prof. Dr. med. Eckart Sturm in Heft 23/1996)
SPEKTRUM: Leserbriefe

Der Artikel der Kollegen ist für mich etwas schwer verständlich, stellt er doch "ärztliches Allgemeingut" ganz verdreht, eben in bestimmten Spuren, dar. Eigentlich sollte man davon ausgehen, daß derartige Denkansätze als obsolet zu den Akten gelegt wurden.
Man gewinnt den Eindruck, als ob die Kollegen die gesamte Ärzteschaft auf "Spur 6" überholen wollen. Wenn sie dann auf "Spur 10" angelangt sind, müssen sie denen auf "Spur 1 und 2" Nachhilfe geben. Ich halte es eher mit dem Gelernten und betrachte den "gesamten Menschen", und dies gerade und auch als Facharzt. Nur so fühle ich mich in der Lage, therapeutische Maßnahmen für einen Patienten festzulegen.
In diesem Sinne grüße ich alle Ärzte der Bundesrepublik, quasi von "Spur X"!
Dr. med. Stephan Wahl, Walsroder Straße 8, 29614 Soltau

 


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Bierbaum, Dr. med.

Kooperation: Fachärzte, wacht auf

in: Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 28-29 (15.07.1996), Seite A-1865 (Zu dem Beitrag "Kooperation beim Ressourceneinsatz im Medizinsystem" von Dr. med. Eberhard Hesse, Dr. med. Thomas Lichte und Prof. Dr. med. Eckart Sturm in Heft 23/1996)
SPEKTRUM: Leserbriefe

In immer neuen Variationen versuchen Interessenvertreter des BDA die Position der Allgemeinmediziner in das Zentrum der Gesundheitsversorgung zu stellen.
In der Vergangenheit beklagte man zunächst die Honorarungerechtigkeit, den höheren Arbeitsaufwand, den Chipkartentourismus, eine mangelhafte Erfüllung der Kooperationspflicht seitens der Spezialisten usw. In jüngster Zeit aber werden die Vorstöße des BDA - vermutlich durch das GSG ermutigt, welches die Stärkung einer hausärztlichen Versorgung anregt - immer schärfer. Ich erinnere an den Case-Manager, der nach unserem Kollegen Kossow prädestiniert sei, die ökonomische Verantwortung bei der Verteilung der knappen finanziellen Mittel zu übernehmen, oder an das Hausarzt-Abo in gedanklicher Kombination mit Wahltarifen der Krankenkassen ähnlich den Privatversicherern, die den freien Zugang zu Fachärzten über das Mittel der Patientenbestechung aushöhlen sollen . . . [Der Artikel schickt sich an,] den Facharzt alter Prägung auf einen Zulieferer von Zutaten zum Leipziger Allerlei der Hausärzte zu reduzieren! . . .
Dr. med. Bierbaum, Walsroder Straße 8, 29614 Soltau
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Fischer, Hans-Walter

Kooperation: Ein weiterer Spaltungsversuch

in: Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 28-29 (15.07.1996), Seite A-1865 (Zu dem Beitrag "Kooperation beim Ressourceneinsatz im Medizinsystem" von Dr. med. Eberhard Hesse, Dr. med. Thomas Lichte und Prof. Dr. med. Eckart Sturm in Heft 23/1996)
SPEKTRUM: Leserbriefe

In diesem Artikel wird erneut der Versuch gemacht, die Spaltung der Ärzteschaft zu vertiefen. Es wird ausgeführt, daß "Spezialisten vorwiegend mit Krankheiten ihres Fachgebietes konfrontiert werden". Diagnostik und "bewährte Therapieverfahren" werden als "spezielle Leistungen" eingeordnet. Hausärzte wiederum "erwerben große Erfahrung, erarbeiten die Fähigkeit, eigene Ressourcen des Patienten zu mobilisieren". Nur sie können anscheinend "Teilursachen aus somatischen, psychischen, sozialen und menschlichen Dimensionen einschätzen".
Diese Aussagen werden pointiert in einer Tabelle zusammengefaßt, in der es heißt, daß Spezialisten dieselben Krankheiten, Allgemeinärzte dieselben Patienten behandeln.
Mit solchen Aussagen sollen wohl alle Gebietsärzte (ähnlich wie bereits der Laborarzt) zu Datenlieferanten reduziert werden. Ich weise die Unterstellung entschieden zurück, daß ich nur Krankheiten und nicht Patienten behandele. Therapieverfahren sind nie als "spezielle Leistungen" zu sehen, die willkürlich eingesetzt werden können. Jeder Therapeut muß seine Maßnahmen in das übrige Behandlungskonzept integrieren können. Wir Ärzte sollten doch zumindest in grundsätzlichen Bereichen der Beziehungen zu Patienten einig sein. Insofern halte ich den Artikel für wenig hilfreich, die gemeinsamen Probleme der Ärzteschaft zu bewältigen.
Dr. med. Hans-Walter Fischer, Windmühlenstraße 2, 27283 Verden

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Flenker, Ingo; Kloiber, Otmar

Grenzen des Wettbewerbs im Gesundheitswesen

in: Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 38 (20.09.1996), Seite A-2381
THEMEN DER ZEIT: Aufsätze

Die Klagen über Finanzierungsprobleme unseres Systems der gesundheitlichen Versorgung und über die sogenannte "Kostenexplosion" im Gesundheitswesen ziehen sich seit Jahren wie ein roter Faden durch die gesundheitspolitische Dikussion. Angesichts der wachsenden Bedeutung globaler Märkte gewinnt auch die Frage der Lohnnebenkosten, die Verteuerung des Faktors Arbeit durch steigende Sozialversicherungsbeiträge an Gewicht. Unbestritten ist: Wir sind mit dem Problem steigender Beitragssätze der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) konfrontiert. Die seit 1977 in immer kürzeren Intervallen und mit zunehmender Regelungsdichte vorgenommenen Kostendämpfungsmaßnahmen der Politik haben sich letztendlich nicht als stabilisierend erwiesen. Liegt das Heil nun, wie vielfach empfohlen, in der Ausrichtung des Gesundheitswesens auf "mehr Wettbewerb"?


Die aktuelle gesundheitspolitische Debatte wird als Grundsatzdebatte mit dem Anspruch geführt, ein langfristig tragfähiges Konzept zu entwickeln. Die Kostendämpfungsgesetzgebung der vergangenen Jahre und damit auch der staatliche Primat der Steuerung des Gesundheitswesens gelten als gescheitert. Das offensichtliche Versagen der Kostendämpfungspoli-tik führt nun allerdings nicht dazu, die Gründe für dieses Versagen zu analysieren und das Paradigma der sogenannten "Kostenexplosion" - die es in Wirklichkeit nie gegeben hat! - zu überprüfen. Tatsache ist: Der prozentuale Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttosozialprodukt blieb seit 1975 relativ konstant. Dies ist vor dem Hintergrund der rasanten medizinischen Fortschritte und der demographischen Entwicklung, die zu einer nachhaltigen Leistungsverdichtung und intensivierung in der gesundheitlichen Versorgung geführt haben, um so beachtlicher.
Als eigentliches Problem unserer sozialen Sicherungssysteme, vor allem aber der Krankenversicherung, erweisen sich nicht steigende Ausgaben, sondern vielmehr sinkende Einnahmen. Die Lohnquote am Volkseinkommen ging dramatisch zurück. Lag sie 1982 noch bei 76,9 Prozent, so war 1993 ein Wert von nur 72,1 Prozent zu verzeichnen. Ursache ist die hohe Arbeitslosigkeit und neuerlich auch das sinkende Individualeinkommen der Erwerbstätigen, die sich natürlich auch auf das Beitragsaufkommen auswirken. Das Schrumpfen der Finanzierungsgrundlagen der GKV treibt die Beitragssätze in die Höhe.
Hinzu kommt, daß die Gesundheits- und Sozialpolitik selbst über Jahre hinweg "Verschiebebahnhöfe" geschaffen und die Finanzkraft der Krankenversicherung systematisch ausgezehrt hat; erinnert sei beispielsweise an das 1989 im parteiübergreifenden Konsens verabschiedete Rentenreformgesetz oder an die Belastung der GKV durch versicherungsfremde Leistungen. Aus dieser Ursachenanalyse zieht die Gesundheitspolitik jedoch keineswegs den naheliegenden Schluß, daß mehr Geld ins System muß. Das Versagen der Kostendämpfungspolitik wird vielmehr allein als Versagen der "staatlich", genauer öffentlich-rechtlich geprägten Sozialversicherung interpretiert, woraus sich die vielstimmig erhobene Forderung nach weniger Staat und mehr Wettbewerb ableitet.

Wettbewerb keine Patentlösung
Der Wettbewerb, das freie Spiel der Kräfte mit einem sich weitgehend selbst steuernden System wird als Patentlösung auch für die Probleme des Gesundheitswesens angesehen. Der Staat will sich mehr und mehr aus der ordnungspolitischen Verantwortung zurückziehen und auf das Aufstellen von Leitlinien und "Spielregeln" beschränken, innerhalb derer die Beteiligten im Gesundheitswesen als "Marktteilnehmer" agieren. Kann dieses Modell auf das Gesundheitswesen übertragen werden? Für die Gesundheitspolitik offenbar keine Frage. Sie hat das Wettbewerbsprinzip unkritisch übernommen und Kritik daran gleichsam zum "Tabu" erklärt.
Drei Dogmen beherrschen gegenwärtig die politische Diskussion:
Nur der Wettbewerb kann das Gesundheitswesen preiswerter machen.
Sozialversicherungen können im Markt miteinander konkurrieren.
Der Wettbewerb im Gesundheitswesen soll "solidarisch" sein.
Unter Ausblendung des Problems einer schrumpfenden Finanzierungsbasis unseres Gesundheitswesens richtet sich die Diskussion auf reine Kostengesichtspunkte. Wettbewerb wird als geeignetes Mittel angesehen, um Kosten zu senken. Mehr Wirtschaftlichkeit ist das Ziel bei gleichzeitiger Sicherung der medizinischen Versorgungsqualität. In Wirklichkeit - insbesondere unter den Bedingungen einer fortgesetzten Ausgabendeckelung - treibt der Wettbewerb jedoch die an der gesundheitlichen Versorgung beteiligten Kräfte und Institutionen in einen ruinösen Konkurrenzkampf um Anteile an begrenzten Ressourcen. Der hieraus entstehende Druck birgt die Gefahr in sich, daß Abstriche bei der Qualität einer Leistung in Kauf genommen werden, um weiterhin am "Markt" konkurrieren zu können. Um wettbewerbsbedingten Qualitätsverlusten wirksam entgegentreten zu können, bedürfte es deshalb verstärkter Kontrollmechanismen, die jedoch wiederum einen kostentreibenden Effekt aufweisen würden. Auf eine kurze Formel gebracht: Mehr Wettbewerb verteuert letztendlich das Gesundheitswesen. Beispielhaft veranschaulicht wird dies durch das wettbewerbsorientierte Gesundheitssystem in den USA.
Wettbewerb ist dem Gesundheitswesen systemfremd: Er ist nur dort möglich, wo ein echter Markt existiert, mit Produzenten, die Waren anbieten, und Konsumenten, die Waren nachfragen. Die Gesetzmäßigkeiten des Marktes lassen sich indes nicht auf das Gesundheitswesen übertragen. Märkte werden durch freie Angebote und freie Kaufentscheidungen geprägt. Beides gibt es in unserem Gesundheitswesen nicht. Der Patient kann nicht frei darüber entscheiden, ob er krank wird oder nicht. Krankheit erfährt der Patient als kaum steuerbares Ereignis. Der Patient verfügt somit auch nicht über die "Konsumentensouveränität", die er ansonsten beim Kauf von Konsumgütern besitzt. Die Entscheidungen, die nach einem Herzinfarkt oder Schädel-Hirn-Trauma rational getroffen werden müssen, sind kategorisch von Kaufentscheidungen, zum Beispiel vom Erwerb von Konsumgütern, abzugrenzen. Gesundheitliche Versorgung ist grundsätzlich nicht wettbewerbsfähig. Auch die Kaufentscheidung für oder gegen eine Sozialversicherung wird wohl kaum jemals "Konsumentensouveränität" erlauben. Ein Blick auf den Markt der Privaten Krankenversicherung dürfte jede Erwartung deutlich dämpfen.
Das Wirtschaftssystem der Bundesrepublik Deutschland ist aus gutem Grund als soziale Marktwirtschaft ausgestaltet, in der unternehmerischen (und individuellen) Freiheiten soziale Verpflichtungen bindend gegenübergestellt sind. Die Sozialgesetzgebung der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts, auf der auch unser heutiger Sozialstaat basiert, ist die politische Antwort auf die mit der Industrialisierung verstärkt aufkommenden und einen nachhaltigen gesellschaftlichen Wandel bewirkenden Prinzipien des Wettbewerbs und der Konkurrenz. Elementare soziale Risiken für den einzelnen wurden und werden somit solidarisch abgesichert. Weil soziale Verpflichtungen, sozialer Schutz nicht durch den Wettbewerb am Markt gewährleistet werden können, wurden die Sozialversicherungen gegründet und in einen wettbewerbsfreien Raum gestellt.
Wenn nun aber die Beteiligten des Gesundheitswesens in einen Wettbewerb geschickt werden, wie beispielsweise die gesetzlichen Krankenkassen angesichts der neuen Wahlfreiheit der Versicherten, so führt dies nur zu "Rosinenpickerei", der Ausgrenzung "schlechter Risiken" und damit einer Entsolidarisierung. Bereits bekanntgewordene Fälle, in denen Personen mit niedrigem Einkommen oder Rentner aufgefordert werden, die Kasse zu wechseln, werfen ein grelles Licht auf die Entsolidarisierungstendenzen, die dem Wettbewerb innewohnen. Wer einen "solidarischen" Wettbewerb für möglich hält, erliegt einer gefährlichen Illusion.


Leistungsangebot politisch festlegen
Zudem geraten bei einer Betrachtung der Versorgungsstrukturen des Gesundheitswesens unter reinen Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten schnell die tatsächlichen Leistungserfordernisse aus dem Blickfeld. Das Leistungsangebot der GKV darf nicht dem Wettbewerbsgedanken "geopfert" werden, sondern muß den Grundsätzen der Bedarfsgerechtigkeit und der freien Zugänglichkeit für alle Versicherten verpflichtet bleiben. Der wirtschaftliche Wettbewerb kann nicht das Steuerungsinstrument innerhalb unseres Gesundheitswesens sein, das die Verteilung und Inanspruchnahme von Leistungen regelt. Vielmehr bedarf es bei einer Begrenzung der zur Verfügung stehenden Ressourcen der politisch zu entscheidenden Festlegung, welche Leistungen solidarisch finanziert und vorgehalten werden sollen.
Aber auch innerhalb des Beziehungsgeflechtes zwischen Kostenträgern und Ärzteschaft entwickelt der Wettbewerb eine das bewährte System aushöhlende und erodierende Wirkung. Die geforderte Schaffung von mehr Vertragsfreiheit, besser geläufig unter dem griffigen Bild des "Einkaufsmodells", bewirkt keineswegs mehr Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen; Vertragsfreiheit verschärft unter dem Deckel der Budgetierung nur den Druck innerhalb des Systems, beschwört damit Leistungsrationierungen und Qualitätseinbußen herauf und bedeutet das Ende der freien Arztwahl.
Die nicht zu leugnenden Probleme der Finanzierung unseres Gesundheitswesens sind nicht mit den Prinzipien wirtschaftlichen Wettbewerbs, sondern nur mittels einer Verbesserung der Einnahmesituation wirksam zu lösen.
Als gangbarer Weg bietet sich die Ausweitung der Beitragsbemessungsgrundlagen der GKV an. Nichtlohngebundene Einkommensarten, die in immer höherem Maße zum Individualeinkommen beitragen, werden derzeit bei der Verteilung sozialer Lasten nicht berücksichtigt. Hier könnte man ebenso ansetzen wie bei der Pflichtversicherungsgrenze und der Beitragsbemessungsgrenze. Nachdrücklich gewarnt werden muß allerdings vor dem Modell eines steuerfinanzierten Gesundheitswesens. Das System der gesundheitlichen Versorgung könnte allzuleicht in die Abhängigkeit politischer Beliebigkeit und politischer Interessenlagen geraten, mit der naheliegenden Folge, daß nicht mehr der tatsächliche Versorgungsbedarf, sondern politisches Kalkül zum Steuerungselement wird. Nur die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung durch Beiträge garantiert, daß die Mittel direkt und ohne Zugriff durch die Politik für die gesundheitliche Versorgung eingesetzt werden.
Aus den Überlegungen zu den Grenzen des Wettbewerbs im Gesundheitswesen lassen sich die folgenden drei Thesen entwickeln:
Das System der Beitragsbemessung in den Sozialversicherungen muß im Sinne einer Verbreiterung der Finanzierungsgrundlagen grundsätzlich reformiert werden. Bei der Beitragsbemessung sind alle Einkünfte, also nicht nur die lohngebundenen, zu berücksichtigen. Sowohl die Pflichtversicherungs- als auch die Beitragsbemessungsgrenze müssen neu gestaltet werden.
Das Leistungsangebot der Sozialversicherung muß den jeweiligen Zielen entsprechen. Die Ausgabensteuerung in unserem Gesundheitswesen darf weder von Marktmechanismen noch von politischen Opportunitäten - z. B. versicherungsfremden Leistungen - abhängen, sondern muß allein durch die Notwendigkeit und Angemessenheit von Leistungen im Sinne des abzudeckenden Lebensrisikos bestimmt werden.
Nicht der finanzielle Wettbewerb, sondern ein qualitativer Wettbewerb, der den Erhalt und die weitere Verbesserung der Patientenversorgung zum Ziel hat, ist für die Entwicklung des Gesundheitswesens notwendig.
Anschrift für die Verfasser:
Dr. med. Ingo Flenker
Präsident der Ärztekammer
Westfalen-Lippe
Wittener Straße 56
45549 Sprockhövel

 

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Beske, Prof. Dr. med. Fritz; Hallauer, Dr. med. Johannes F.; Kern, Axel Olaf; Dipl.-Betriebswirt

Reform des Gesundheitswesens: Die Meinung der Ärzte

in: Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 36 (05.09.1997), Seite A-2245
THEMEN DER ZEIT: Aufsätze

Ergebnisse einer Leserumfrage (I); Thema heute: "Rationalisierung"
Fritz Beske, Johannes F. Hallauer, Axel Olaf Kern
Auf die Leserumfrage "Wo würden Sie reformieren?" (Heft 44/1996) haben mehr als 4 500 Leserinnen und Leser geantwortet. Gefragt war nach den Lesermeinungen zu den Themen Rationalisierung, Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung, Selbstbeteiligung in der Gesetzlichen Krankenversicherung, Rationierung. Das Deutsche Ärzteblatt und das Institut für Gesundheits-System-Forschung Kiel, die das Projekt durchführen, danken allen Ärztinnen und Ärzten, die sich beteiligt haben. Die Auswertung der Leserumfrage ist von dem Institut für Gesundheits-System-Forschung Kiel übernommen worden. Das Ergebnis der Auswertung wird beginnend mit diesem Heft veröffentlicht. Eine Gesamtauswertung mit ergänzenden Informationen erscheint zu einem späteren Zeitpunkt in der Schriftenreihe des Kieler Instituts. DÄ
An der Leserumfrage zur Reform des Gesundheitswesens haben sich 951 Ärztinnen und 3 575 Ärzte, insgesamt 4 575 Personen, beteiligt. 49 Antworten waren ohne Geschlechtsangabe. Damit betrug der Anteil der Ärzte 79 Prozent und der Anteil der Ärztinnen 21 Prozent der Antworten.
Viele haben von dem Angebot Gebrauch gemacht, über den angebotenen Platz hinaus zu antworten. In vielen Antworten wurde expressis verbis die Möglichkeit begrüßt, als Individuum zur Weiterentwicklung unseres Gesundheitswesens Stellung zu nehmen.
Rund 11 Prozent der Antworten entfallen auf die Altersgruppe der unter 35jährigen und rund 13 Prozent auf die Altersgruppe der 35- bis unter 40jährigen. Die 40- bis unter 50jährigen nehmen einen Anteil von 33,4 Prozent ein. 29 Prozent der Antworten kamen von Ärzten in der Altersgruppe von 50 bis unter 60 Jahren. Die 60- bis unter 66jährigen bilden einen Anteil von 6,5 Prozent, die 66-jährigen und älteren von 7,0 Prozent. Sowohl Männer als auch Frauen sind in den Altersgruppen bis unter 40 Jahre unterrepräsentiert. Die übrigen Altersgruppen dagegen sind überrepräsentiert. !
l Insgesamt zeigt sich, daß sich im wesentlichen berufstätige Ärztinnen und Ärzte im Alter zwischen 40 und 65 Jahren an der Umfrage beteiligten. Rund 70 Prozent der Antworten sind von Personen dieser Altersgruppe.
Mit 61 Prozent Antworten von niedergelassenen Ärzten liegt der Anteil dieser Gruppe (Grafik 1) deutlich über dem Anteil der nicht niedergelassenen Ärzte von rund 36 Prozent. Die Zahl der im Krankenhaus tätigen Ärzte entspricht rund 48 Prozent; Krankenhausärzte sind jedoch nur 24 Prozent der Teilnehmer an der Umfrage. Die höhere Beteiligung von niedergelassenen Ärzten könnte sich damit erklären, daß diese Arztgruppe von den Veränderungen im Gesundheitswesen stärker betroffen ist als Ärzte in anderen Tätigkeitsbereichen. Außerdem ist die Beteiligung jüngerer Ärzte an der Leserumfrage relativ gering. Jüngere Ärzte sind jedoch überwiegend im Krankenhaus tätig.
Hinsichtlich der Fachrichtung der niedergelassenen Ärzte ergibt sich ein weitgehend repräsentatives Bild, bezogen auf die Verteilung der fachärztlichen Praxen in Deutschland. Nachfolgend die Meinungen der befragten Ärzte zum Themenkreis Rationalisierung. In den später folgenden Beiträgen werden die Lesermeinungen zu den Themen
l Leistungskatalog
l Selbstbeteiligung
l Rationierung vorgestellt.
Gibt es Rationalisierungsreserven?
Nach Auffassung von 94,9 Prozent der Antwortenden gibt es Rationalisierungspotentiale im Gesundheitswesen. Lediglich 4,6 Prozent verneinen diese Frage (Grafik 2). Diese Auffassung zeigt sich in allen Altersgruppen. Grafik 3 enthält die positiven Antworten nach Altersschichtung. Insgesamt ergeben sich nur geringe Unterschiede. Die höchsten Werte zeigen mit über 96 Prozent die unter 35jährigen und die 50- bis 59jährigen Ärzte, die niedrigsten mit 92 Prozent die Altersgruppe 66 und älter. Der Tätigkeitsbereich der Ärzte hat nur einen geringen Einfluß auf die Auffassung zu Rationalisierungsreserven. Die Antworten schwanken lediglich zwischen 94,3 Prozent für niedergelassene Ärzte und 96,9 Prozent für Ärzte, die in der Pharmaindustrie tätig sind.
1 Wie groß sind die Rationalisierungsreserven?
Ob Rationalisierungsreserven groß, wesentlich oder nur gering sind, wird differenziert beantwortet. Grafik 4 stellt die Einschätzung über das Vorhandensein von Rationalisierungsreserven dar. 10,6 Prozent sehen nur geringe oder überhaupt keine Rationalisierungsreserven. Die meisten Antworten (64,4 Prozent) schätzen die Rationalisierungsreserven als wesentlich ein, ein Viertel sieht große Rationalisierungsreserven. Der Anteil der "gering" Antwortenden ist für Ärztinnen und Ärzte etwa gleich. Ärzte sehen jedoch mit 26,7 Prozent große Rationalisierungsreserven häufiger als Ärztinnen, die nur zu 18,1 Prozent die Rationalisierungsreserven als groß bezeichnen.
Die Einschätzung der Rationalisierungsreserven nach Altersgruppen zeigt für die Altersgruppen der 40- bis 49jährigen und der 50- bis 59jährigen mit 26,5 Prozent die häufigste Einschätzung großer Rationalisierungsreserven. Insgesamt zeigen die Antworten keine wesentlichen Unterschiede nach Altersgruppen.
Je nach Tätigkeitsbereich ergeben sich unterschiedliche Antworthäufigkeiten für die Einschätzung von Rationalisierungsreserven (Grafik 5). Ärzte im Öffentlichen Gesundheitsdienst und niedergelassene Ärzte geben große Rationalisierungsreserven mit 31,7 beziehungsweise 26,4 Prozent am häufigsten an. Ärzte in Rehabilitations- und Kureinrichtungen und Krankenhausärzte sehen mit 16,5 beziehungsweise 20,8 Prozent große Rationalisierungsreserven seltener. Die Einschätzung geringer oder nicht vorhandener Rationalisierungsreserven geben Ärzte aus der Pharmaindustrie und dem Öffentlichen Gesundheitsdienst mit 6,5 beziehungsweise 9,6 Prozent an. Dies ist geringer als die Einschätzung niedergelassener Ärzte, die zu 11 Prozent nur geringe Rationalisierungsreserven sehen. Bei den Antworten der niedergelassenen Ärzte fällt auf, daß nur 8,7 Prozent der Allgemeinärzte Rationalisierungsreserven als gering oder als nicht vorhanden betrachten, während die anderen Gebietsärzte häufiger nur geringe oder keine Rationalisierungsreserven sehen (10,3 bis 23,2 Prozent). Umgekehrt sehen Allgemeinärzte mit 28,2 Prozent überdurchschnittlich häufig große Rationalisierungsreserven. Wo stecken die Reserven?
Grafik 6 stellt die Häufigkeit der Antworten für verschiedene Bereiche des Gesundheitswesens getrennt nach Geschlecht dar. Am häufigsten wird mit 81,2 Prozent das Kurwesen genannt. Im Krankenhaus sehen 76,8 Prozent Rationalisierungspotentiale. Die dritthäufigste Nennung ist mit 65,8 Prozent die Arzneimittelversorgung. Die ambulante Versorgung wird von 54,7 Prozent genannt. Der Bereich der Heilmittel wird von der Hälfte angegeben. Hilfsmittel rangieren mit 44,9 Prozent am unteren Ende. Bei der Rehabilitation werden mit 44,5 Prozent die geringsten Rationalisierungspotentiale vermutet. Die Rangfolge Kurwesen, Krankenhaus, Arzneimittelversorgung und ambulante Versorgung ist bei Ärztinnen und Ärzten identisch. Ärztinnen haben auf diese Frage, die Mehrfachantworten zuließ, durchschnittlich weniger Bereiche genannt als Ärzte. Während Ärzte zu der Frage nach den verschiedenen Bereichen mit Rationalisierungspotentialen durchschnittlich 4,5 Angaben gemacht haben, wurden von Ärztinnen durchschnittlich nur vier Nennungen abgegeben.
1 Angaben nach Alter
Je nach Alter ergeben sich Unterschiede.
Das Kurwesen wird mit durchschnittlich 81,3 Prozent von allen Altersgruppen am häufigsten als ein Bereich mit Rationalisierungspotentialen gesehen. Die Altersgruppen der Ärzte unter 40 Jahren nennen das Kurwesen zwischen 76,3 und 79 Prozent geringfügig seltener als Ärzte von 50 bis 65 Jahren, von denen zwischen 83,3 und 83,7 Prozent diesen Bereich nennen.
Das Krankenhaus wird von allen Altersgruppen am zweithäufigsten genannt. Zwischen 65,8 und 75,3 Prozent der Ärzte über 60 Jahre nennen diesen Bereich als Rationalisierungspotential, Ärzte zwischen 35 und 50 Jahren mit 78,5 bis 79,3 Prozent.
Von allen Altersgruppen wird die Arzneimittelversorgung an dritter Stelle genannt, von 68,4 bis 69,9 Prozent der jüngeren Ärzte unter 40 Jahren häufiger als von Ärzten über 60 Jahre mit 52,5 bis 62 Prozent.
Die ambulante Versorgung folgt bei allen Altersgruppen an vierter Stelle. Die Altersunterschiede sind hier nur gering ausgeprägt. Bei Heil- und Hilfsmitteln, die je nach Altersgruppe auf Rang fünf bis sieben liegen, zeigt sich, daß jüngere Ärzte beide Bereiche seltener nennen als Ärzte zwischen 40 und 65 Jahren. Die Rehabilitation wird von allen Altersgruppen an sechster oder siebenter Stelle genannt, von Ärzten unter 40 Jahren mit 37 bis 42 Prozent seltener als von Ärzten über 50 Jahre mit 45,3 bis 47,0 Prozent.
1 Angaben nach Tätigkeitsbereich
Von Interesse sind die Angaben zu Rationalisierungsbereichen nach Tätigkeitsgebiet des antwortenden Arztes.
Das Kurwesen wird am häufigsten von Internisten und anderen Gebietsärzten genannt, gefolgt von Krankenhausärzten und Allgemeinärzten. Ärzte aus Rehabilitations- und Kureinrichtungen nennen diesen Bereich seltener. Im Krankenhaus werden Rationalisierungspotentiale vor allem von Ärzten in der Pharmaindustrie gesehen, gefolgt von Allgemeinärzten und anderen Gebietsärzten. Krankenhausärzte und Ärzte in Rehabilitations- und Kureinrichtungen und im Öffentlichen Gesundheitsdienst sehen Rationalisierungspotentiale im Krankenhaus seltener.
Die Arzneimittelversorgung wird vornehmlich von Internisten und Ärzten in Rehabilitations- und Kureinrichtungen sowie von Ärzten im Öffentlichen Gesundheitsdienst genannt. Allgemeinärzte, Ärzte der Pharmazeutischen Industrie und Krankenhausärzte sehen hier weniger Rationalisierungspotentiale.
Die ambulante Versorgung wird von Ärzten aus dem Rehabilitations- und Kurbereich, von Krankenhausärzten und von Ärzten im Öffentlichen Gesundheitsdienst häufiger genannt als von Allgemeinärzten, Internisten und anderen niedergelassenen Gebietsärzten. Bei Heilmitteln werden Rationalisierungspotentiale vor allem von Internisten und Allgemeinärzten genannt. Andere niedergelassene Gebietsärzte und Krankenhausärzte nennen diesen Bereich seltener. Für Hilfsmittel ergibt sich ein ähnliches Bild.
Die Rehabilitation, insgesamt an letzter Stelle genannt, wird vor allem von Internisten aufgeführt. Krankenhausärzte und nichtinternistische niedergelassene Gebietsärzte nennen diesen Bereich nicht so häufig. Fazit: Es gibt noch Rationalisierungsreserven
Die überwiegende Mehrheit der Ärzte, die sich an der Leserumfrage beteiligt haben, ist der Auffassung, daß Rationalisierungsreserven im Gesundheitswesen bestehen. Zweifel am Vorhandensein von Rationalisierungsreserven haben weniger als fünf Prozent. Die Rationalisierungsreserven werden dabei von zwei Dritteln als wesentlich, von einem weiteren Viertel sogar als groß eingeschätzt. Der Rationalisierung im Gesundheitswesen kommt damit nach dem Ergebnis dieser Leserumfrage für die Reform unseres Gesundheitswesens eine herausragende Bedeutung zu. Diese Einschätzung wird von allen ärztlichen Altersgruppen sowie von Ärzten aus den verschiedensten Tätigkeitsbereichen ohne wesentliche Unterschiede geteilt. Differenziert fällt die Nennung von Bereichen aus, in denen Rationalisierungsreserven gesehen werden. Mit großer Übereinstimmung werden, unabhängig von den Kostenanteilen, welche die verschiedenen Bereiche im Gesundheitswesen beanspruchen, an erster Stelle das Kurwesen und an zweiter Stelle das Krankenhaus genannt. Der Rehabilitationsbereich, der in der öffentlichen Diskussion häufig zusammen mit dem Kurwesen genannt wird, steht erst an siebenter Stelle. Rationalisierungspotentiale in der Arzneimittelversorgung werden mit zwei Drittel der Antwortenden an dritter Stelle genannt. Die Arzneimittelversorgung wird häufiger als Möglichkeit von Rationalisierungsreserven gesehen als die Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln. In der ambulanten Versorgung wird dagegen nur von etwa der Hälfte ein Einsparpotential gesehen, seltener als bei Kuren, Krankenhaus und Arzneimitteln. Insgesamt zeigen die Antworten für das Kurwesen eine breite Übereinstimmung in der Einschätzung von Rationalisierungsmöglichkeiten, gefolgt von den Bereichen Krankenhaus, Arzneimittel und ambulante Versorgung.
Die Altersverteilung der Antworten zu Rationalisierungsmöglichkeiten in verschiedenen Bereichen läßt erkennen, daß ältere Ärzte das Krankenhaus und die Arzneimittelversorgung seltener nennen als der Durchschnitt der Ärzte. Bei jüngeren Ärzten werden Rationalisierungspotentiale im Bereich der Heil- und Hilfsmittel sowie im Rehabilitations- und Kurwesen unterdurchschnittlich häufig genannt. Hier dürfte die jeweilige Berufserfahrung für diese Bereiche eine Rolle spielen.
Die Auswertung der Antworten nach Tätigkeitsbereichen der Ärzte zeigt, daß Rationalisierungspotentiale vor allem in Bereichen gesehen werden, in denen der Antwortende nicht selbst tätig ist. So sehen niedergelassene Ärzte Rationalisierungspotentiale im Krankenhaus häufiger als die dort tätigen Ärzte. Umgekehrt geben Krankenhausärzte Rationalisierungspotentiale häufiger in der ambulanten Versorgung an, als dies bei niedergelassenen Ärzten der Fall ist. Die im Kurwesen tätigen Ärzte sehen am wenigsten Rationalisierungspotentiale im Kurwesen. Für niedergelassene Ärzte, Krankenhausärzte und Ärzte im Öffentlichen Gesundheitsdienst steht das Kurwesen dagegen an erster Stelle für Rationalisierungspotentiale. Das Krankenhaus wird sowohl von niedergelassenen Ärzten als auch von Krankenhausärzten an zweiter Stelle, die Arzneimittelversorgung an dritter Stelle genannt. Die ambulante Versorgung steht bei niedergelassenen Ärzten an fünfter Stelle, bei allen anderen Arztgruppen an vierter Stelle.
Der Rationalisierung kommt bei den Reformbemühungen im Gesundheitswesen nach dem Ergebnis dieser Leserumfrage eine besondere Bedeutung zu.


Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1997; 94: A-2245-2249
[Heft 36]


Anschrift der Verfasser
Prof. Dr. med. Fritz Beske, MPH
Dr. med. Johannes F. Hallauer
Axel Olaf Kern, Dipl.-Volkswirt, Dipl.-Betriebswirt (BA)
Institut für Gesundheits-SystemForschung Kiel
Weimarer Straße 8
24106 Kiel

 

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Baier, Prof. Dr. med. Horst

Gegen Staats- und Körperschaftszwang: Ärzte und Patienten als Kunden des Gesundheitswesens

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 15 (10.04.1998), Seite A-876
THEMEN DER ZEIT: Aufsätze

Das Gesundheitssystem steckt im Dilemma zwischen Verknappung der Finanzen und Ausweitung des Leistungsangebots. Die Zukunft gehört der berufs- und betriebsrechtlichen Freiheit zu neuen Organisationsund Leistungsformen.
Das Dilemma des Sozialstaates ist heute, daß einerseits die Staatsverschuldung abgebaut und die Verwaltung verschlankt werden soll. Andererseits ist aber die Medizin- und Pharmaforschung durch industriepolitische und finanzwirtschaftliche Maßnahmen zu fördern, die Wirtschaftskraft und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu stützen, die Wohlfahrt und Wohlbefindlichkeit der Bürger zu steigern. Da der Staat jedoch bei den sozialen Sicherungssystemen traditionellen Modellen folgt, löst er das Dilemma nicht. Er gerät vielmehr unter den Druck der Folgen seiner Fehlsteuerungen wie der Wirkungen der Marktkräfte.
Der Staat, interpretiert als Sozialstaat, betreibt seit 20 Jahren die Rationalisierung des Gesundheitswesens mit der Normierungskraft seiner Gesetze, mit der Regulierungsmacht seiner Sozial- und Gesundheitsverwaltung - einschließlich seiner parastaatlichen Exekutivorgane in Gestalt der Körperschaften der Kassenärzte und Krankenkassen. Unter dem Diktat der Maastricht-Kriterien ist der Staat gehalten, hier die Staatsverschuldung abzubauen und dort Qualitätsverbesserungen zur Wohlfahrtssteigerung zu fördern. Finanzwirtschaftlich ist seine Lösung gegenwärtig, den Konsum über die Mehrwertsteuer abzuschöpfen und die einkommensstärkeren Mittelschichten zu belasten, vorneweg die freien Berufe. Steuerlich entlastet werden dagegen die einkommensschwächeren Sozialschichten - zur Erhaltung des sozialen Friedens, und die Unternehmen - zur Stärkung ihrer europäischen und globalen Wettbewerbsfähigkeit.
Gleichwohl wird er dem Dilemma seiner Wirtschafts- und Technikabhängigkeit nicht entkommen, das ihn in die Leistungskontrolle und Ausgabenminderung der immer teureren Gesundheitsgüter hineintreibt und ihn zur Qualitätssteigerung der immer besseren Gesundheitsangebote antreibt. Die Folge ist faktisch eine zunehmende Rationierung der Leistungen auf legislativem, administrativem und nicht zuletzt massenmedialem Weg. Sie soll das Wachstum des Sozialbudgets bremsen und es doch offenhalten für den Finanzbedarf des medizinischen Fortschritts.
Zwang zur Rationalisierung und Rationierung
Die Körperschaften des Gesundheitswesens versuchen das Dilemma zwischen der Verknappung der Finanzmittel und der Ausweitung des Leistungsangebots durch Qualitätssicherung und -management zu lösen. Durch gesetzliche Vorschriften und Verwaltungsauflagen beschränkt der Staat jedoch hier die Einnahmen der Krankenkassen und begrenzt dort ihre Leistungsaufgaben. Bei den Vertragsärzten löst er Kontrollsanktionen und damit Bürokratisierungsschübe aus. Sie führen nicht zur geforderten ständigen Qualitätsverbesserung, sondern führten zunächst zum Preisverfall medizinischer Leistungen und führen heute zu Qualitätsverringerungen (zumindest in der Gesetzlichen Krankenversicherung). So kippt die Rationalisierung in die Rationierung - als Folge des Staatsversagens und der "Körperschaftsstarre" inmitten des medizin-wissenschaftlichen und medizintechnischen Fortschritts.
Die Körperschaften des Gesundheitswesens haben - auf der einen Seite - unter dem Rationalisierungszwang das Wirtschaftlichkeitsgebot gezwungenermaßen zur obersten Maxime gemacht. Die gesetzlichen Krankenkassen benutzen als parastaatliche Behörden ihre Organisationsgewalt gegenüber ihren Partnern im ambulanten und stationären Leistungssektor, um die Leistungen zu rationalisieren und die Ausgaben zu rationieren - zumal ihre Einnahmen unter dem Druck der Wirtschaftsverbände und durch die staatliche Gesetzgebung selbst gedrosselt werden. Und doch geraten sie, genau wie der Staat, in das Dilemma zwischen Verknappung der Finanzmittel und medizinisch-technischem Fortschritt in Diagnostik und Therapie, in Prävention und Rehabilitation und damit auch neuen Leistungsangeboten. Die Kassen versuchen, diesen Widerspruch durch die Verbindung von Rationierung der Ausgaben und Qualitätsverbesserung der Leistungen im Zuge von Qualitätssicherungsprogrammen zu lösen. Die Frage bleibt aber, ob sie hierfür die geeignete Organisationsform und das nötige flexible Management haben. Was heute als Marketing bei den Krankenkassen bezeichnet wird, ist erst der Anfang einer neuen Beweglichkeit durch Wettbewerb mit einem nutzen-kosten-optimierten, qualitätsvollen Leistungsangebot für die Versicherten.
Bei den Körperschaften der Vertragsärzte hat sich - auf der anderen Seite - die ursprünglich die Selbstverwaltung stärkende Gesamtvergütung der Versorgung zu einem politischen Steuerungsinstrument verwandelt. Die Honorarverteilung steht vielerorts unter dem Diktat einer Ideologie der Vorrangigkeit der Primärversorgung mitsamt der Verdrängung der freiberuflichen Fachärzte. Die nächste Stufe des gesundheitsideologischen Dirigismus ist gegenwärtig die Umdrehung des Honorarverteilungsmaßstabes in ein finanzielles Rationierungsinstrument, das die Preise medizinischer Leistungen verfallen und ihre Qualität sinken läßt. Gleich, ob die globalen oder arztgruppenbezogenen Budgetierungen zu arztindividuellen oder zu patientenbezogenen Pauschalierungen zusammenschrumpfen - ein solches Buchhalterideal, das heute die Kassenärztlichen Vereinigungen weitgehend beherrscht, bringt jedenfalls keine bessere "Fortschritts"medizin. Ergebnis ist statt dessen eine entgeltbilligere, mengensortierte, aber verwaltungsteurere "Bedarfs"medizin. Der Korporatismus im Gesundheitswesen führt immer tiefer in eine sozialistische Zentralverwaltungs- und Bedarfsdeckungswirtschaft - paradox inmitten eines liberalisierten Binnenmarkts der Europäischen Union.
Bedarfsberechnete Inanspruchnehmer
Bisher war vom Staat und von den Körperschaften der Krankenkassen und der Kassenärzte die Rede, nicht jedoch von den Nachfragern und Anbietern von medizinischen Leistungen. Wir haben uns angewöhnt, von Systemen der sozialen Sicherung zu sprechen mit ihren Zwangsklientelen der Sozialversicherten sowie mit ihren verbands- und kammerorganisierten Leistungsanbietern, hier den zwangskorporierten Kassenärzten. Dabei übersehen wir allzuleicht, daß diese Sozialleistungsorganisation des Verbände- und Körperschaftsstaates im Kern und in der Wirkung marktfeindlich ist. Nicht der Kassenversicherte als "Kunde", als freier Konsument mit individuellen Nachfragebedürfnissen, ist der Orientierungspunkt, sondern der bedarfsberechnete Inanspruchnehmer des Sozialbudgets. Nicht der Kassenarzt als "Kunde" seiner genossenschaftlichen Dienstleistungsorganisation Kassenärztliche Vereinigung ist der Ausgangspunkt, sondern der budgetorientierte Verteilungsagent der KV-Honorarmasse.
Widerspruch zwischen Rationierung und Qualitätssteigerung
Die Versichertenklientele sind der Motor, der den Sozialstaat und seine Verbände in den Widerspruch zwischen Rationierung aus Finanzknappheit und Qualitätssteigerung durch Fortschritts- und Erwartungsspiralen treibt. Der Wertewandel hat die Bürger ergriffen und neue Erwartungen und Bedürfnisse geschaffen. Der vielbesprochene Hedonismus der wert- und sozialgewandelten Gesellschaft ist selbst widersprüchlich: genußfreudige Selbstverwirklichung hier und risikoängstliche Sozialsicherheit dort. Der Sozialversicherte ist längst mit seinen individuellen Erwartungen und Bedürfnissen auf den Markt der Gesundheitsgüter hinausgetreten. Real bleibt er aber noch unter der Kuratel der Körperschaften.
Neue Chance für den freien Arztberuf
Ist also auf der Seite des Kassenpatienten eine Entwicklung von der Sozialisierung der Krankheit zur Reprivatisierung der Gesundheit im Zeichen neuer Individualität und Pluralität der Lebensführung zu verzeichnen, so finden wir auf der Seite des Kassenarztes eine Reprofessionalisierung. Seine genossenschaftliche Kollektivierung durch den Leipziger Verband, später durch die öffentlich-rechtlichen Kassenärztlichen Vereinigungen, war notwendig: erstens wegen der Verbandsparität gegenüber den mächtigen Krankenkassen, zweitens zwecks Sicherstellung des Versorgungsauftrages, drittens zur Finanzierung des medizinischen und technischen Fortschritts. Die Folgen sind heute hinderlich. Kollektivverträge verführen zur Kostendämpfung und führen nicht zur Nutzenoptimierung im Sinne einer Qualitätsverbesserung. Der Sicherstellungsauftrag ist auf die Herstellung gleicher Lebensverhältnisse mittels ausreichender und zweckmäßiger Versorgung gerichtet, weshalb dieser den individualisierten Lebenslagen und pluralisierten Lebensstilen mitsamt der je persönlichen Risikoprofile und -bewältigungen nicht mehr gerecht wird.
Individualisierung und Pluralisierung der Kundenwünsche
Aus den Kassenhaushalten läßt sich der medizinische Fortschritt nicht mehr bezahlen. Zahlreiche neue Methoden und Verfahren würden das Budget der Kassen sprengen und die Honorarbudgets der KVen aushöhlen, zumal unter dem Spardiktat des Staates. Der Weg jedoch der Industrialisierung, nämlich immer mehr und billigere Massengüter zu erzeugen und zu vertreiben, ist einem Dienstleistungs- und Kommunikationsberuf wie dem ärztlichen versperrt. Verstärkt wird dies durch die Individualisierung und Pluralisierung der Kundenwünsche.
Einem solchen Trend in der Konsumentennachfrage, auch nach Gesundheitsleistungen, kommt die Institution des freien Berufes ideal entgegen. Ihr stabiler Kern, vorneweg bei den Ärzten, ist die von Personen erbrachte und auf Personen bezogene Dienstleistung; die Dynamik ständiger und nachhaltiger Qualitätsverbesserung läuft über die Faktoren Wissen, Leistung, Mitteilung und Qualitätsstandard. Alle vier Faktoren erfordern die weiterlaufende fachliche Spezialisierung, die technische und organisatorische Rationalisierung, Kommunikation und Kooperation mit seinen "Kunden" und Kollegen, schließlich eine standardisierte Qualitätsauswertung. Es ist deshalb widersinnig, gerade die Ärztinnen und Ärzte, ob in freier Praxis oder in der Klinik, unter ein Spardiktat mit Leistungsrationierung und Preisverfall zu setzen, davon die Primärversorgung profitieren und dafür die Allgemeinmedizin expandieren zu lassen. Dies ist nur aus einer Perspektive möglich, die Medizin versteht als Bedarfsdeckung national festgeschriebener Bedürfnisse, als eine Art Buchhaltung der Volksgesundheit - und nicht als dynamischen Markt mit Angebot und Nachfrage von Leistungen gemäß dem medizinisch-technischen Fortschritt.
Die Zukunft der Ärzteschaft liegt nicht in der Abwehr von neuen Organisations-, Kooperations- und Kommunikationsformen, womöglich mit Beharren auf die überkommene Ein-Mann-Praxis. Die Zukunft gehört der berufs- und betriebsrechtlichen Freiheit zu neuen Organisations- und Leistungsformen, etwa in fachübergreifender Gemeinschaftspraxis oder Vernetzung mit der stationären Versorgung. Das Partnerschaftsgesellschaftsgesetz hat den freien Berufen hier eine neue Beweglichkeit gegeben. Aber vergessen wir nicht den ersten Qualitätsfaktor eines freiberuflichen Arztes: nämlich Aus-, Weiter- und Fortbildung, Wissens- und Erfahrungskompetenz für eine persönlich nachgefragte und persönlich erbrachte Dienstleistung.
Chancen durch die Nachfrage nach erstklassiger Medizin
Die Zeit der gesetzlichen Zwangsversicherung für alle Erkrankungsrisiken ist vorbei. Angesagt ist die Privatisierung der Krankenversicherung - bei steuer- oder umlagefinanziertem, nachhaltigem Sozialschutz im subsidiären Notfall. Hierin liegt die Chance für freiberufliche Ärzte und freie Ärzteverbände - auf einem zukünftigen Gesundheitsmarkt, der durch die Nachfrage ihrer "Kunden" nach erstklassiger Medizin bestimmt wird.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1998; 95: A-876-878
[Heft 15]


Anschrift des Verfassers
Prof. Dr. med. Horst Baier
Universität Konstanz
Sozialwissenschaftliche Fakultät
Lehrstuhl für Soziologie
Postfach 55 60 78457 Konstanz

 

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Kern, Axel Olaf; Beske, Prof. Dr. med. Fritz; Lescow, Hanna

Auswertung einer Leserumfrage: Leistungseinschränkung oder Rationierung im Gesundheitswesen?

in: Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 3 (22.01.1999), Seite A-113
THEMEN DER ZEIT: Aufsätze

457 Leser gaben Auskunft darüber, ob und wo
nach ihrer Erfahrung im ärztlichen Alltag rationiert wird.*
Axel Olaf Kern, Fritz Beske, Hanna Lescow Das Deutsche Ärzteblatt hat in Zusammenarbeit mit dem Institut für Gesundheits-System-Forschung Kiel in Heft 14 vom 3. April 1998 eine Leserumfrage zum Thema "Leistungseinschränkung oder Rationierung im Gesundheitswesen?" durchgeführt. Daran haben sich 457 Ärztinnen und Ärzte beteiligt (74,4 Prozent niedergelassen, 16,8 Prozent im Krankenhaus tätig, 8,8 Prozent sonstige). Die Ergebnisse der Umfrage erheben keinen Anspruch auf Repräsentativität, weisen jedoch auf wichtige Punkte in der gesundheitspolitischen Diskussion hin und bringen Lösungsvorschläge in die Diskussion ein. Mit dieser Leserumfrage wurde die Einbeziehung der Leser des Deutschen Ärzteblattes in die gesundheitspolitische Diskussion fortgesetzt, die mit der Fragestellung "Wo würden Sie reformieren?" in Heft 44/1996 begonnen worden ist.
Versorgung der Patienten
Mit der ersten Frage wurde versucht, eine Einschätzung über die Versorgungssituation der Patienten aus der subjektiven Sicht des Arztes zu erhalten. Gefragt wurde danach, welche Auswirkungen Einsparungsmaßnahmen auf die Versorgung der Patienten haben und wie viele von den Patienten entsprechend dem jetzigen Stand medizinischen Wissens optimal, ausreichend oder nur unzureichend versorgt werden können. Als Antwortmöglichkeiten waren jeweils "alle", "mehr als 50 Prozent", "weniger als 50 Prozent" und "niemand" vorgegeben. Grafik 1 zeigt das Ergebnis.
Auf die Frage, wie viele Patienten ausreichend versorgt werden können, geben 31,7 Prozent der Ärztinnen und Ärzte an, alle Patienten medizinisch ausreichend versorgen zu können. 44 Prozent hielten für mehr als die Hälfte ihrer Patienten die medizinische Versorgung für ausreichend. 19,3 Prozent betrachteten die Versorgung für weniger als die Hälfte der Patienten für ausreichend. 1,3 Prozent gaben an, daß kein Patient medizinisch ausreichend versorgt werden kann.
Damit Auswirkungen von Einsparungsmaßnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung auf die ärztliche Tätigkeit erfaßt werden können, wurde gefragt, welche Diagnoseverfahren und welche therapeutischen Leistungen nicht mehr abgerechnet werden können.
Die Antworten für niedergelassene und für im Krankenhaus tätige Ärztinnen und Ärzte wurden getrennt ausgewertet. Diagnoseverfahren: Von 244 niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten wurden die in Tabelle 1 aufgeführten Diagnoseverfahren angegeben, die nach dem individuellen Dafürhalten infolge von Einsparungsmaßnahmen in der Gesetzlichen Krankenversicherung nicht mehr von den Krankenkassen erstattet werden.
Die im Krankenhaus tätigen Ärztinnen und Ärzte gaben im wesentlichen ähnliche Einschränkungen an wie die niedergelassenen Ärzte. Genannt wurden mit 14 Prozent Magnetresonanztomographie und mit 12 Prozent die Computertomographie. Es folgen die Labordiagnostik mit 14 Prozent, die Röntgendiagnostik, die Mammographie und Gesprächsleistungen mit jeweils 10 Prozent, das EKG mit 6 Prozent und
die Sonographie einschließ-lich Dopplersonographie mit 4 Prozent. Alle weiteren Nennungen lagen unter 2 Prozent. Es wurde darauf hingewiesen, daß die menschliche Betreuung, die Zeit für den Patienten, zu kurz kommt. Statt dessen sei eine Zunahme nicht bezahlter Überstunden an der Tagesordnung.
In einigen Antworten zu dieser Frage wurde darauf hingewiesen, daß aufgrund der Einsparungsmaßnahmen in der Gesetzlichen Krankenversicherung keine Einschränkungen für Diagnoseverfahren bestünden. Ein niedergelassener Arzt meinte, daß Einschränkungen in der Diagnose erforderlich seien, da "unnötige Diagnoseverfahren, besonders Messungen bei Osteoporose", praktiziert würden. Ein Krankenhausarzt schrieb, daß Röntgen, CT und MRT "medizinisch überflüssige Absicherungsdiagnostik" seien, ein anderer Krankenhausarzt, "es wird nach wie vor zuviel an Diagnostik betrieben: zu wenig Anamnese-Untersuchungen, zu viel CT/NMR etc.".
Immer wieder wurde darauf verwiesen, daß die Budgetierung Art und Menge der Diagnoseverfahren insgesamt einschränkt, da alle Diagnoseverfahren bis zur Ausschöpfung des Budgets abgerechnet werden könnten. Insgesamt scheinen besonders die neuen kostenintensiven sowie zeitintensive Diagnoseverfahren von der Budgetierung betroffen zu sein.
Therapeutische Leistungen. Die Frage nach therapeutischen Leistungen, die nicht mehr abgerechnet werden können, wurde von 340 Ärztinnen und Ärzten beantwortet. Auch hier wurde nach ärztlichen Tätigkeitsbereichen getrennt ausgewertet. Tabelle 2 zeigt die überwiegend genannten therapeutischen Leistungen aus der Sicht niedergelassener Ärzte.
Therapeutische Einschränkungen im Krankenhaus wurden in erster Linie im Bereich Chemotherapie (14,3 Prozent), bei Medikamenten generell (11,4 Prozent), der Psychotherapie (8,6 Prozent), bei der persönlichen Zuwendung (5,7 Prozent), bei Rehabilitationsmaßnahmen (5,7 Prozent) und bei der Dialyse (5,7 Prozent) gesehen. Sonstige Angaben lagen unter 5 Prozent.
Im therapeutischen Bereich scheint der Umfrage zufolge insbesondere an teuren Therapien, an zeitaufwendigen Therapien und an Therapien gespart zu werden, die nur eine Verbesserung, aber keine Heilung versprechen.
Die Rationierung von Gesundheitsleistungen ist in aller Munde. Was Rationierung ist, bleibt dagegen umstritten, ist unzureichend oder überhaupt nicht definiert.
Wir wollten wissen, wie Ärzte die Rationierung von Gesundheitsleistungen definieren, und haben in einer offenen Frage um diese Definition gebeten. 435 Ärztinnen und Ärzte haben geantwortet, eine auf den ersten Eindruck relativ große Zahl. Überwiegend wurde dann jedoch statt einer Definition ein Kommentar über die als Rationierung empfundene Situation gegeben, der meist negativ ausfiel. In 65 Antworten wurde die Rationierung von Gesundheitsleistungen als eine Einschränkung, Begrenzung oder Budgetierung von Leistungen beschrieben. Es wurde von Rationierung als einer Beschränkung auf unbedingt notwendige, wissenschaftlich gesicherte Leistungen gesprochen (55). Auch die Begriffe Optimierung (5), Prioritätensetzung (4), Kosten-Nutzen-Analyse (3) und Anwendung einer Evidence Based Medicine (1) wurden genannt.
Kritisiert wurde von niedergelassenen Ärzten genauso wie von Krankenhausärzten eine mit einer Rationierung verbundene mangelhafte Versorgung (17) und das Vorenthalten von Maßnahmen (32). Auch das Vernachlässigen der Prophylaxe durch Rationierung wurde beklagt (3). Patienten würden nur "für den Moment funktionsfähig" erhalten.
Die Frage wurde auch genutzt, um den Unmut über wirtschaftliche Nachteile auszudrücken. So wurde beklagt, Ärzte würden aufgrund von Rationierungsmaßnahmen nicht mehr leistungsgerecht oder nicht mehr kostendeckend bezahlt (14). Krankenhausärzte erwähnten Personalabbau und eine daraus resultierende Mehrbelastung (2). Von niedergelassenen Ärzten wurde eine Einschränkung der Therapie- und Diagnosefreiheit (8) mit Rationierung verbunden. Krankenhausärzte beklagten das Nichteinhalten medizinischer Standards (4).
"Wer arm ist, stirbt früher" wurde als Resultat der Rationierung (3) oder als eine Umverteilung der Kosten zu Lasten der Patienten (3) formuliert. Andere meinten, daß mit Rationierung die Einführung einer Altersgrenze für Gesundheitsleistungen verbunden ist (6).
Häufig wurden Schlagworte benutzt, um dem Unmut über Rationierungsmaßnahmen Ausdruck zu geben: Zweiklassenmedizin (15), Basisversorgung (8), Mangelverwaltung (5) und Triage (4) bis zu Unsinn, Schwachsinn, Katastrophe und Betrug.
Es gab jedoch auch Ärzte, welche die Rationierung von Gesundheitsleistungen begrüßten und sie als "machbar, unvermeidbar im Hinblick auf Kostenreduzierung" und "folgenlos für den Gesundheitszustand der Gesamtbevölkerung" beschrieben. Rationierung könne Doppeluntersuchungen vermeiden (5), das Anspruchsdenken der Patienten reduzieren (4) oder Abrechnungsbetrug verhindern (zwei niedergelassene Ärzte). In einer Antwort wurden die Rationierungsmaßnahmen als "letzte Rettung der GKV" gesehen. Ein anderer meinte, Rationierung sei "ein Vorgang, der schon immer von einem verantwortungsbewußten Arzt tagtäglich durchgeführt wurde". Ein weiterer Arzt formulierte, "wenn alle Patienten nach den gültigen medizinischen und juristischen Standards behandelt würden, bräche die medizinische Versorgung sofort zusammen; deshalb rationiert jeder Arzt unterschwellig, damit es nicht bemerkt wird".
Ein niedergelassener Arzt hofft auf "Stärkung der hausärztlichen Funktion als Spezialistenfilter". Ein Krankenhausarzt plädiert für "weniger Niederlassung und mehr regionale Krankenhäuser". Ein anderer fordert, "die Zahl der Ärzte sollte gesenkt werden". Bei einer breiten Streuung von Meinungen innerhalb der Ärzteschaft wurde ein grundsätzlicher Unmut Sparbemühungen gegenüber deutlich.
Kriterien für eine Rationierung
Rationierung kann definiert werden, es können aber auch Kriterien einer Rationierung zugrunde gelegt werden. Derartige Kriterien wollten wir mit der Frage erfassen: "Welche Kriterien sollten zugrunde gelegt werden, wenn es je zu einer Rationierung von Gesundheitsleistungen kommen sollte?" Diese Frage wurde von 433 Ärztinnen und Ärzten beantwortet, eine hohe Antwortquote. Es wurden Rationierungsvorschläge gemacht und Forderungen erhoben. Kriterien wurden zum einen auf Patienten und zum anderen auf die Art zu erbringender Leistungen bezogen. Eine Übersicht tabellarisch auswertbarer Antworten gibt Tabelle 3.
Ein großer Teil der Antworten gab keine Kriterien an, sondern bezog sich auf Vorschläge, wie Kosten im Gesundheitswesen einzusparen seien. In 30 Antworten wurde vorgeschlagen, nur noch eine Basisversorgung über die Kassen zu garantieren und den Rest privat abzusichern. Andere Vorschläge waren: c Erhöhung der Eigenbeteiligung des Patienten
c Einführung eines Erstattungssystems
c konsequente Kontrolle des Abrechnungsverhaltens der Ärzte
c mehr Marktwirtschaft
c Bildung einer einzigen Kasse
c stärkere Standardisierung
c Dokumentationspflichten den Verursachern anlasten
c Positivliste
c Wiedereinführung der Polikliniken und des ABC-Systems der DDR
c Verbieten von Mehrfachuntersuchungen
c Auflösen überflüssiger Institutionen
c Abschaffung der Mitversicherung von Familienangehörigen.
Rationierung findet heute bereits statt
In der Literatur, in Veranstaltungen und in Gesprächen wird immer wieder darauf hingewiesen, daß es schon heute Rationierung gibt, mit mehr oder weniger konkreten Beispielen. Unsere Frage hierzu lautete: "Sind Sie der Auffassung, daß generell eine Rationierung von Gesundheitsleistungen entsprechend Ihrer Definition schon heute erfolgt?" Geantwortet werden konnte mit "ja", "nein" oder "keine Meinung", verbunden mit der Bitte, bei einer zustimmenden Antwort Beispiele zu geben.
Rationierung ist Realität - so kann die subjektiv empfundene Auffassung beschrieben werden (Grafik 2).
Von 289 Ärztinnen und Ärzten wurden Beispiele für Rationierung aus ihrem Arbeitsbereich gegeben.
Unter Rationierung verstehen niedergelassene Ärztinnen und Ärzte die Budgets der letzten Jahre (55). Richtgrößen werden kaum erwähnt. Als Folge der Budgetierung wurde eine "entsprechende Schließung der Praxen (Urlaub usw.)" angegeben sowie eine "verringerte Zahl an Wiederbestellungen" und ein "Aufschieben von Terminen". Außerdem käme es aufgrund der Budgets zu "Abschreckung (der Patienten) durch verlängerte Wartezeiten". Als Folge der Budgetierung wurde von acht Ärzten eine Einsparung an prophylaktischer Therapie, von neun Ärzten eine Reduktion der Hausbesuche und von zehn Ärzten eine Abkürzung der Zuwendung zum Patienten gesehen. Eine weitere Folge der Budgetierung sei die "Einschränkung sämtlicher diagnostischer Maßnahmen" (12). Einschränkungen speziell im Laborbereich aufgrund eines Laborbudgets wurden von sieben Ärzten angeführt. Häufig wurden auch das Arzneimittelbudget und die Arzneimittelrichtgrößen erwähnt (30). So wurde angegeben, daß "fast alle Behandlungen mit innovativen Medikamenten den Rahmen des Arzneimittelbudgets sprengen". Besonders erwähnt wurden Einschränkungen bei der Verordnung von oralen Antimykotika, Antiglaucomatika, Epileptika, Parkinsonmitteln, Neuroleptika, Antidepressiva, Antihypertonika sowie Cholesterinsenkern. Im Zusammenhang mit Arzneimitteln verwiesen 7 Ärzte auf die Selbstbeteiligung des Patienten. Ein Arzt meinte, die "Rezeptgebühr führt dazu, daß einige Patienten schon auf notwendige Medikamente verzichten".
Eine Reduktion ambulanter Operationen gaben neun niedergelassene Ärzte an: "Präkanzerosen der Hand werden nicht mehr operiert, sondern beobachtet. Erst bei Entstehung von Karzinom oder Melanom Operation." Viermal wurden Wartelisten oder Wartezeiten für Operationen erwähnt.
Rationierung von Kur- und Rehabilitationsmaßnahmen wurden von 16 niedergelassenen Ärzten sowie von Ärzten aus Rehabilitationseinrichtungen als bereits existent angegeben.
Die Budgetierung von Heilmitteln wurde von 33 Ärzten aufgeführt.
Die Ärztinnen und Ärzte im Krankenhaus gaben ähnlich wie ihre niedergelassenen Kollegen an, die Einführung von Budgets sei eine Form der Rationierung. Bereits heute würde bei der Medikation, in der Diagnostik, in der Prävention und in der Rehabilitation rationiert. Ein Krankenhausarzt schrieb, "potentiell ,teure' Patienten werden nicht mehr aufgenommen", ein anderer, "im sehr hohen Alter kann nicht mehr alles gemacht werden!". Krankenhausspezifisch wurde auf Personalabbau, Reduzierung von Krankenhausbetten und die Kürzung der Verweildauer hingewiesen. Ein Arzt sah als Resultat "mangelhafte Pflege, keine Zuwendung", ein anderer "überfüllte Krankenhäuser mit extrem niedriger Liegedauer". In einer Antwort hieß es, es gäbe "erhebliche Ausgaben für Unsinniges! Sie könnten besser angelegt werden." Und eine weitere Zuschrift erklärt den Widerspruch dieser beiden Aussagen damit, daß es eine "chaotische Situation zwischen Mangel und Verschwendung wegen fehlenden Konsenses und Egoismus" gebe. Häufig wurde sowohl von niedergelassenen Ärzten als auch von Krankenhausärzten das Verschieben von Leistungen als Folge der Einspa-rungsmaßnahmen erwähnt. "Hausarzt schiebt zum Facharzt, der zum Krankenhaus, das retourniert!" Insgesamt ist festzustellen, daß Ärzte häufig eine Rationierung von Gesundheitsleistungen eng mit dem Begriff der Budgetierung verknüpfen. Leitlinien zu Diagnose und Therapie
Leitlinien als Handlungsanleitung, als Handlungshorizont oder als Kriterium der Qualitätssicherung gewinnen an Bedeutung, mehr noch in der Diskussion als im täglichen Handeln. Wir stellten die Frage: "Bitte beurteilen Sie Leitlinien zu Diagnose und Therapie. In welchem Ausmaß unterstützen diese Leitlinien Ihre ärztliche Tätigkeit?" Die Antworten: 9,2 Prozent der Ärzte geben an, daß Leitlinien ihre Tätigkeit voll und ganz unterstützten, 48,4 Prozent nutzten Leitlinien teilweise, 13,1 Prozent überhaupt nicht. Rund 22 Prozent gaben an, keine Leitlinien zu kennen. In zusätzlichen Bemerkungen wurden häufig die vorhandenen Leitlinien als praxisfremd eingestuft, oder es wurde geurteilt, daß Leitlinien aus Kostengründen nicht immer einzuhalten seien. Es wurden Befürchtungen geäußert, Leitlinien würden die Defensivmedizin fördern oder als Bremse des medizinischen Fortschritts fungieren und keine Individualmedizin mehr zulassen. Zusätzliche Angaben
Zum Schluß wurde um zusätzliche Angaben gebeten, wenn gewünscht. Diese Möglichkeit wurde genutzt, um Systemkritik zu üben oder persönliche Frustration zu äußern. Es wurden jedoch auch Vorschläge zur Weiterentwicklung des Gesundheitswesens gemacht:
c Einführung von Kostenerstattung
c Einführung von Positivlisten
c vermehrtes Qualitätsmanagement
c Einführung einer solidarischen Basisversorgung mit privater Zusatzversicherung
c unabhängige Aufsicht über Krankenkassenausgaben
c strengere Überweisungskriterien
c festes Gehalt für alle Ärzte
c Verbot von Arzneimittelwerbung in Fernsehen und Laienpresse.


Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1999; 96: A-113-117
[Heft 3]
Anschrift der Verfasser
Dipl.-Volksw. Dipl.-Betriebsw. (BA)
Axel Olaf Kern
Prof. Dr. med. Fritz Beske
Apothekerin Hanna Lescow
Institut für Gesundheits-System-Forschung
Weimarer Straße 8, 24106 Kiel

Tabelle 1
Diagnoseverfahren, die aus Sicht niedergelassener Ärzte nicht mehr abgerechnet werden können. Mehrfachnennungen möglich (n = 244)
Diagnoseverfahren Nennungen in Prozent
Sonographie 19,3
Labor 10,4
EKG 9,8
Röntgen 6,6
Gesprächsintensive Diagnostik 5,2
Vorsorge 4,3
Allergietest 4,0
Langzeit-Blutdruckmessung 3,7
Lungenfunktionstest/Spirometrie 3,7
Ophthalmologische Diagnostik 3,4
Erhebung des Ganzkörperstatus 3,2
Ergometrie 2,9
Endoskopie 2,0
Osteodensitometrie 2,0
Sonstige Nennungen unter 2 Prozent 19,5
Gesamt 100,0

Tabelle 2
Therapeutische Leistungen, die aus Sicht niedergelassener Ärzte nicht mehr abgerechnet werden können. Mehrfachnennungen möglich (n = 340)
Therapeutische Leistungen Nennungen in Prozent
Heilmittel 12,0
Patientengespräche 9,7
Arzneimittelverordnung 7,8
ambulante Operationen 7,6
Neuraltherapie/Schmerztherapie 7,4
Hausbesuche 6,5
ambulante Infusionen 5,5
Injektionen 4,9
Phototherapie 2,3
Sonstige Nennungen unter 2 Prozent 36,3
Gesamt 100,0

Tabelle 3
Welche Kriterien sollten zugrunde gelegt werden, wenn es je zu einer Rationierung von Gesundheitsleistungen kommen sollte? Mehrfachnennungen möglich (n = 204)
Kriterien Nennungen in Prozent
Wirksamkeitsnachweis und Evidence Based Medicine 18,2
Medizinische Notwendigkeit 12,8
Alter 11,3
Prognose 9,3
Ökonomische Kriterien 8,8
Medizinische Kriterien 6,4
Einkommen/Vermögen 4,9
Soziale Kriterien 4,4
Ursache der Erkrankung 4,4
Ethische Kriterien 3,4
Lebensqualität 3,4
Mitwirkung des Patienten 2,9
Arzturteil 2,9
Sonstige Nennungen von Kriterien unter 2 Prozent 6,9
Gesamt 100,0

 

 

 

Der Blick ins Ausland

Doppelfeld, Prof. Dr. med. Elmar

Weltärztebund: Einsatz für Menschenrechte

in: Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 21 (24.05.1996), Seite A-1396
THEMEN DER ZEIT: Blick ins Ausland

Bei den Verhandlungen der 144. Sitzung des "Council" der World Medical Association (WMA, Weltärztebund) in Genf (20. bis 22. April 1996) bildeten Erörterungen über den Einsatz einzelner Ärzte sowie nationaler und internationaler Ärzteorganisationen zur Wahrung der Menschenrechte unbestritten einen Schwerpunkt der ansonsten überwiegend Routinefragen gewidmeten Tagesordnung.


Als Gastredner bei der jüngsten Sitzung des Vorstands ("Council") des Weltärztebundes führte Dr. J. Welsh, Koordinator des medizinischen Programms von Amnesty International, Gesichtspunkte an, die aus seiner Sicht den Arzt daran hindern, Verletzungen der Menschenrechte entgegenzutreten. So nannte er fehlende Unabhängigkeit, unzureichende Ausbildung für die Erkennung physischer und/oder psychischer Folgen zum Beispiel von Folterungen, mangelhaftes ethisches Problembewußtsein, ökonomische, physische oder psychologische Pres-sionen sowie die Erfahrung, daß Länderregierungen ärztliche Berichte über Menschenrechtsverletzungen nicht zur Kenntnis nehmen. Erwähnt wurde auch, daß Bestimmungen einzelner Länder Ärzte zur Mitwirkung an Maßnahmen verpflichten, die als Verletzung der Menschenrechte gewertet werden. Die Offenbarung solcher Verletzungen durch Ärzte kann nach Auffassung von Dr. Welsh eine präventive Rolle spielen und zu mehr Gerechtigkeit für die Opfer beitragen. Die Rolle nationaler und internationaler ärztlicher Organisationen auf diesem Gebiet ist nach Auffassung des Redners weitgehend unbekannt, da sie, jedenfalls für die breitere Öffentlichkeit, nicht ersichtlich wird. Einzelne ärztliche Organisationen nehmen einen "neutralen" Standpunkt ein, da Menschenrechte außerhalb ihres Interesses liegen, sie sich möglicherweise entsprechend den einschlägigen Bestimmungen des jeweiligen Landes auch damit nicht zu befassen haben. Vielfach macht auch eine strenge Kontrolle durch Länderregierungen ein als in der Sache notwendig erkanntes Engagement unmöglich. Schließlich nannte der Redner auch die enge Zusammenarbeit zwischen Staatsregierungen und ärztlichen Organisationen, deren vorrangiges Ziel es sei, Staat und Wirtschaft ihres Landes zu unterstützen.
Welsh regte an, daß die nationalen Ärzteorganisationen den möglichen Beitrag des einzelnen Arztes zur Wahrung der Menschenrechte herausstellen und ihn ermutigen sollten, ihre Verletzungen zu offenbaren. Sie sollten zu seinen Gunsten intervenieren, wenn er in Schwierigkeiten gerät. Auf internationaler Ebene sollte die Zusammenarbeit verbessert und nach Möglichkeit ein "Notmeldesystem" eingerichtet werden, damit der Weltärztebund in Zusammenarbeit mit anderen internationalen Organisationen, die sich der Wahrung der Menschenrechte widmen, intervenieren kann. Schließlich sollte die Ärzteschaft die Grundsätze von Amnesty International zur medizinischen Untersuchung der Folter unterstützen.
Das Council hat den Generalsekretär beauftragt, einen Vorschlag zur Verwirklichung der von Dr. Welsh vorgetragenen Anregungen zu erarbeiten. Die in diesem Zusammenhang zu erwartenden Schwierigkeiten traten zutage bei der Diskussion über einen Antrag der British Medical Association, jede nationale Ärzteorganisation solle in einem Zwei-Jahres-Rhythmus über ihren Einsatz zur Wahrung der Menschenrechte berichten. So wurde eingewandt, die Formulierung dieser Rechte sei bewußt allgemein gehalten, ihre Interpretation sei entsprechend internationaler Übereinkunft regionalen Institutionen vorbehalten. Zu bedenken gegeben wurde ferner, daß gesetzliche Bestimmungen auch demokratischer Länder mit untadeliger Rechtspflege dem Engagement ärztlicher Organisationen außerhalb des engeren Berufsfeldes entgegenstehen könnten. Unbestrittene Auffassung war indessen, daß für den einzelnen Arzt ebenso wie für ärztliche Organisationen die Wahrung der Menschenrechte als Verpflichtung anzusehen ist.


Geplant: Novellierung der Deklaration von Helsinki
Aus den weiteren Beratungen sei erwähnt, daß ein Text "Ethische Aspekte der Ressourcenverteilung" als Diskussionsgrundlage verabschiedet wurde. Seine Annahme als Resolution scheiterte an der Auffassung einiger Delegationen, der Arzt habe sich vorrangig um die bestmögliche Versorgung seines Patienten, nicht jedoch um die Ressourcenallokation auf medizinischem Gebiet zu kümmern. An Entwürfen auf den Gebieten "Prädiktive Medizin", "Waffen", "Wiederbelebungsmaßnahmen" sowie "Rechte des kranken Kindes" feilen entsprechende Arbeitsgruppen. Dies gilt auch für eine von der American Medical Association vorgelegte Zusammenfassung der Erwartungen, die Ärzte an ihre Patienten richten. Schließlich soll durch eine Novellierung der Deklaration von Helsinki klargestellt werden, daß placebokontrollierte Studien - wenn wissenschaftlich, ethisch und rechtlich vertretbar - nicht ausgeschlossen sind.
Einer Anregung der früheren Präsidentin des Weltärztebundes, Prof. Dr. Priscilla Kincaid-Smith (Australien), folgend, sollen die nationalen Ärzteorganisationen dem Thema "Gesundheit der Frau" besondere Aufmerksamkeit widmen. In diesem Zusammenhang zu erwähnen ist die verabschiedete Resolution "Familienplanung und Recht der Frau auf Kontrazeption".
Mit der Entschließung "Antibiotika-Resistenz" hat das Council ein besonders drängendes medizinisches Problem berücksichtigt. Aus der Fülle sonstiger Beratungsgegenstände seien noch genannt ein Resolutionsentwurf "Gesundheitliche Versorgung älterer Menschen", dessen Verabschiedung bevorsteht, sowie die Bildung einer Arbeitsgruppe, die sich mit der Zirkumzision von Knaben befaßt, die routinemäßig, also nicht aufgrund religiöser Vorschriften, vorgenommen wird. Über die Häufigkeit dieses Eingriffs wurden in der Debatte recht diskrepante Auffassungen erkennbar.


Verlegung des WMA-Sekretariates?
Über Sitz und Struktur des Sekretariates der WMA wird in den nächsten Monaten zu beraten und zu beschließen sein. Der erst vor wenigen Jahren angestellte hauptamtliche Generalsekretär hat seinen Entschluß mitgeteilt, sich Ende 1996 nach London zurückzuziehen und allenfalls für eine Übergangsfrist zur Verfügung zu stehen. Überlegungen gehen dahin, den Sitz des Sekretariates von Ferney-Voltaire in der unmittelbaren Nähe von Genf, dem traditionellen Sitz internationaler Organisationen, zu verlegen, da die räumliche Nähe zu diesen Organisationen, insbesondere zur WHO, für die tägliche Arbeit nicht die erwartete Bedeutung erlangt habe. Erwogen wird, das Sekretariat bei völliger Wahrung der Unabhängigkeit der WMA in der Nähe einer nationalen Ärzteorganisation anzusiedeln, deren Infrastruktur es gegebenenfalls zur Steigerung seiner Effektivität nutzen könnte. Sitz und Struktur des Sekretariates mögen bedeutende Gesichtspunkte sein; für die Zukunft entscheidend wird die Strategie sein, die der Weltärztebund einschlägt, um die Notwendigkeit dieser Organisation, deren Haushalt ganz überwiegend von den Beiträgen ärztlicher Organisationen aus Industrieländern gespeist wird, im Bewußtsein der Ärztinnen und Ärzte dieser Welt zu verankern. E. D.


Erklärungen, Dokumente etc. des Weltärztebundes können in Urfassung und/oder deutscher Übersetzung bei der Bundesärztekammer, Auslandsdienst, Herbert-Lewin-Straße 1, 50931 Köln, angefordert werden.

 

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Stephan, Dr.

Großbritannien: Rationierung ist unvermeidbar

in: Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 33 (15.08.1997), Seite A-2115
THEMEN DER ZEIT: Blick ins Ausland

Prekäre Finanzsituation zwingt zur Revision von Versorgungskonzepten.
Motiviert durch die finanziell angespannte und lückenhafte Gesundheitsversorgung sowie die Aufbruchsstimmung, die mit der Machtübernahme der neuen Labour-Regierung einhergeht, diskutierten Delegierte der British Medical Association (BMA), ob und wie im staatlichen Gesundheitssystem Großbritanniens rationiert werden sollte. Die Konferenz mit dem Titel "Rationing in the NHS: time to get real" veranstaltete die BMA am 11. Juli in London.
Die Frage der Rationierung medizinischer Ressourcen wird in der in Deutschland stattfindenden Diskussion über Reformierung des Gesundheitswesens im Gegensatz zu Großbritannien eher zurückhaltend behandelt. Angesichts eines seit Jahren defizitären Gesundheitswesens mit einem massiven Sanierungsbedarf und großen Versorgungsengpässen scheint die britische Ärzteschaft Rationierungskonzepte zu akzeptieren.
Bei einer Podiumsdiskussion anläßlich einer Konferenz der BMA zu dem Thema verglich der Abgeordnete Simon Hughes von den Liberaldemokraten das britische Gesundheitssystem mit seinen zahlreichen Wartelisten und Beschränkungen mit einer "Gesundheitslotterie" und forderte eine Umstrukturierung. Die Regierung solle ein Rationierungskonzept vorlegen, um ein Ungleichgewicht der Verteilung von Ressourcen zu vermeiden. Hierauf entgegnete Phyllis Starkey von der Labour-Partei, daß Behandlungskosten durch die demographische und medizinische Entwicklung auch in Zukunft steigen würden und Gelder besser auf lokaler Ebene verwaltet werden sollten. Ferner muß, so Starkey, zwischen dem Aufstellen von Prioritäten einerseits und der - ihrer Meinung nach nicht anzustrebenden - Rationierung andererseits unterschieden werden.
Dr. David Eddy (USA), der sich seit Jahren mit dem Gesundheitssystem in Südkalifornien beschäftigt, stellte auf der Konferenz die These auf, daß Rationierung unvermeidbar sei, in jedem Gesundheitssystem angewendet werde und es daher darauf ankomme, eine möglichst effiziente und auf medizinischen Erkenntnissen basierende Rationierung zu schaffen. So gebe es bei gegebenen Grenzwerten immer Patienten, die in die Gruppe der nicht zu behandelnden Personen fallen würden, obwohl sie von einer Behandlung profitieren würden. Grenzwerte sind willkürlich
Als Beispiel führte Eddy die Grenzwerte für Cholesterin an, die in den USA gelten. Anhand solcher Richtlinien werde lediglich ein Kollektiv behandelt, das einen bestimmten Grenzwert überschreite. Personen, die nur etwas darunter liegen, erhielten keine Behandlung, auch wenn ihr Herzinfarktrisiko um ein Vielfaches erhöht sein könne, wenn neben den Cholesterinwerten noch andere Risikofaktoren wie Rauchen oder Bluthochdruck vorliegen. Eddy fuhr fort, daß die Entscheidung zur Behandlung durch den Grenzwert bestimmt werde. Dieses Kriterium sei aber nicht medizinisch indiziert, da wichtige Parameter ignoriert würden. Eine rationelle Behandlung hingegen müsse zusätzliche Risikofaktoren mit berücksichtigen. Mit dieser Strategie könnten möglicherweise Ressourcen eingespart werden, weil unnötige Behandlungen vermieden und so Kapazitäten für wichtigere Maßnahmen freigesetzt werden könnten. Durch ständige Evaluierung von Therapien und Vorsorgemaßnahmen in bezug auf deren Kosten-Nutzen-Relation würden Bedingungen geschaffen, unter denen der maximale Nutzen bei einem gegebenen Budget erreicht werden kann. Dazu ergänzte Prof. Albert Weale von der Universität Essex vom Fachbereich Verwaltung und Staatswesen, daß ein solches Konzept nur durchgeführt werden könne, wenn die Bevölkerung übereinstimmend eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Rationierung akzeptiere oder bereit sei, die entsprechenden Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Nach Ansicht der Delegierten ist hier die Regierung gefordert. Sie müsse Richtlinien erlassen, die für die Versorgung des gesamten Landes bindend seien. Zur Zeit werden die Finanzbudgets lokal verwaltet. Dies bedeutet, daß es zu starken Unterschieden in der Versorgung kommt. Ein Beispiel: Der 33jährige Kenneth Fisher war an Multipler Sklerose erkrankt und bekam von zwei Neurologen im Sheffield’s Royal Halmshire Hospital Interferon-Beta verschrieben. Die Krankenhausapotheke verweigerte die Herausgabe des Medikaments, weil die für Fisher zuständige Gesundheitsbehörde die Behandlungskosten von 10 000 Pfund pro Jahr nicht bezahlen wollte. Nach 18 Monaten hat Fisher jetzt vor dem High Court recht bekommen: sein Zustand hat sich derweil zunehmend verschlechtert. Um solche Mißstände zu beseitigen, forderten die Delegierten in einem "offenen Brief" die Regierung auf, ihrer Verantwortung gerecht zu werden und ein landesweit gültiges Konzept zur Reformierung des National Health Service vorzulegen. In ihrem Brief bekannten sich die Konferenzteilnehmer ausdrücklich zum Konzept der Rationierung. Diese sollte medizinisch indiziert sein, Kosten-NutzenSchätzungen berücksichtigen und für die Bevölkerung fair und nachvollziehbar sein. Dr. Stephan Mertens

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Doppelfeld, Prof. Dr. med. Elmar

Ärzte in Europa Zusammenarbeit unverzichtbar

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 40 (02.10.1998), Seite A-2460
THEMEN DER ZEIT: Blick ins Ausland

Die 44. Konsultativtagung deutschsprachiger Ärzteorganisationen befaßte sich (unter anderem) mit dem Rationalisierungsdruck im Gesundheitswesen. Das Zusammenwachsen europäischer Staaten, sei es innerhalb oder außerhalb von Verbänden wie der EU oder dem EWR, wirkt sich immer nachhaltiger auf die ärztliche Tätigkeit aus. Während die Medizin als Wissenschaft von jeher den internationalen Erfahrungs- und Wissensaustausch pflegt, werden in jüngster Zeit zunehmend staatliche Bemühungen erkennbar, für das gesamte Berufsfeld des Arztes staatenübergreifend Bedingungen zu formulieren. Beispiele hierfür sind das "Menschenrechts-übereinkommen zur Biomedizin" (die sogenannte Bioethikkonvention) oder die Erörterungen der Gesundheitsminister der Länder der Europäischen Union zum Thema "Medizinische Qualitätssicherung" vor wenigen Wochen in Bad Tatzmannsdorf/Österreich. Die Organisationen der Ärzteschaft können sich kaum auf die Beobachtung dieser Vorgänge beschränken, aktives Handeln erscheint geboten. Dieser Gedanke stand auch im Mittelpunkt der 44. Konsultativtagung der deutschsprachigen Ärzteorganisationen, die auf Einladung des Schweizer Ärzteverbandes (FMH) vom 2. bis 4. Juli 1998 auf dem Bürgenstock (Nidwalden) stattfand. Das Fazit könnte lauten: "Von der Konsultation zur Kooperation."
Beispiele der Zusammenarbeit
Erste Versuche einer solchen Zusammenarbeit wurden bereits vor einigen Jahren mit der Gründung der Arbeitsgruppe "Gesundheit und Umwelt" unternommen. Diese hat sich bei ihrer diesjährigen Sitzung erneut mit Verkehrsproblemen im Alpenraum befaßt und Infektionsgefahren erörtert, die sich aus der Massentierhaltung und den Tiertransporten unter anderem in den vertretenen Ländern ergeben. Erstmalig berichteten Arbeitsgruppen, die auf Grund einer Vereinbarung bei der 43. Konsultativtagung 1997 in Warnemünde gebildet wurden. Die Gruppe "Fort- und Weiterbildung" wird sich bemühen, die zu diesem Komplex gehörenden Maßnahmen zu harmonisieren mit dem Ziel der gegenseitigen Anerkennung erworbener Diplome und Zertifikate. Gemeinsame Bemühungen um Qualitätssicherung
Der Ausschuß "Qualitätssicherung in der Medizin" will durch seine Tätigkeit eine vergleichbare Basis aller Qualitätssicherungsmaßnahmen in den beteiligten Ländern erreichen. Damit wird auch die Absicht verfolgt, die entscheidende Rolle des Arztes in der medizinischen Qualitätssicherung zu wahren. Seine Verantwortung soll nachdrücklich unterstrichen werden durch einen für den 17. und 18. September 1999 in Basel geplanten Kongreß "Medizinische Qualitätssicherung". Bei dieser Gelegenheit will man den Versuch unternehmen, eine internationale Charta für ärztliches Qualitätsmanagement zu verabschieden sowie gegebenenfalls eine internationale Gesellschaft "Medizinische Qualitätssicherung" zu gründen, deren Mitgliedschaft zunächst auf Angehörige deutschsprachiger Länder begrenzt sein soll. Eingehend befaßten sich die Delegierten erneut mit den Folgen staatlicher Änderungen des Gesundheitssystems. So fand ein Beitrag über neue Versorgungsstrukturen in der Bundesrepublik Deutschland hohes Interesse. Die Auswirkungen der leistungsorientierten Krankenhausfinanzierung (LKF), seit dem 1. Januar 1997 in Österreich gültig, lassen sich derzeit schwer abschätzen. Schon vor Erlaß dieser Bestimmung war eine Begrenzung der Kostensteigerung, war ein Bettenabbau zu beobachten. Der Rationalisierungsdruck hat erheblich zugenommen, das Verlangen der Krankenhausträger und der zu ihrer Finanzierung eingerichteten Fonds auf Länderebene, an der Qualitätssicherung maßgeblich beteiligt zu werden, wächst ständig.
Für die Schweiz wird angesichts der auch dort knappen Ressourcen eine Wendung vom regulierten zum marktorientierten System der ärztlichen Versorgung erwartet. Bei allen Lösungsansätzen sind die kaum beeinflußbaren Faktoren "Demographie", "wissenschaftliche Entwicklung", "Erwartung der Patienten" ebenso zu beachten wie ökonomische und fachtechnische Spannungen in der Ärzteschaft. Sogenannte Leistungseinkäufer und sogenannte Leistungserbringer müssen in einem marktorientierten System zusammenarbeiten, wobei die Ärzteschaft die Verantwortung für die entstehenden Kosten übernehmen muß. Dieser Aufgabe kann sie nur auf der Grundlage einer angemessenen Datenbasis gerecht werden, die noch geschaffen werden muß. Während "Managed Care" bislang nur ökonomische Gesichtspunkte verfolgte, werden jetzt zusätzlich Fragen der Qualitätssicherung einbezogen.
Entscheidet der Arzt über Rationierung?
In Zeiten knapper Ressourcen stellt sich die Frage nach der Verantwortung, die der Arzt bei der Behandlung von Versicherten der Krankenversicherungen trägt. Auch wenn ärztliche Leistungen nicht aus dem Leistungskatalog einer Versicherung herausgenommen wurden, vielmehr ein Budget zur Verfügung steht, ergibt sich de facto eine Rationierung, das heißt, der Arzt muß individuell entscheiden, welchem Patienten er unter Berücksichtigung der gegebenen Mittel notwendige Gesundheitsleistungen vorenthält. Hierbei kann er unter Umständen gegen medizinische Standards verstoßen, die bei einer haftungsrechtlichen Beurteilung seines Tuns herangezogen werden. In dem Spannungsfeld zwischen versicherungsrechtlichen Vorgaben und haftungsrechtlicher Verpflichtung kommt der Formulierung medizinischer Standards erhöhte Bedeutung zu; sie erfolgt in aller Regel auf der Grundlage des aktuellen Standes von Wissenschaft und Forschung. Bisher wurde dem wissenschaftlichen Standard der Vorrang vor ökonomischen Überlegungen eingeräumt, eine Situation, die kaum andauern wird. Wenn wirtschaftlichen Gesichtspunkten gegenüber diesem Standard der Vorzug gegeben werden muß, ist zu fragen, ob der Arzt seinen Patienten gegebenenfalls über Defizite der vorgesehenen Behandlung aufklären muß, um ein Übernahmeverschulden zu vermeiden, um dem Patienten das sogenannte Restrisiko aufzubürden. Schließlich ist zu prüfen, ob und in welchem Ausmaße das in vielen Verfassungen verbürgte Recht auf Gesundheit in den skizzierten Konflikt eingreift. Initiative "Privatmedizin" in Österreich
Das auch in Österreich geltende Gebot wirtschaftlicher Behandlung wird dazu führen, daß die Versorgungsansprüche der wachsenden Bevölkerung kaum noch durch Mittel der Gesetzlichen Krankenversicherung gedeckt werden können. Die Österreichische Ärztekammer versucht daher, mit ihrer Initiative "Privatmedizin" Versorgungswünsche der Patienten zu definieren, die auch aus der Sicht des Arztes berechtigt sind, aber nicht unbedingt zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung erfüllt werden sollten, zum Beispiel Sporttauglichkeitsuntersuchungen, Tropentauglichkeitsuntersuchungen und so weiter. Es soll für diese "Privatmedizin" ein besonderer Leistungskatalog entwickelt werden mit einem entsprechenden Fortbildungsangebot für jene Ärzte, die hier tätig werden möchten. Die österreichischen Vertreter haben darauf hingewiesen, dieser Katalog solle keine Anleitung zur Gewinnoptimierung sein. Im übrigen sei es Aufgabe der Politiker, die Versorgungsgebiete zu benennen, auf denen Rationalisierungsmaßnahmen durchzuführen seien. Unter den Länderberichten, mit denen Konsultativtagungen abgeschlossen werden, fanden Entwicklungen in Österreich besondere Aufmerksamkeit. So blockiert der Hauptverband der österreichischen Sozialversicherer trotz eines günstigen Urteils des Verfassungsgerichtes weiterhin die Bildung von Gruppenpraxen; entsprechende Verträge scheiterten, weil die beteiligten Ärzte nicht bereit waren, den geforderten Verzicht auf "Privatmedizin" zu akzeptieren. Ärzte, insbesondere in ländlichen Gebieten, dürften eine erhebliche Einkommenseinbuße zu befürchten haben, da die Bauernversicherung in den Verband der übrigen gesetzlichen Kassen eingegliedert wurde, was zu einer erheblichen Tarifreduktion führte. Die Österreichische Ärztekammer wird weiterhin bemüht sein, mit politischen Mitteln diese Entscheidung rückgängig zu machen. Weitere Einbußen drohen Ärzten, die bisher, überwiegend auf dem Lande, ein Dispensierrecht hatten. Nach einer neueren Entscheidung des österreichischen Verfassungsgerichtes gilt nun auch in Österreich für Apotheker Niederlassungsfreiheit. Läßt sich ein Apotheker im Umkreis von zwei Kilometern und weniger eines Arztes mit Dispensierrecht nieder, so verliert dieser ohne jede Übergangsfrist dieses Recht. Schließlich haben die Kassen verfügt, daß künftig in ihren Ambulatorien auch Kronenersatz angeboten wird (der Österreichischen Ärztekammer gehören Zahnärzte als besondere Sektion an). Die skizzierten Vorgänge haben die Österreichische Ärztekammer zu einer offensiveren Gesundheitspolitik veranlaßt; erstmals wurde ein Delegiertentag, vergleichbar dem Deutschen Ärztetag, den es in dieser Form in Österreich nicht gibt, abgehalten; an einem "Aktionstag" blieben fast alle Praxen geschlossen. Strittig: Kostenerstattung für EU-Bürger
Im Anschluß an den Bericht aus Luxemburg entspann sich eine lebhafte Debatte über die Folgewirkungen des vom Europäischen Gerichtshof erlassenen Urteils über den Ersatz der Kosten, die einem EU-Bürger in einem anderen Mitgliedsstaat in der Union entstanden sind. Mehrheitlich sah man hier eine Gefahr für die Gesundheits- und Sozialbudgets insbesondere kleinerer EU-Länder, wenn zum Beispiel ihre Bürger Leistungen in einem anderen Lande erhalten, für die man im Heimatland keine Indikation sieht. Dennoch muß die Krankenkasse des Heimatlandes in diesem Falle bis zur inländischen Obergrenze Kostenersatz leisten. Dieser Kritik wurde der Gesichtspunkt entgegengehalten, daß die Luxemburger Richter mit ihrer Entscheidung die Freiheit der Dienstleistungen, einen allen übrigen Überlegungen übergeordneten Gesichtspunkt, fördern wollten. E. D.

 

 

Leitartikel und Seite eins - Kommentare

 

Weinhold, Prof. Dr. med. Ernst-Eberhard

Gesundheitspolitik: Honorierung und Krisenmanagement

in: Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 3 (17.01.1997), Seite A-79
POLITIK: Leitartikel

Mit der Einführung von Obergrenzen für die Summe der Vergütung aller Vertragsärzte ist ein wesentliches Ziel der Honorarverträge zwischen Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) - die angemessene Vergütung der ärztlichen Leistungen - noch schwieriger als früher zu erreichen.


Die "Angemessenheit" war stets ein unbestimmter Rechtsbegriff, wie er im Sozialgesetzbuch (SGB) oft vorkommt. Während sonst die Sozialgerichte bei der Klärung von Rechtsauslegungen meistens hilfreich gewesen sind - wenn auch nicht immer zur Freude der zahlungspflichtigen Krankenkassen -, haben sie sich bei der Definition des Begriffs der "Angemessenheit" der Vergütung der ärztlichen Leistungen hinter dem Vertragsgegenstand "Gesamtvergütung" in Sicherheit gebracht. Bezieht sich aber die "Angemessenheit" auf die Gesamtvergütung, sind es die Elemente, aus denen die Bewertung der ärztlichen Leistung abgeleitet wird - der Bewertungsmaßstab und die Honorarverteilungsmaßstäbe (HVM) -, die zur Manövriermasse einer Angemessenheit der Leistungsvergütung im einzelnen werden.
Zur Zeit gibt es keine stabilen Leistungspreise für die ärztliche Behandlung von Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen (GKV). Die "Honorargerechtigkeit", die von den Ärzten gefordert und die von den Patienten erwartet wird, ist nicht einmal in den Durchschnittsbewertungen zu garantieren, in denen sich der PreisLeistungs-Bezug in der Vergütung vertragsärztlicher Behandlungen ohnehin aufgelöst hat. Der "Wirtschaftsbereich Gesundheit" mit leistungsbezogenen Bewertungen der ärztlichen Arbeit ist zugunsten anderer Bereiche der Marktwirtschaft in einen "Sondermarkt" mit zugeteilten Ressourcen verwandelt worden. An die Stelle von Marktregeln, in denen sich soziale Unterschiede auswirken können, tritt in einem künstlich begrenzten, sozial finanzierten Anteil der Gesamtwirtschaft die Verteilung mit der immanenten Forderung nach "Verteilungsgerechtigkeit". Diese Variante einer Gerechtigkeit ist für den einen gerecht, für den anderen ungerecht, weil Leistung subjektiv besetzt ist und ihr Erfolg zumindest in der Patientenbehandlung nur selten vergleichbar ist. Es ist ähnlich wie mit dem politischen Begriff einer "sozialen Gerechtigkeit", der "Gerechtigkeit" als ordnenden Rechtsbegriff unbrauchbar gemacht hat. Jeder kann ihn zum eigenen Vorteil drehen und wenden.


Krankenversicherung auf Markt getrimmt?
Zur Zeit läuft in der Gesetzgebung der Versuch, aus dem GKV-System einen sozial finanzierten, geschützten Marktbereich zu formen. Im Rahmen von Selbstverwaltungsvereinbarungen sollen sich Wettbewerbselemente ordnend und qualitätsfördernd auswirken und dabei die Vorteile einer pluralistischen Wirtschaftsstruktur nutzen: mit Freiberuflern, selbständigen Gesundheitsberufen, Handwerkern und mit im eigenen wie im Patienten-Interesse sparsam arbeitenden Krankenhäusern.
Da aber der politische Machtkampf nicht entschieden ist zwischen denen, die ein sozialistisches Gesundheitswesen in seiner Funktion als Herrschaftsinstrument in einem entscheidenden Lebensbereich der Bürger unbedingt erhalten wollen, und denen, die überall in der Gesellschaft soviel Freiheit und Verantwortung wie möglich wirksam werden lassen wollen, ist es Sache der Ärzte, ihre Option für eine qualifizierte, persönliche und humane Krankenversorgung offenzuhalten. Unter so instabilen politischen Verhältnissen gerät die Vorstellung von einer Honorargerechtigkeit für den Arzt zur Utopie. Für die gesamte Berufsgruppe müssen an die Stelle des Kampfes aller gegen alle um die zu geringen Ressourcen gemeinsame Überlebensstrategien treten. Die Konzepte dafür müssen in erster Linie die dem Patienten verantwortliche Arztrolle festschreiben.
Einheitliche Bewertungsmaßstäbe und HVM sind Versuche, eine hochentwickelte und effiziente ambulante Krankenversorgung durch unruhige und finanziell magere Jahre zu steuern. Mehr sollte von ihnen nicht erwartet werden. In ihrem Rahmen bleibt den Ärzten nur übrig, für die Krankenversorgung das Beste daraus zu machen. Dafür wird ein Krisenmanagement benötigt. Denn trotz der Finanzierungsdefizite gebietet es der ärztliche Auftrag, die leistungsfähigen Versorgungsstrukturen zu erhalten. Dazu haben die Kassenärztlichen Vereinigungen einen gesetzlichen Sicherstellungsauftrag. Sie müssen möglich machen, was weder der einzelne Arzt noch eine Gruppe von Ärzten zustande bringen kann.
Die Kassenärztlichen Vereinigungen sind eben nicht nur Honorarverteilungs- und Verwaltungsbehörden. Sie sind auch nicht nur dazu da, mit den Krankenkassenverbänden Verträge zu schließen. Sie sind in erster Linie eine Genossenschaft von Ärzten, eine ärztliche Organisation, die ermöglichen soll, was ein Vertragsarzt auch in finanziell bedrängten Zeiten an qualifizierter Krankenversorgung, unter Einsatz seiner und seiner Kollegen persönlichen und medizinisch-technischen Möglichkeiten, für seine Patienten leisten kann.
Die Ärzte in der Krankenversorgung dürfen in solchen Zeiten nicht gegeneinander streiten. So hervorragend ist keiner, daß er durch kollegiale Zusammenarbeit nicht noch besser werden könnte. Mit ihren Genossenschaften, den Kassenärztlichen Vereinigungen, dienen die Ärzte ebenso der Patientenversorgung wie mit ihrer eigenen Arbeit. Organisation, Kommunikation und Qualitätssicherung sind Gemeinschaftsaufgaben, die nicht jeder für sich aufbauen kann. Die "Monopolstellung", die von den volkswirtschaftlichen Dogmatikern lediglich als Marktprivileg beurteilt wird, ist unverzichtbarer Teil einer modernen Arbeitsteilung in der praktizierten Medizin. Sie steht deshalb nicht als beliebig austauschbare Vertragsvariante zur Disposition.
Es ist notwendig, daß der Gesellschaft wieder klar wird, daß die persönliche Krankenversorgung nicht im Dienste von Krankenkassen oder, von Ausnahmen abgesehen, auch nicht im Dienste des Staates erfolgt, sondern im Dienste der Gesundheit des einzelnen Menschen. Daran ändert auch der soziale Ausgleich nichts, der durch die Krankenkassenbeiträge oder durch eine Steuerfinanzierung erfolgt. Nicht wer zahlt, schafft an, sondern es ist der Auftrag des Arztes in hippokratischer Tradition, der sich auch in der deutschen Gesetzgebung wiederfindet. Insbesondere die Krankenkassen als privilegierte Kassierer von BeitragsMilliarden scheinen sich nicht immer darüber bewußt zu sein, daß sie dieses Geld verwalten, um in Anspruch genommene Leistungen zugunsten ihrer Versicherten bezahlen zu können, und nicht dafür, die Versicherten als Nutznießer von Dumping-Preisen einer fragwürdigen Situation auszusetzen. Auch das könnte einmal Anlaß zum Wechsel einer Krankenkasse werden.
Nach ihrem beruflichen Selbstverständnis können sich die Ärzte nicht ökonomisch fremdbestimmen lassen. Sie müssen jeweils tun, was sie können, nach bestem Wissen und Gewissen. Eine Gesellschaft, die dies erhalten will, muß wissen, daß sie dafür Spielräume offenhalten muß. Die Menschen und ihre Schicksale sind verschieden, und aus dieser Verschiedenheit resultiert ein unterschiedlicher Bedarf an Ressourcen für ihre Heilbehandlung. Das verbietet auch bei Nutzung statistischer Durchschnitte eine Budgetierung. Ebenso verbietet sich unter Ärzten ein vorrangiger Wettbewerb um hohe Gewinne aus ihrer Berufstätigkeit. Wer darauf nicht verzichten will, sollte einen anderen Beruf wählen. Die hohe Zahl an Interessenten am Arztberuf läßt vermuten, daß dieses Merkmal des Arztberufes nicht allen gegenwärtig ist.
Die finanzielle und strukturelle Krise in der Krankenversorgung ist mit motivierten und kollegial eingestellten Ärztinnen und Ärzten jedenfalls eher zu überwinden als mit einem Wettbewerb, bei dem der Arztberuf unter die Räder gerät.


Prof. Dr. med. Ernst-Eberhard Weinhold
Dorfstraße 140
27637 Nordholz

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Clade, Dr. Harald

Gesundheitsreform/Koalitionspapier: Kassenärzte wollen nicht Konkursverwalter werden

in: Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 10 (12.03.1999), Seite A-591
POLITIK: Leitartikel

Verbände der Leistungsträger befürchten Entsolidarisierung und Amerikanisierung des deutschen Gesundheitswesens.
Die Resonanz der Spitzenverbände der Leistungserbringer im Gesundheitswesen auf das Koalitionspapier zur "Strukturreform 2000" ist fast einhellig negativ: Die Bundesärztekammer, die Kassenärztliche Bundesvereinigung, die meisten Ärzteverbände, die Zahnärzteschaft, die Apotheker und die Pharmaindustrie lehnen die Reformoptionen der Koalition als unannehmbar ab, weil sie zu einer völligen Umstülpung des Systems führen und die Leistungsträger erneut zum Lastesel der Kostendämpfung machen würden. Anders der BDA Berufsverband der Allgemeinärzte Deutschlands - Hausärzteverband - e.V.: Er kann sich mit wesentlichen Elementen der beabsichtigten Strukturänderungen anfreunden, weil er darin hausärztliche Partikularinteressen erfüllt sieht. Auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft e.V. (DKG) gewinnt dem Bonner Szenario Gutes ab; die DKG bezeichnet die beabsichtigte institutionelle Öffnung der Krankenhäuser als einen "zukunftsweisenden Schritt". Die Krankenhausträger lehnen jedoch das Einkaufsmodell ebenso ab wie die reine "Finanzierungsmonistik".
Die Spitzenverbände der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) "glänzen" mit beredsamer Zustimmung oder "hektischem" Schweigen, lassen doch die Bonner Vorstellungen erkennen, daß die Krankenkassen bei der Formulierung des Koalitionspapiers mit die Feder geführt haben.
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung sieht sich bereits vor vollendete Tatsachen gestellt: Der Ärzteschaft wurde nicht einmal die Chance geboten, ihre Vorschläge einzubringen. Mit den Eckpunkten zur Gesundheitsreform droht die Gefahr, daß das gewachsene, gegliederte System der gesundheitlichen Sicherung in Deutschland zu anderen Ufern driftet, indem starke zentralverwaltungswirtschaftliche Strukturelemente mit pseudowettbewerblichen Regulativen amerikanischer Prägung verbunden werden. Flickenteppich
Dies führt in ein zersplittertes bis chaotisches Versorgungsangebot, wobei die gemeinsame Selbstverwaltung von Vertragsärzten und Krankenkassen zerschlagen wird. Zudem sollen den Krankenkassen so viel Macht- und Gestaltungsbefugnisse zugeschanzt werden, daß sie künftig, ohne das Versicherungsrisiko voll zu übernehmen, die Definitions- und Gestaltungsmacht hätten. Die Kassenärztlichen Vereinigungen würden weitgehend des Sicherstellungsauftrages entledigt.
Dr. med. Winfried Schorre, Vorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), kündigte an: "Den Ausverkauf des Solidarsystems und eine Amerikanisierung des Gesundheitswesens wird die Ärzteschaft mit allen Mitteln bekämpfen. Die Kassenärztlichen Vereinigungen werden nicht als Konkursverwalter des bisherigen Systems zur Verfügung stehen und damit die Wettbewerbspolitik der Krankenkassen finanzieren."
Die KBV wirft der Koalition Wortbruch vor, weil sie das auf ein Jahr befristete sektorale Budget unter anderem Vorzeichen (Globalbudget) für die vertragsärztlichen Leistungen, die Arznei- und Heilmittel auf Dauer fortsetze. Die Mindestforderung der KBV: Unterhalb des Globalbudgets muß es für alle Leistungsbereiche gleiche Vergütungssysteme geben. Schon jetzt gibt es zwischen ambulantem und stationärem Sektor und an den Schnittstellen ambulant/stationär schieflastige Finanzierungssysteme, zumeist zugunsten des stationären Bereichs.
Die Kassenärzte befürchten zudem, daß über den jetzt beabsichtigten forcierten Wettbewerb der Krankenkassen untereinander eine flächendeckende, bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung mit qualitativ hochstehenden Leistungen gefährdet wird. Die strikte Bindung des höchst zulässigen Ausgabenanstiegs in der Gesetzlichen Krankenversicherung an die Entwicklung der Grundlohnsumme legitimiere die Krankenkassen als eigentliche Kostenträger, das Morbiditätsrisiko weitgehend auf die Leistungserbringer zu verlagern und diese als Rückversicherer zu mißbrauchen. Die Regierungskoalition macht keinen Hehl daraus, die Leistungserbringer als eigentliche Lastträger der Kostendämpfungspolitik weiter einzuspannen.
Eine fatale Entwicklung bahnt sich auch insofern an, als alle Regulative dazu beitragen, die Budgets in den einzelnen Sektoren zu verfestigen und durch die strenge Abschottung zu verhindern, daß die finanziellen Zuflüsse tatsächlich der Leistung folgen. Hinzu kommt die künftig einseitig verstärkte Befugnis der Krankenkassen zur Definition des Leistungsgeschehens, der Versorgungsstrukturen und der Abläufe. Dadurch wird die gemeinsame Selbstverwaltung faktisch abgeschafft, denn die ärztliche Selbstverwaltung wird ihrer wichtigsten Funktionen weitgehend enthoben.
Die Schieflage sieht die KBV vor allem darin begründet, daß die Krankenkassen alles und jedes bestimmen dürfen, ohne zugleich die Last der Verantwortung der Ergebnisse des Handelns (und Unterlassens) und der durch die Politik und die Kassen verursachten Strukturverwerfungen zu übernehmen. Die Vertragsärzte sehen einen zukunftsweisenden Weg in der Weiterentwicklung bewährter Strukturen, der Durchführung der ambulanten Versorgung nach qualitativ einheitlichen Kriterien und KV-verbindlichen Vertragsbedingungen. Dabei ließen sich auch auf dem Fundament des SGB V Offensiven für die gemeinsame und sektorenübergreifende Berufsausübung in kooperativen Praxisstrukturen, vernetzten Praxen und Verbünden auch mit dem Kliniksektor bei gutem Willen verwirklichen, so Schorre.
Einkaufsmodell
KBV-Hauptgeschäftsführer Dr. jur. Rainer Hess warnte vor der Presse in der letzten Woche in Bonn die Politik davor, die Kassen zu ermächtigen, über das Einkaufsmodell die medizinisch notwendige Regelversorgung zu gefährden. Den Krankenkassen dürfe nicht zugestanden werden, im Rahmen von Einzelverträgen mit Vertragsärzten oder Gruppen von Ärzten nach der Art des "billigen Jakobs" Leistungsanbieter zu verdingen, je nach Gusto und Kassenlage und nach den Angebotsbedingungen (Stichwort: "Ärzteschwemme"). Es besteht zudem die Gefahr, daß sich die Krankenkassen dabei in erster Linie am Interesse des (gesunden) Versicherten, nicht aber an dem des (kranken) Patienten orientieren.
Selektive Verträge und eine Zerstörung des regionalen Gleichgewichts können dazu führen, daß die Krankenkassen die Gelder je nach Ressourcenlage und ohne Zustimmung der Kassenärztlichen Vereinigungen nach Belieben regional unterschiedlich und auf eine bevorzugte Versorgung bestimmter Patientengruppen verteilen. Die Einheitlichkeit und Ausgewogenheit der Versorgung auch chronisch Kranker ginge dadurch verloren. Bei einer Sektionierung der Budgets käme der einzelne Arzt unter die Räder, denn auf Dauer kann er den wachsenden Wettbewerbsdruck (auch im Vergleich zum Kliniksektor) und das Kassendiktat nicht aushalten.
Die Kassenärztlichen Vereinigungen wollen nicht die Rolle des Lückenbüßers übernehmen und für das geradestehen, was die Krankenkassen und "Netz-Verbündeten" nicht selbst erledigen wollen oder können. Eine reine Notariatsfunktion der KVen im Zusammenhang mit Modellvorhaben und Strukturverträgen führe nicht nur zu einer Sinnentleerung der kassenärztlichen Selbstverwaltung, sondern bedeute auch das Ende des Sicherstellungsauftrags.
Gefahren von Sonderverträgen etwa bei der Versorgung von chronisch Kranken und atomisierten Strukturverträgen bestehen auch für die Patienten. Sie wären die Verlierer, wenn die verbleibende Regelversorgung unter den Deckel eines schrumpfenden Restbudgets gezwängt würde. Gift für die Versorgung ist auch die von der Koalition befürwortete Umstellung der Vergütung auf mehr qualitätsorientierte BonusMalus-Regelungen. Dies könnte zu offenen oder verdeckten Rationierungsmaßnahmen führen - begleitet von der rascher fortschreitenden Entsolidarisierung der Krankenkassen. Die Kassenärztlichen Vereinigungen könnten diesem Negativtrend nichts entgegensetzen. Eine stagnierende Gesamtvergütung könnte zu unkoordinierten, politisch nicht gewollten Rationierungsprozessen führen.
Positivliste
Nach dem Vereinbarungspapier sollen die derzeitigen Zuzahlungen bei Arzneimitteln in Höhe von acht, neun und zehn DM, je nach Packungsgröße (N1, N2, N3), vorerst erhalten bleiben. Es werde aber noch geprüft, ob sich die Direktbeteiligungen künftig nach medizinischen Kategorien oder Indikationen staffeln ließen. Geplant ist die Auflage einer Positivliste, die all jene Präparate aufnehmen soll, deren Kosten von den Krankenkassen übernommen oder erstattet werden. Geplant ist die Errichtung eines unabhängigen Arzneimittelinstituts, das die Liste mit Experten zusammenstellen soll. Nach Schätzungen beläuft sich das Volumen der Präparate "von zweifelhaftem Nutzen" auf sechs bis sieben Milliarden DM. In der zahnärztlichen Versorgung soll durch eine veränderte Vergütung der Zahnärzte die Prophylaxe gestärkt werden. Dr. Harald Clade

 

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Maus, Josef

Strukturreform: Kalte Rationierung von Gesundheitsleistungen

in: Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 20 (21.05.1999), Seite A-1319
POLITIK: Leitartikel

Der Arbeitsentwurf aus dem Hause Fischer stößt auf breite Ablehnung. Die Ärzte befürchten eine massive Beeinträchtigung der Versorgung.
Einen Vorwurf mag die neue Bundesgesundheitsministerin nun wirklich nicht mehr hören: Ihre Ankündigungen und Aussagen zur Gesundheitsreform 2000 blieben im Unverbindlichen. Seit Ende April verweist Andrea Fischer deshalb wiederholt auf den Arbeitsentwurf ihres Ministeriums zum Gesetz über die anstehende Reform. Geholfen hat ihr das jedoch wenig. Kaum lag das mehr als 100 Seiten umfassende Papier vor, wird ihm nämlich schon in "Bonner Kreisen" ein wenig schmeichelhaftes Etikett angeheftet: "Privatentwurf aus dem Hause Fischer", heißt es vielsagend. Alleingang innerhalb
der Koalition
Daß dieser Entwurf (dazu DÄ, Heft 19/1999) auch dem großen Koalitionspartner der grünen Ministerin fertig formuliert (quasi als Paket) zugestellt worden ist, spricht einerseits für den Willen Fischers, der Reform den eigenen Stempel aufzudrücken. Andererseits deutet dies nicht gerade auf einen engen Schulterschluß mit der SPD-Fraktion hin. Andrea Fischer - seit ihrer Amtsübernahme in ständige Querelen mit dem SPDGesundheitsexperten Rudolf Dreßler MdB verstrickt - läuft Gefahr, sich zu isolieren. Auf Freunde und Förderer unter den Betroffenen kann sie (wie auch ihre Vorgänger) ohnehin nicht hoffen. Dafür sind die geplanten Einschnitte zu gravierend, die Kerngedanken der Reform, die fortgesetzte Budgetierung und eine deutliche Machtverschiebung zugunsten der Krankenkassen, zumindest in der Ärzteschaft zu verpönt. Entsprechend fielen die ersten Reaktionen auf den Arbeitsentwurf aus: Ablehnung allenthalben, lediglich der Berufsverband der Allgemeinärzte Deutschlands (BDA) hält sich momentan zurück, weil er für die Hausärzte einige positive Ansätze sieht und wohl auch noch auf weitere Verbesserungen hofft.
Demgegenüber weist die Kassenärztliche Bundesvereinigung den Entwurf in toto zurück. Der Vorsitzende der KBV, Dr. med. Winfried Schorre, befürchtet, "daß viele Ärzte nicht mehr bereit sein werden, unter diesen Bedingungen an der kassenärztlichen Versorgung teilzunehmen". Ebenso fraglich sei, ob die KVen überhaupt noch in der Lage seien, die ambulante Versorgung sicherzustellen, wenn zugleich die Krankenkassen in einem Globalbudget direkt mit einzelnen Ärzten Verträge schließen können.
Im Hinblick auf die Arzneimittelversorgung riskiere die Bundesregierung mutwillig sogar einen "Zusammenbruch in weiten Teilen des Landes". Fischers Entwurf sieht bei der Festsetzung der Budgets die Orientierung an den drei Regionen mit den geringsten Ausgaben vor und verkennt damit auch nach Auffassung der pharmazeutischen Industrie die (zumeist strukturell bedingten) unterschiedlichen Gegebenheiten vor Ort.
Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) geht nicht weniger hart mit der Fischer-Vorlage ins Gericht. "Wenn die Vorstellungen zur Ausgestaltung des Globalbudgets Wirklichkeit werden, kommt die kalte Rationierung von Gesundheitsleistungen", prophezeite Wolfgang Pföhler. Beim Übergang zur monistischen Krankenhausfinanzierung, so der DKG-Präsident, gebe es kein Konzept für die Gegenfinanzierung. Die Folge sei, daß die Kliniken die Instandhaltung letztlich selbst bezahlen müßten. Ein massiver Stellenabbau und Lücken in der Patientenversorgung wären bei solchen Rahmenbedingungen unvermeidbar.
Nur drei Wochen bis zum nächsten Entwurf
Ist das nun alles bloßes "Kriegsgeschrei" oder doch Ausdruck ernsthafter Sorgen um die Zukunft des Gesundheitswesens? Die Bundesgesundheitsministerin hat nur wenig Zeit, diese Frage zu beantworten. Bereits am 25. Mai soll der Referentenentwurf zur Gesundheitsreform vorliegen. Das ist dann die Grundlage für den Kabinettsbeschluß, dem die Entscheidung des Bundestages und Bundesrates über das Gesetz folgen werden.
Im Augenblick deutet die allgemeine Stimmungslage (auch die politische) eher auf das Scheitern der Reform hin. Gut möglich aber auch, daß am Ende nur noch ein Reförmchen übrigbleibt. Josef Maus

 

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Glöser, Dr. Sabine

Kassenärzte: Budgetkoller

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 46 (13.11.1998), Seite A-2869
Seite eins

Mit Erstaunen, Beunruhigung, Protest haben die Vertragsärzte auf die von der neuen Regierungskoalition angekündigte "vorläufige Ausgabenbegrenzung" im Gesundheitswesen reagiert. Sie warnen vor einer Rückkehr zur reinen Kostendämpfungspolitik mit starren Budgets. Die gehören für den Vorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Dr. med. Winfried Schorre, nicht zu den akzeptablen Rahmenbedingungen der Gesetzlichen Krankenversicherung.
Der KBV-Vorsitzende befürchtet, daß die Begrenzung der Kassenausgaben zu Lasten der ambulanten Versorgung geht. Es könne nicht sein, sagte er bei einem Symposium der KBV in Königswinter, daß die ungebrochene Ausgabendynamik der Kassen für das Krankenhaus den ambulanten Sektor unter den starren Grenzen eines Budgets erdrückt - aufgrund der Unfähigkeit der Politik, die Macht der Krankenhausträger zu reduzieren. Hinzu kommt: Die Koalition will die finanziellen Belastungen der Versicherten zum Teil zurücknehmen, die Gegenfinanzierung ist jedoch noch offen. Falls diese nicht vorgesehen oder möglich sei, mutmaßt Schorre, werde sie zu Lasten der Leistungserbringer und deren Budgets erfolgen. Er warnte zugleich vor den Folgen einer strikten Ausgabendeckelung. Unter einem Budget müsse die Leistungsmenge an die Menge des zur Verfügung stehenden Geldes angepaßt werden. Die Konsequenz wäre, "mit einem Bein im Fettnäpfchen der Rationierung zu stehen".
Als richtigen Weg bezeichnete der KBV-Vorsitzende indes die "mühsame Entwicklung" eines Flexibilisierungsprozesses in der vergangenen Legislaturperiode. Dazu zählten die Einführung von ArzneimittelRichtgrößen und Regelleistungsvolumina. Schorre hält die Konzentration auf das medizinisch Notwendige für unabdingbar, um den knappen finanziellen Ressourcen der Gesetzlichen Krankenversicherung Rechnung zu tragen. Und dazu würden sich die Vertragsärzte bekennen, betonte er. Dieses Umdenken erkenne man an der geplanten Neugestaltung des Laborbereichs und der Umstrukturierung des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs zu einer Gebührenordnung mit Leistungskomplexen und sinnvoller Mengensteuerung.
Eines steht für den KBV-Vorsitzenden fest: Die Leistungserbringung und auch die Finanzierung müssen sich am Versorgungsbedarf des Patienten orientieren. Aufgabe der Selbstverwaltung - und nicht der Politik - sei es nun, den Versorgungsbedarf zu definieren. Dr. Sabine Glöser

 

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Jachertz, Norbert

Gesundheitspolitik: Der Grund-Konflikt

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 47 (20.11.1998), Seite A-2941
Seite eins

Andrea Fischer, die neue Bundesgesundheitsministerin, wird derzeit von aller-lei Kommentatoren darauf eingestimmt, was ihr blühe, wenn sie im Gesundheitswesen reformieren wolle. Sie werde es mit starken Lobby-Gruppen zu tun haben, an denen schon ihre Vorgängerinnen und Vorgänger gescheitert seien. Genannt werden "die mächtige Pharmaindustrie" und "die Ärzte"; unterschlagen werden zumeist die Krankenkassen. Interessenpolitik funktioniert im Gesundheitswesen nicht besser und nicht schlechter als etwa in der Wirtschaftspolitik oder in der Agrarpolitik. Die Wirtschaftsminister hatten immer - egal unter welcher Regierung - ein offenes Ohr für die Interessenverbände, insbesondere der Großindustrie. Die brauchten in den letzten Jahren nur mit den Keulen Arbeitsplatzabbau und Standortverlagerung zu winken, schon knickte die Regierung ein. Die Landwirtschaft wurde sogar direkt am Kabinettstisch durch einen der Ihren repräsentiert.
In der Gesundheitspolitik war es ein wenig anders. Hier hat sich der für die Krankenversicherung zuständige Minister überwiegend als Gegenpart der vermeintlich mächtigen Gruppen verstanden und sich in der Regel eher den Krankenkassen verbunden gefühlt. Erst Horst Seehofer hat hier gewechselt: In der einen Legislaturperiode kamen die Krankenkassen dran, in der nächsten die Leistungserbringer. Zur Zeit scheinen die Krankenkassen wieder am Zuge zu sein. Jedenfalls sieht das Vorschaltgesetz, das mit Hochdruck innerhalb eines Monats durch das Parlament gedrückt werden soll, ohne daß die Beteiligten groß dagegen auffahren könnten, über weite Strecken so aus, als käme es aus dem AOK-Bundesverband. Die Erfahrungen der früheren Bundesgesundheitsminister lehren, daß es nicht der Sache dient, allzusehr eine Seite zu bedienen. In der Gesundheitspolitik müssen vielmehr eigene Akzente gesetzt werden, unter Berücksichtigung der (gegenläufigen) Interessen, aber nicht unter einseitigem Nachgeben gegenüber dem einen oder anderen.
Maßstab für einen Gesundheitsminister kann eigentlich nur die humane Krankenversorgung sein, nicht einmal stabile Beitragssätze, obwohl die öffentliche Diskussion seit Jahren offenbar die als den eigentlichen Gegenstand von Gesundheitspolitik ansieht. Blüm oder Seehofer sind nicht an den Interessengruppen gescheitert, wenn sie denn gescheitert sind (das wäre noch eine Untersuchung wert), sondern an dem Grund-Konflikt der Gesundheitspolitik, mit dem sich auch Frau Fischer herumschlagen muß: Die Erwartungen an die medizinische, ärztliche und pflegerische Versorgung sind hoch, steigen, der objektive Behandlungsbedarf nimmt zu, während die Finanzmittel in diesem Ausmaß nicht nachkommen. Hier hilft keine Gesundbeterei. Darunter fällt auch der beliebte Hinweis auf die Rationalisierungsreserven. Kanzler Schröder hat diese alte Gebetsmühle gerade während der Regierungserklärung wieder gedreht. Es gibt sicher Rationalisierungsreserven. In einem Markt, in dem über 500 Milliarden Mark umgesetzt werden, kann das gar nicht anders sein. Aber bisher fehlen überzeugende Nachweise, daß mit Rationalisierung der steigende Leistungsbedarf tatsächlich bewältigt werden kann. Es gibt allerdings Heilslehren (und die sollten als solche erkannt werden), als da sind: strikte Budgetierung, reiner Wettbewerb oder neuerdings Primärarztsystem, Vernetzung, Einkaufsmodell. Das mag alles etwas bringen. Letzten Endes bleibt der Grund-Konflikt: Zu wenig Geld für zu (?) hohe Ansprüche. Die Schlußfolgerung für die Gesundheitspolitik heißt schlicht und dramatisch: Verbesserung der "Einnahmeseite" oder Leistungsabbau bis hin zur Rationierung. Wenn letztere unausweichlich erscheint, muß es offen ausgesprochen werden - und zwar von Gesundheitspolitik und Krankenkassen. Es wäre unredlich, von den Leistungserbringern zu erwarten, das Rationieren gleichsam stillschweigend zu besorgen. Das mag noch angehen, solange es um Firlefanz geht, nicht aber, wenn echte medizinische Leistungen betroffen sind. Eine Anfrage des Deutschen Ärzteblattes an seine Leser hat in dieser Hinsicht einiges zutage gefördert: Von 450 Lesern sind dreiviertel der Meinung, es werde bereits rationiert; sie haben aufgelistet, wo das heute schon der Fall ist. Die Befragung wird zur Zeit ausgewertet, das Ergebnis wird in einem der nächsten Hefte veröffentlicht. Norbert Jachertz

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Jachertz, Norbert

Vilmar: Tabubruch

in: Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 1-2 (08.01.1999), Seite A-1
Seite eins

Mit einer provozierenden, mißverständlichen und prompt auch mißverstandenen Kommentierung der Kostendämpfungspolitik hat Bundesärztekammerpräsident Karsten Vilmar für Aufregung, ja öffentliche Empörung gesorgt. Zunächst jedenfalls. In einem Rundfunkinterview (mit dem NDR) hatte er auf den Widerspruch zwischen stagnierenden Finanzmitteln für das Gesundheitswesen einerseits und der steigenden Lebenserwartung andererseits hingewiesen, und dann kam der ominöse Satz: Angesichts dessen müsse sich die Gesellschaft überlegen, "ob wir das sozialverträgliche Frühableben fördern müssen". Die Irritation war groß. Politiker, Verbandsfunktionäre, einzelne Ärzte legten Vilmar den Rücktritt nahe. Manch einer wollte freilich ein paar Tage später das alles gar nicht so gemeint haben.
Denn inzwischen war die Diskussion in anderes Fahrwasser geraten. Vilmar hatte seine "ironisch überzogenen Äußerungen" in einem weiteren Interview (mit dem Kölner Stadt-Anzeiger) zurechtgerückt. Und angefügt: "Wenn dadurch die Bevölkerung oder gar Patienten irregeführt wurden, dann tut mir das aufrichtig leid."
Damit war der Weg frei zu einer offenen Auseinandersetzung über das Problem. Über Rationierung als technokratische Chiffre läßt sich abstrakt trefflich diskutieren. Den Mann oder die Frau von der Straße berührt das wenig, solange das Tabu gewahrt bleibt, das da heißt, über die harte Konsequenz von Rationierung zu schweigen. Erst der Tabubruch stört.
Wenn in diesem Jahr 1999 über eine erneute Strukturreform im Gesundheitswesen befunden wird, dann sollte ihr eine vorbehaltlose und ehrliche Debatte vorausgehen. Norbert Jachertz

 

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Rieser, Sabine

Diskussion mit Andrea Fischer: Mehr Geld gibt es nicht

in: Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 20 (21.05.1999), Seite A-1305
Seite eins

M inister(innen) rauschen zu sogenannten Diskussionsveranstaltungen meist gehetzt heran, überziehen ihre Redezeit und verkürzen damit die 15 Minütchen, die noch zur Debatte bleiben. Eine Ausnahme machte in der vergangenen Woche die Bundesgesundheitsministerin: Andrea Fischer nahm sich mehr als zwei Stunden Zeit, um während des Berliner Hauptstadtkongresses "Medizin und Gesundheit" mit Ärzten, Logopäden, Altenpflegern und anderen im Gesundheitswesen Tätigen über die Gesundheitsreform 2000 zu diskutieren.
Fischer verteidigte vor aufgebrachten Zuhörern ihre Pläne und machte unmißverständlich klar: egal wie die Argumente lauten, mehr Geld wird es für das Gesundheitswesen nicht geben. Es sei Teil des Staatswesens und könne nicht stetig mehr finanzielle Ressourcen beanspruchen. Außerdem, gab sie zu verstehen, werde das Geld sowieso nie reichen, weil die Nachfrage im Gesundheitswesen nun einmal unbegrenzt sei.
Die Anwesenden hatten solche Argumente jedoch hörbar satt, und das ist aus ihrer Sicht verständlich. Zwar klingt es stets nach viel Geld, wenn Politiker anführen, wieviel "die" ambulante Versorgung oder "das" Gesundheitswesen kosten. Doch Deutschland ist auch kein Zwergstaat, sondern ein Land, in dem rund 80 Millionen Einwohner ärztlich und pflegerisch betreut werden müssen. Zudem sehen all die üppigen Zahlen, heruntergerechnet auf einzelne Ärzte oder Leistungen, ganz anders aus. "Das ist Mangelverwaltung, wenn ich pro Quartal und Patient gerade neun DM für Heilmittel zur Verfügung habe", schimpfte ein Arzt. Ein anderer ergänzte, neue HIV-Medikamente verschlängen Tausende von Mark. Da könne man doch nicht allen Ernstes behaupten, die ließen sich locker durch ein paar Einsparungen bei älteren Medikamenten hereinholen.
Fischer bekam jedoch nicht nur wütende Statements zu hören, sondern hier und da auch Beifall. Damit gaben die Ärzte zu verstehen, daß sie manches Verhalten ihres Berufsstandes durchaus kritikwürdig finden. Außerdem kann man Sätzen wie "Im Gesundheitswesen heißt innovativ sein mehr als nur überlegen, wie neue Mittel ins System kommen" wohl auch nur zustimmen. Sabine Rieser

 

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Porzsolt, Prof. Dr. med. Franz; Hart, Prof. Dr. jur. Dieter

Zwischen Recht und Ökonomie

in: Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 19 (09.05.1997), Seite A-1242
POLITIK: Kommentar

Lieber eine Untersuchung zu viel als eine zu wenig, ist die von den meisten Ärztinnen und Ärzten akzeptierte Strategie, um Konflikte zwischen Recht und Medizin zu vermeiden. Diese Strategie führt aber zwangsläufig zum Konflikt zwischen Medizin und Ökonomie.
Jeder Arzt kennt Untersuchungen, deren Streichung keinen Einfluß auf die Quantität und Qualität des Lebens der Leistungsnehmer (Patienten) hätte. Die Streichung hätte aber sehr wohl Einfluß auf die wirtschaftlichen Überlebenschancen der Leistungserbringer. Im Klartext: Das im Gesundheitssystem erbrachte Leistungsspektrum orientiert sich primär - völlig zu Recht - an den wirtschaftlichen Überlebenschancen der Leistungserbringer und nicht an den Bedürfnissen der Leistungsnehmer.
Ein Beispiel: Um durch die präoperative Röntgenuntersuchung des Thorax einen einzigen Todesfall zu verhindern, waren im Jahr 1991 Thoraxuntersuchungen im Wert von etwa 2,5 Millionen DM notwendig. Dabei muß geprüft werden, ob mit diesen Ressourcen nicht mehr als nur ein Todesfall verhindert werden könnte, wenn die Radiologen das Geld für andere Leistungen ihres Fachgebiets verwenden würden.
Kein Jurist würde den Finger heben, wenn diese Entscheidung von den Fachgesellschaften käme. Ein Arzt jedoch, der auf eigene Faust auf den präoperativen Thorax verzichtet, hätte sicher schlechte Karten.
Fünf Dinge sind daraus zu lernen:
Erstens: Es gibt eine politische Entscheidung, die von Fachgesellschaften oder Verbänden getroffen wird, die der individuellen Entscheidung des einzelnen Arztes übergeordnet ist. Um die politische Entscheidung zu rechtfertigen, sind Ergebnisse vorzuweisen, die belegen, daß durch den Verzicht kein Schaden für die Patienten entsteht. Aufgabe der Wissenschaftler ist, die Basisergebnisse für diese Entscheidung zur Verfügung zu stellen.
Zweitens: Die Reihenfolge der Entscheidungen ist nicht unerheblich. Ein an logischen Gesichtspunkten orientiertes, konsekutives Ordnungsprinzip ist grundsätzlich einzuhalten: Forschungsergebnis, dann berufspolitische Entscheidung, dann individuelle Arztentscheidung.
Drittens: Die Ärzte selbst müssen den medizinischen Fachgesellschaften Vorschläge zu notwendigen Änderungen im Gesundheitssystem unterbreiten und sollten nicht auf die Vorschläge der Politiker warten.
Viertens: Der Jurist setzt keine Norm, sondern entscheidet, ob die fachlich begründete Norm vom behandelnden Arzt eingehalten wurde. Wenn ökonomische Überlegungen erst im (besonders haftungsrechtlichen) Entscheidungsfeld des Juristen angestellt werden, kommen sie zu spät.
Fünftens: Zwischen Ökonomie und Recht braucht es in der Medizin keine Reibungsflächen zu geben, wenn das konsekutive Ordnungsprinzip eingehalten wird.
Quintessenz: Anstatt am Ende der Entscheidungskette hinterherzulaufen, sollten die Ärzte den Fachgesellschaften/Verbänden die Mängel des Systems benennen. Die Fachgesellschaften definieren die Norm, und die Juristen beurteilen die Einhaltung der Norm. Dieses Ordnungsprinzip wäre sinnvoller und für die Ärzte angenehmer als die unbequeme Enge zwischen Recht und Ökonomie.


Prof. Dr. med. Franz Porzsolt
Klinische Ökonomik
Abt. Psychotherapie und
Psychosomatische Medizin
Klinikum der Universität Ulm


Prof. Dr. jur. Dieter Hart
Graduiertenkolleg
Fachbereich Rechtswissenschaft
Universität Bremen

 

 

Politik - Aktuell

 

Clade, Harald

Sachverständigenrat/Konzertierte Aktion: Rationierungen vermeiden

in: Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 45 (08.11.1996), Seite A-2918
POLITIK: Aktuell

Der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen hat in seinem Jahresgutachten unter dem Titel "Gesundheitswesen in Deutschland: Kostenfaktor und Zukunftsbranche" empfohlen, noch vorhandene Spar- und Rationalisierungsreserven im Gesundheitswesen zu mobilisieren. Andererseits sei der dynamisch wachsende Gesundheitssektor ein beschäftigungsrelevanter Wirtschafts- und Wachstumsfaktor der Volkswirtschaft.


Die Sozialabgabenquote (Anteil der Sozialabgaben am BIP) nahm im Gegensatz zur Steuerquote, also dem Anteil der Steuern, bezogen auf das Brutto-Inlandsprodukt (BIP), in den vergangenen Jahren überdurchschnittlich zu. Das stellt der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion in seinem neuen Gutachten fest. Seit 1974 ist dies in erster Linie eine Folge der stark gestiegenen Pflichtbeiträge zur Arbeitslosenversicherung, aber auch teilweise der seit 1970 um vier Prozentpunkte gestiegenen Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Umgerechnet als Relation zum Brutto-Inlandsprodukt stiegen diese von knapp fünf Prozent im Jahr 1974 über knapp sechs Prozent im Jahr 1990 auf heute über sieben Prozent.
Die "Gesundheitsquote" (also die Gesamtausgaben für die Funktion "Gesundheit", gemessen am Bruttosozialprodukt) lag in Deutschland im vergangenen Jahr bei rund 9,5 Prozent, wohingegen die vergleichbare Gesundheitsquote in den USA bei 14,3 Prozent lag. Dabei ist zu berücksichtigen, daß in Deutschland rund 98 Prozent der Bevölkerung gesetzlich und privat gegen das Krankheitsrisiko versichert sind, wohingegen in den USA nur 30 Prozent der Bevölkerung Versicherungsschutz genießen und viele ältere und sozial Schwache sowie junge US-Bürger gegen das Krankheitsrisiko überhaupt nicht Vorsorge getroffen haben.
Die Abgabenquote betrug 1993 rund 39 Prozent, lag mithin zwei Prozentpunkte unter dem EU-Niveau (41 Prozent) und geringfügig über dem Niveau der OECD-Staaten (38,5 Prozent), aber deutlich über der Quote in den USA und in Japan. Diese Länder weisen eine im Vergleich zu Deutschland um 10 Prozentpunkte niedrigere Abgabenquote aus. Die gestiegene Abgaben- und Sozialleistungsquote ist auch ein Reflex auf die geänderten Rahmenbedingungen und die verschlechterte demographische Entwicklung, den medizinischen Fortschritt, die Inanspruchnahme durch die Anspruchsberechtigten, das veränderte Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko und die größeren Behandlungsmöglichkeiten bei wachsender Lebenserwartung. Nachfrageinduzierend wirkt sich die Senkung der Sterblichkeitshäufigkeit in allen Altersgruppen seit Anfang des Jahrhunderts aus. Andererseits ist die Lebenserwartung von 1950 bis 1990 im Durchschnitt zwischen 3,5 und 4 Jahren gestiegen, bei Frauen überdurchschnittlich. Der demographisch bedingte Morbiditätswandel führt zwar zu einer Abnahme des Interventionsbedarfs kurativer Leistungen in den höchsten Altersgruppen, allerdings steigt die Nachfrage an pflegerischen Leistungen überdurchschnittlich.
Der Rat erwartet einen Zusatzversorgungsbedarf insbesondere bei obstruktiven Lungenerkrankungen, bei HerzKreislauf-Erkrankungen vor allem im operativen und rehabilitativen Bereich ebenso wie bei Erkrankungen des Urogenitaltraktes, bei Krebserkrankungen, im Bereich der Erkrankungen des Bewegungsapparates, bei Erkrankungen des Seh- und Hörsinns sowohl im ärztlichen als auch im nichtärztlichen Bereich und vor allem bei der geriatrischen und gerontopsychiatrischen Versorgung der Bevölkerung. Unausgeschöpft sei das Präventivpotential insbesondere zur Verhinderung der Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, der Erkrankungen der Atemwege (insbesondere Allergien) und bei Unfällen.
Rationalisierungsreserven müßten insbesondere auch in folgenden Bereichen mobilisiert werden: l wesentliche Verringerung der routinemäßig vorgenommenen Röntgenuntersuchungen und von präoperativen Diagnostiken;
l Einschränkung oder Wegfall der Knochendichtemessung als Screening-Methode bei beschwerdefreien Personen; l ein großer Teil der durchgeführten Arthroskopien ist nach Einschätzung des Rates "nicht notwendig";
l in der Diagnostik und Therapie der in der ambulanten Versorgung häufig unkomplizierten Rückenschmerzepisoden gebe es ebenfalls Sparreserven;
l bei den Gesundheitsuntersuchungen (Gesundheits-Check up) werde in mehr als der Hälfte der Fälle ein RuheEKG ohne ausreichende Indikation durchgeführt;
l bei einer Gallenblasenentfernung könnten 20 Prozent der Kosten gespart werden, falls das offen-chirurgische vermehrt durch das laparoskopische Verfahren ersetzt würde.
Sparreserven und teilweise Mißwirtschaft mutmaßen die Sachverständigen auch im Krankenhaussektor. Hier müßte den Kliniken mehr Entscheidungsbefugnis im Investitionsbereich eingeräumt werden, obwohl die Dualistik der Finanzierung weiter gilt und die Länderaufsichtsbehörden mitmischen. Obwohl von den gesamten Krankenhauskosten nur etwa 10 bis 15 Prozent auf die Investitionskosten entfallen, sind diese entscheidend für die Dimensionierung und den Einsatz der übrigen 85 bis 90 Prozent der laufenden Betriebskosten. Dringlich ist aus der Sicht des Rates die Durchschlagskraft der Betriebsführung, deren Leitungskompetenz zu verbessern sei. Da im Krankenhaus rund 70 Prozent der Kosten auf die Personalkosten entfallen, müsse dieser Sektor streng überwacht werden. Investitionen im Aus- und Weiterbildungssektor seien zumeist effizient. Dr. Harald Clade

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Clade, Dr. Harald

Medizinischer Fortschritt und knappe Ressourcen: Das Dilemma der Prioritätensetzung

in: Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 3 (17.01.1997), Seite A-80
POLITIK: Aktuell

Die Ressourcen-Knappheit in allen Bereichen der sozialen Sicherung und die Dringlichkeit sowie die praktische Unbegrenztheit der Bedürfnisse zur Sicherung der gesundheitlichen Risiken und zur Krankheitsbekämpfung zwingen sowohl die Politik als auch die Leistungserbringer zu einer ständigen Überprüfung der Effizienz des Mitteleinsatzes. Es führt kein Weg daran vorbei, Prioritäten beim Mitteleinsatz unter Beachtung der Effektivität zu setzen. Darüber waren sich die Experten bei einem Bonner Symposion (im November 1996) einig.


Die Experten eines Diskussionsforums der Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung e.V. (GVG) in Bonn unter dem Leitthema "Medizinischer Fortschritt und Prioritätensetzung" stimmten bei der Beurteilung des Status quo des Gesundheitssicherungssystems und der gesundheitspolitischen Diskussion überein: Nicht alles medizinisch Machbare und Wünschenswerte ist bezahlbar und über solidarisch organisierte Versicherungen abwickelbar. Vielfach überlagert die ökonomische Rationalität immer mehr die Leistungserbringung und die Kostenübernahme. Der Konflikt zwischen sozial- und zivilrechtlichen Dimensionen und Haftungsvoraussetzungen spitzt sich immer mehr zu. Um so mehr ist es nach Ansicht der Experten der Verbände der Leistungserbringer im Gesundheitswesen und der Krankenkassen erforderlich, Prioritäten zu setzen und dabei sowohl gemeinschaftsbezogene als auch individuelle Kosten-NutzenAbschätzungen sorgfältig zu beachten, um gesellschaftliche Konflikte zu begrenzen. Andererseits müssen alternative Verwendungsmöglichkeiten mit dringlicherer Priorität und größerem Nutzen ausgelotet werden (Beachtung der sogenannten Opportunitätskosten). Dies ist auch die Quintessenz eines ebenso kritischen wie unkonventionellen Grundsatzbeitrages vor dem GVG-Forum von Prof. Dr. med. Dr. med. h. c. Michael Arnold, dem ehemaligen Inhaber einer Stiftungsprofessur für Gesundheits-System-Forschung an der Universität Tübingen, dem früheren Vorsitzenden des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen.
Übereinstimmung unter den Experten des Forums bestand auch darin, daß jede Prioritätensetzung eine Form der Rationierung ist. Der Arzt müsse ständig rationieren, also haushalten mit dem knappen Gut Zeit, der Manpower und den finanziellen ebenso wie den technischen Ressourcen. Nicht immer und uno actu könnten die Segnungen des medizinischen Fortschrittes in die Alltagspraxis des Arztes implementiert und über solidarisch finanzierte Kassen reguliert werden. Allerdings gebe es kein Problem, den medizinischen Fortschritt umzusetzen, wenn dieser gezielt zum Einsatz käme und das Problem der Medizin zu beherrschen wäre, ihre Vielfältigkeit und relative Beliebigkeit einzugrenzen. Immerhin gebe es für die Akteure im Gesundheitswesen einen relativ großen Ermessensspielraum, meinte Dr. med. Eckart Fiedler, Vorstandsvorsitzender der Barmer Er-satzkasse (BEK), Wuppertal, bei dem Bonner GVG-Forum. Inwiefern die Spielräume ausgenutzt werden und tatsächlich zu Ausgabenschüben führen, hänge davon ab, inwieweit der Arzt auf seine Kenntnisse und beruflichen Erfahrungen zurückgreifen kann und ob er imstande sei, Rationalisierung vor Rationierung zu setzen. Es sei dringend erforderlich, auch mit Hilfe von vorgegebenen Standards die Indikation effizienter und gezielter zu stellen, so der Kassen-Mann.
Dabei dürfe der Regulierungs- und Kontrolldrang nicht soweit reichen, daß nach dem "Vorbild" der USA über Managed Care und Disease-Systeme Kostenstandards vorgegeben würden und eine rigide Indikationenkontrolle erfolge, so Dr. jur. Rainer Hess, Hauptgeschäftsführer der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Köln. Dies sei zudem sehr kostenintensiv. Auch der Sprecher der Kassenärzte riet dazu, Prioritäten zu setzen. Allerdings müsse genau festgelegt werden, wer dafür verantwortlich sei und ob generell oder im Einzelfall über den Einsatz der Erkenntnisse der Hochleistungsmedizin entschieden werde.


Leistungen kaum beschränkbar
Die praktische Medizin steht nach Darlegungen von Professor Arnold vor dem Dauer-Dilemma, daß nicht nur Patienten mit eindeutig und objektiv nachprüfbaren pathologischen Befunden Hilfe von der Medizin und den solidarisch finanzierten Versicherungen erwarten, sondern auch solche, die unter schwer faßbaren Befindlichkeitsstörungen und nur subjektiv geäußerten Einschränkungen des Wohlbefindens leiden, gleichwohl kaum beschränkte und kaum beschränkbare Leistungen bei den Versicherungen und Leistungsträgern anforderten.
Falls die Politik die Leistungsrechte auf Verfahren mit objektiv nachgewiesenen Wirkungen beschränke, könne dies aus politischen und Kostengesichtspunkten durchaus wünschenswert sein. Die Medizin und die ärztliche Therapiefreiheit würden jedoch auf ein reduktionistisches Krankheitsmodell begrenzt werden. Dies wird aber von vielen Kritikern als eine Abkehr vom Vollkrankenschutz und der Ganzheitsmedizin kritisiert und zurückgewiesen. Aus der Notwendigkeit, die Effizienz ständig zu überprüfen und zu verbessern, ließen sich mit medizinischem Sachverstand und auf der Basis klinischer Studien Verfahren ausmachen und jene ausgrenzen, die objektiv nicht effektiv seien, so Arnold. Allerdings sei diese Zahl nicht so groß, wie vielfach vermutet werde. Das eigentliche kostentreibende Problem, das die Politik unter verschärften Handlungszwang setzt, bestehe nicht in der Anwendung obsolet gewordener und ineffektiver Verfahren, sondern vielmehr von effektiven Verfahren, bei nicht immer gegebener Indikation und vor allem bei der additiven Anwendung herkömmlicher Verfahren und Technologien zu neuen, die die alten meist nicht völlig ersetzen können und damit die Kosteninflation anheizen.
Nach Überzeugung von Arnold könnte dieser Mißstand auch nicht durch strengere Zulassungsprüfungen beispielsweise für neue Arzneimittel, die Vorgabe von Positivlisten oder von Anreizen für die Leistungserbringer verbessert werden. Das hätte nur Einfluß auf das Gesamtvolumen von Leistungen, nicht aber auf die Indikationsstellung im Einzelfall. Auch bei begrenzten Ressourcen und Kapazitäten würden in der Regel auch Leistungen unangemessen erbracht werden, ein Tatumstand, der wiederum die Krankenkassen zusätzlich belaste. Dieser Mißstand könne nur über restriktive Kontrollen des Einzelfalles vermieden werden, etwa im Rahmen von Instrumenten des sogenannten Managed Care.
Entscheidend für die Ausgabenhöhe der medizinischen Versorgung sind nach Meinung Arnolds nicht nur die Menge, sondern vielmehr auch die Struktur der erbrachten Leistungen. Diese ändere sich permanent und spürbar infolge des medizinisch-wissenschaftlichen Fortschritts und der damit verbundenen Innovationen und neuen Technologien.
Auch müsse der nicht immer in Mark und Pfennig kalkulierbare intangible Nutzen berücksichtigt werden. Gesundheitspolitische Ziele könnten bei Anwendung neuer Verfahren in der Regel mit größerer Sicherheit oder geringeren Nebenwirkungen erbracht werden, oder bisher nicht erreichbare Ziele könnten mit Hilfe neuer Verfahren erfolgreich angegangen werden - mithin auch wichtige politisch erwägenswerte Optionen, die den Grenznutzen des Fortschrittes umfassen.
In jedem Fall müsse es Anliegen der Politik und der Leistungserbringer sein, eine Zwei-Klassen-Medizin zu vermeiden und Ausweichreaktionen über "graue Märkte" zu unterbinden. Keinesfalls dürften eindeutig medizinisch notwendige Leistungen wegen des Ressourcenmangels verweigert oder ab einer bestimmten Altersgrenze ausgeschlossen werden (Negativbeispiel: England).
Eine drohende Zwei-Klassen-medizin sei der stärkste Verstoß gegen das Gerechtigkeits- und Gleichheitsprinzip. Dies ließe sich auch nicht mit noch so hohem bürokratischem Aufwand, einer immer größer werdenden Regelungsdichte und zentral verordneten Vorgaben (Standards, Richtwerte, Budgets) vermeiden. Vielmehr seien ebenso medizinisch wie ökonomisch und ethisch fundierte Richtwerte notwendig - unter Beachtung einer objektiven Analyse des Status quo. Ein gesundheitspolitisches Umdenken sei bei allen Beteiligten notwendig - sowohl bei den Kostenträgern, den Leistungserbringern als auch den Versicherten und vor allem bei der Sozialgerichtsbarkeit. Die Krankenkassen sollten sich darauf beschränken, ausschließlich effiziente und notwendige Leistungen zu gewähren. Die Leistungserbringer müßten neben der kurativen Medizin auch präventive und aufklärerische Maßnahmen in den Vordergrund rücken. Die Sozialgerichte sollten das Leistungsrecht restriktiver als bisher auslegen. Die Politiker müßten sich von der Illusion freimachen, eine Rundum-Versicherung sei weiterhin finanzierbar. Dr. Harald Clade

 

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Hohmann, Dr. med. Claas

Krankenhausmanagement: Klinikärzte sind gefordert

in: Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 17 (25.04.1997), Seite A-1107
POLITIK: Aktuell

Nach Abschaffung des Selbstkostendeckungsprinzips sehen sich die Krankenhäuser einem zunehmenden wirtschaftlichen Druck ausgesetzt. Dieser verschärft sich zum einen durch eine Flut von Bestimmungen, deren Ziel die Mobilisierung der im Krankenhaus vermuteten Wirtschaftlichkeitsreserven ist, zum anderen durch eine verstärkte Konkurrenz der Krankenhäuser untereinander. Als Konsequenz dieses wirtschaftlichen Druckes müssen, wie in jedem anderen Dienstleistungsunternehmen, betriebswirtschaftliche Methoden im Krankenhaus angewandt werden. Diese Konsequenz wird zumindest im Bereich der Krankenhausverwaltungen gesehen und zum Teil auch umgesetzt. Somit besteht angesichts der prekären Situation die unabdingbare Notwendigkeit, neben der Krankenhausverwaltung ein Krankenhausmanagement zu installieren. Dieses Krankenhausmanagement muß unter anderem folgende primäre Aufgaben erfüllen:
1 Festlegung der strategischen Ziele
1 Analyse des Ist-Zustandes
1 Entwicklung von Strategien zur Umgestaltung des Krankenhauses nach Maßgabe der strategischen Ziele
1 Analyse der Innen- und Außenbeziehungen des Krankenhauses
1 Analyse und Strategieentwicklung der potentiellen Störgrößen bei Verwirklichung der strategischen Ziele.
Die Instrumentarien zur Umsetzung der strategischen Unternehmensführung sind durch die Betriebswirtschaftslehre hinreichend entwickelt und haben sich vor allem in wirtschaftlich erfolgreichen Unternehmungen bewährt. Erkennt man auch im Krankenhaus die Notwendigkeit einer strategischbetriebswirtschaftlichen Unternehmensführung, so stellt sich die Frage, wie ein solches Konzept in diesem Bereich verwirklicht werden kann.
Im Rahmen dieser Unternehmensführung müssen sowohl medizinische als auch betriebswirtschaftliche Überlegungen einfließen. Zur Zeit aber herrscht in den Krankenhäusern eine weitgehende Trennung dieser beiden Bereiche. Auf der einen Seite stehen Ärzte, denen betriebswirtschaftliche Instrumentarien weitgehend unbekannt sind, auf der anderen Seite befindet sich eine Krankenhausverwaltung, die kaum Einsicht in medizinische Notwendigkeiten hat. Somit kann es zu keiner wirksamen Ausrichtung des Krankenhausmanagements kommen. Erschwerend kommt eine aus dieser Trennung resultierende Sprachlosigkeit dieser beiden Gruppen hinzu.
Nicht zuletzt aufgrund dieses Sachverhaltes werden viele Entscheidungen im Krankenhaus ohne ausreichende Berücksichtigung der einen oder der anderen Seite getroffen.
Wie die Flut von Veröffentlichungen und Leserbriefen im Deutschen Ärzteblatt zeigt, erregt die Vorstellung, daß Ärzte einen entscheidenden Anteil am Krankenhausmanagement haben sollten, die Gemüter. Unter dem Hinweis, daß ihre Aufgabe die Versorgung der ihnen anvertrauten Patienten und nicht das Krankenhausmanagement sei, geht eine breite Welle der Entrüstung und Ablehnung durch die Krankenhausärzteschaft. Es stellt sich aber die Frage, ob dem Patienten, um dessen Wohl man angeblich so besorgt ist, damit gedient ist, wenn die wichtigen strategischen Entscheidungen im Krankenhaus von Betriebs- und Verwaltungswirten getroffen werden. Ist es nicht vielmehr im Sinne des Patienten, wenn diese strategischen Aufgaben von medizinischem und wirtschaftlichem Sachverstand getragen werden? Aus dieser Perspektive ergibt sich geradezu eine Verpflichtung der Ärzte, sich mit betriebswirtschaftlichen Fragestellungen auseinanderzusetzen und so einen entscheidenden Beitrag zum Krankenhausmanagement zu erbringen.
Zur Überwindung des Dilemmas bedarf es einer integrativen Position, die die Trennung von medizinischem und betriebswirtschaftlichem Bereich aufhebt und die Grundlage für eine strategische Unternehmensführung schafft. Die Anforderungen, die die Besetzung einer solchen Position mit sich bringt, sind hoch. So müssen in ihr sowohl medizinische als auch betriebswirtschaftliche Kompetenz sowie langjährige Tätigkeit und Erfahrung im Krankenhaus vereint werden. Eine so ausgebildete Person sollte dann in der Stellung eines ärztlich-kaufmännischen Direktors den Entscheidungsorganen des Krankenhauses vorstehen.
Durch Einführung eines strategischen Managements wird dennoch vor allem auf leitende Abteilungsärzte eine zunehmende Verantwortung bei der Entwicklung medizinisch-wirtschaftlicher Konzepte zukommen. Wenn die Leistungsfähigkeit des Krankenhauses erhalten und weiter ausgebaut werden soll, ist die Verwirklichung des strategischen Managementkonzeptes und die damit verbundene Einbindung der Ärzte in wirtschaftliche Entscheidungen eine unabdingbare Voraussetzung.


Dr. med. Claas Hohmann
Oberarzt der Abteilung für Orthopädie
Kaiserberg-Klinik - Pitzer KG -
Am Kaiserberg 8-10
61231 Bad Nauheim

 

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Clade, Dr. Harald

Gesundheitsforschung/Universitätskliniken: Förderung nach Schwerpunkten

in: Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 28-29 (14.07.1997), Seite A-1916
POLITIK: Aktuell

Für Bildung und Forschung gibt der Bund jährlich rund 40 Milliarden DM aus, wie der Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie, Dr. jur. Jürgen Rüttgers, CDU-MdB, kürzlich mitteilte. Wegen der anhaltend knappen Ressourcen müßten die Forschungsinitiativen auf prioritäre Ziele konzentriert und auch in den Dienst der Standortpolitik und der aktiven Arbeitsmarktförderung gestellt werden, so der Minister. Die Forschungsprojekte "im Dienste der Gesundheit" und die Aktivitäten im Bereich der Universitätsklinika sollen, stärker als bisher schon, konzentriert werden. Dabei müßte die Finanzierung der Grundlagenforschung und der klinischen Forschung von den Aufgaben der Krankenversorgung strikt getrennt werden. So der Tenor eines Fachsymposiums der Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung in Bad Neuenahr.


Die Forschungsförderung im Bereich der Hochschulen und Universitätskliniken, im Bereich der klinischen Forschung, der Grundlagenforschung ebenso wie der wissenschaftlichen Begleitforschung "im Dienste der Gesundheit" und der Forschungsprojekte der Krankenkassen leidet unter der Crux, daß weder das Gesamtvolumen noch die Zuordnung zu den Finanzierungsträgern exakt erfaßt und nach verursachergerechten Kriterien getrennt werden. Dem will die Bundesregierung jetzt abhelfen. Um mehr Klarheit und Transparenz über die Aufbringung der Fördermittel und deren Verteilung zu erhalten, hat das Bundesgesundheitsministerium mit den Bundesländern vereinbart, eine Studie durchzuführen, um die Kostenanteile von Forschung, Lehre und Krankenversorgung zu erfassen, zu analysieren und die Kosten der Forschung und Lehre eines Klinikums mit Hilfe einer geeigneten Kostenträgerrechnung gesondert zu erfassen. Dadurch sollen die Finanzierungsströme transparenter gestaltet werden, Kostenverantwortungsbereiche geschaffen und "Verschiebebahnhöfe" vermieden beziehungsweise beendet werden. Beim Bad Neuenahrer Syposium der Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung e.V. (GVG) klagten sowohl Ministerialdirektor Dr. jur. Manfred Zipperer, der Leiter "Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung" des Bundesgesundheitsministeriums, als auch Staatssekretär Dr. phil. Fritz Schaumann, Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie, über die fehlenden Trennungskriterien bei den Forschungsaktivitäten und Finanzierungsverpflichtungen. Vielfach werde denn auch behauptet, der eine Sektor sei Kostgänger des anderen, trage also mit seinen Finanzierungsbeiträgen zur Finanzierung des anderen Sektors contra legem bei. Gängig sei die Behauptung der Krankenkassen und der Krankenkassenverbände, mit den Krankenkassenbeiträgen würden teilweise auch Forschung und Lehre von Universitätsklinika mitfinanziert. Die Vertreter der klinischen Forschung bringen dagegen vor, mit Mitteln für Forschung und Lehre würden teilweise auch die finanziellen und personellen Engpässe in der Krankenversorgung überbrückt.
Demgegenüber stellte Zipperer fest: Das Sozialgesetzbuch V enthält klare Rechtsvorschriften, nach denen die Krankenkassen und deren Spitzenverbände in begrenztem Umfang auch Forschungsprojekte unterstützen können, soweit dadurch die Aufgaben der Krankenversicherung erfüllt werden, Begleitforschung und Evaluation von Modellprojekten erfolgt. Förderungvoraussetzung ist stets, daß die mit den Forschungsprojekten verfolgten Ziele direkt der Krankenversorgung dienen. Beispiele für die Begleitforschung, die von den Krankenkassen finanziert werden darf: Durchleuchtung und Verbesserung der Organisation der GKV, Krankenversorgung und Vertragsgestaltung. Das 2. GKV-Neuordnungsgesetz enthält Öffnungsklauseln und Vorgaben für Strukturverträge (§ 73a SGB V) und für zeitlich befristete Modellversuche, die jetzt ausgeschöpft werden könnten, so Dr. Zipperer. Darüber hinaus könnten Erkenntnisse über das medizinische Leistungsgeschehen und die Häufigkeit von bestimmten Erkrankungen auf der Grundlage der ohnehin bei den Krankenkassen vorhandenen Daten genutzt werden.


Was die Kassen finanzieren
Zur Zeit prüft das Bundesgesundheitsministerium, unter welchen leistungsrechtlichen Voraussetzungen die Krankenkassen in Zukunft Forschungsvorhaben unterstützen können. Allerdings sei es Voraussetzung, daß sich die Krankenkassen mit den medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften abstimmen. Das Bundesgesundheitsministerium und das Bundesministerium für Forschung und Technologie fördern eine Reihe von epidemiologischen und biotechnologischen Forschungsprojekten. Grundlage ist das Programm der Bundesregierung "Gesundheitsforschung 2 000", für das im Jahr 1995 insgesamt 195 Millionen DM bereitgestellt wurden: Begleitforschung zu Modellprojekten in der psychiatrischen Versorgung; Maßnahmen zur Bekämpfung der Immunschwächenkrankheit AIDS; Forschungsprojekt "Public Health"; Bio- und Gentechnik. Ein aktuelles Bild der Gesundheitsforschung/Forschungsförderung, soweit sie aus Etats des Bundes und der Länder finanziert werden:
Die Bundesländer finanzieren die Forschung und Lehre an den 37 Universitätskliniken jährlich mit rund 6,5 Milliarden DM. Davon entfällt rund ein Drittel auf Forschung und Entwicklung, also rund zwei Milliarden DM.
Bund und Länder gaben 1995 rund fünf Milliarden DM für die Gesundheitsforschung aus. Nicht quantifizierbar sind die Beiträge der Länder für Mehraufwendungen, die für Forschung und Lehre an Universitätskliniken ausgegeben werden. Ebenfalls nur geschätzt werden können die Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen der Industrie und der Wirtschaft für die Gesundheitsforschung. Im Jahr 1991 (neuere Zahlen liegen nicht vor) lag der Betrag bei rund 3,8 Milliarden DM (für Forschung und Entwicklung für medizinische Güter: rund 700 Millionen DM; für Forschung und Entwicklung für pharmazeutische Erzeugnisse: rund 3,1 Milliarden DM).
Bund und Länder finanzieren gemeinsam den Hochschulbau sowie Investitionen von Großgeräten an Universitätsklinika. Der Anteil im Bereich Medizin betrug 1995 rund 1,5 Milliarden DM.
Als Gemeinschaftsaufgabe werden von Bund und Ländern die medizinischen Großgeräte, Einrichtungen und die Institute der "Blauen Liste" gefördert. Hier betrug der Anteil des Bundes (BMBF) im Jahr 1995 rund 363 Millionen DM.
Für den medizinrelevanten Teil des Projektes "Biotechnologie" wird zur Zeit jährlich ein Betrag von rund 100 Millionen DM ausgegeben. Die Gesundheitsforschung wurde 1996 aus Bundesmitteln mit 222 Millionen DM in der Projektförderung bezuschußt. Für 1997 sind 230 Millionen DM angesetzt. Dr. Harald Clade

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Clade, Dr. Harald

Überlebensstrategie für das Krankenhaus: Abschied von alten Denkkategorien

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 6 (06.02.1998), Seite A-270
POLITIK: Aktuell

1. Kolloquium "Medizinisches Leistungszentrum" (MLZ) im Januar in Köln: Sektorenübergreifende Finanzierungs- und Organisationsformen notwendig. Rasche, flexible Marktreaktion der Medizinbetriebe ist unerläßlich.
as Gesundheits- und Krankenhauswesen in Deutschland ist durch zwei kontraproduktive, kostentreibende Strukturschwächen gekennzeichnet: Einerseits sind die Leistungssektoren und -träger durch eine wenig auf Kooperation und engere Zusammenarbeit angelegte sektorale Abschottung und eine nicht immer effiziente "Optimierung" gekennzeichnet. Andererseits leidet die Krankenhauswirtschaft ebenso wie der ambulante ärztliche Sektor unter den sektoralen und globalen Ausgabendeckelungen, die wenig Kräfte zur innovativen Weiterentwicklung und zu einem flexiblen Marktreagieren freisetzen.
Hinzu kommt: Das Krankenhaus krankt daran, daß es sich vielfach noch als ein "inhomogenes Konglomerat von Meisterbetrieben" versteht und darstellt, mit innerbetrieblichen Reibungsverlusten bei der Betriebsführung, das einer kompakten, qualitätsorientierten Leistungserstellung und einer flexiblen Finanzierungs- und Betriebsorganisation und den sich ständig ändernden Marktkonstellationen nicht hinreichend Rechnung trägt. Notwendig sei es aber, Entscheidungen von morgen jetzt schon zu treffen, denn beständig sei nur der Wandel. So der Tenor von Dr. med. Beowulf Walter (64), Chefarzt der Abteilung für Anästhesie und Ärztlicher Direktor des Krankenhauses Holweide der Kliniken der Stadt Köln, vor dem 1. MLZ-Kolloquium: "Überlebensstrategie für das Krankenhaus", veranstaltet von der Kongreßabteilung des Deutschen Ärzte-Verlages am 16./17. Januar in Köln.
Nach der Diagnose und Einschätzung des berufserfahrenen Klinikchefarztes, die er den rund 160 fortbildungsbeflissenen Klinikmanagern ebenso wie den Klinikärzten mit auf den Weg gab: Für viele Krankenhausbetriebe ist es noch ein weiter Weg bis zu einem marktresistenten und flexibel agierenden Leistungszentrum, das auch sektorenübergreifend agiert und sich ständig an die sich ändernden Marktkonstellationen und an die gesetzlichen und finanziellen Rahmenbedingungen anpaßt.
Effizienter Controller-Dienst
Walter plädierte für neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Klinik und niedergelassenen Ärzten; erforderlich seien auch bei begrenzten finanziellen Ressourcen Wege der Kooperation und neue Betriebsabläufe, die einer ganzheitlichen Medizin den Weg bahnen, ohne das notwendige Spezialistentum abzuschaffen oder unerträglich einzuschränken. Große Bedeutung mißt Walter einem effizienten Controller-Dienst zu, der dort, wo noch Rationalisierungs- und Wirtschaftlichkeitsreserven mobilisiert werden können, mithilft, Spareffekte zu erzielen, aber dort, wo Kosten und Leistungen exakt ermittelt und nachgewiesen werden, ungerechtfertigte Eingriffe von außen abwehrt.
Dringend sei den hochtechnisierten und spezialisierten Krankenhäusern zu raten, möglichst betriebs- und krankenhausfremde Leistungen auszugliedern und durch spezialisierte Betriebe zu beziehen oder die Verbundwirtschaft zu erweitern (externer Leistungskreis). Allerdings müßten die bezogenen Leistungen außerhalb der Klinik qualitativ besser und preiswerter angeboten werden, als sie intern erbracht werden können.
Sowohl die niedergelassenen Ärzte als auch die Krankenhäuser haben darunter zu leiden: Nicht immer folgt guten Ideen und der Leistung auch das Geld. Das Sozialgesetzbuch V (SGB V) begrenzt die Transferierung von Finanzierungsströmen und teilt sie sektoral zu beziehungsweise deckelt sie durch zu starre Budgets. Privatisierungsaktionen, marktgerechtere Rechtsformen für Krankenhäuser (etwa: GmbH für kommunale Häuser), konsequentes Outsourcing können helfen, aber nur begrenzt, so die Erfahrung des Referenten.
Als Mittel der Wahl empfahl Walter, neben den materiellen vor allem die immateriellen Ressourcen (Strukturqualität, qualifiziertes Fachpersonal; Betriebsklima und anderes) in die Waagschale zu werfen, um den härter werdenden Wettbewerb zu bestehen. Gerade bei der immer notwendiger werdenden Qualitätssicherung würden diese in Mark und Pfennig nur schwer ausdrückbaren Produktionsfaktoren vernachlässigt. Ein guter Führungsstil und ein patientenfreundliches Betriebsklima allein führten noch nicht in die schwarzen Zahlen der Klinikkostenrechnung; auch die materiellen Ressourcen müßten ausgeschöpft werden, und das Krankenhaus müsse Freiraum zum Agieren haben.
Für eine sektorenkooperierende Krankenhauswirtschaft und mehr Kooperation trat auch der Vorstandsvorsitzende der AOK Rheinland, Wilfried Jacobs, Düsseldorf, ein.
Die immer knapper werdenden Ressourcen im Gesundheitswesen müßten dazu veranlassen, daß die starre Trennung zwischen ambulantem und stationärem Sektor aufgehoben und eine durchlässige, intensitätsmäßig gestufte Versorgung vollzogen wird. Sämtliche Akteure des Gesundheitswesens müßten sich den Wettbewerbsbedingungen stellen. Dies erfordere, so der AOK-Mann, ein Aufbrechen verkrusteter Strukturen und einen Abschied vom Interessenpartikularismus. Nicht alle wünschenswerten und machbaren Leistungen könnten heute noch implementiert und bezahlt werden. Die Leistungen müßten besser aufeinander abgestimmt werden. Nur Qualität und effiziente Leistungen würden die Kostenträger noch bezahlen. Die Effizienz müsse in erster Linie zum Wohl der Versicherten gesteigert werden - sowohl unter qualitativen als auch unter wirtschaftlichen Aspekten.
Auch das Krankenhaus müsse sich an diese Spielregeln halten. Eine bloße Überlebensstrategie und Markterhaltung könnten nicht toleriert werden. Aus der Sicht der Krankenkassen müsse eine hohe Qualität im Preis, den die Patienten und Kassen zahlen, inbegriffen sein, wie es beispielsweise in der Automobilindustrie bei den dortigen Produktpreisen der Fall sei. Allerdings, darauf wies Prof. Dr. med. Friedrich-Wilhelm Kolkmann, der Präsident der Landesärztekammer Baden-Württemberg, Stuttgart, hin, würden dort auch echte leistungsorientierte Marktpreise bezahlt, wohingegen im Gesundheitswesen die Qualität bisher nicht in vollem Umfang durch Preise, Honorare und Entgelte bezahlt würde.
Leistungsgerechte Vergütungen
Für den Krankenkassenmann ist die Voraussetzung für eine effiziente ambulante und stationäre Versorgung die Etablierung eines Systems leistungsgerechter, differenzierter Vergütungen. Die AOK-Maxime: Für eine gleichartige und vergleichbare Leistung könne künftig bei gleich hohem Leistungsniveau nur ein einheitlicher(s) Preis (Entgelt) gezahlt werden. Die Krankenkassen arbeiten zur Zeit an Betriebsvergleichen, die sowohl die Kosten- als auch die Leistungsstrukturen von Krankenhäusern parallel analysieren und in Beziehung zueinander setzen. Dadurch könnten Besonderheiten einzelner Kliniken besser erkannt und entsprechend bezahlt werden. Zu teuer und aufwendig erbrachte Leistungen (im Vergleich zum Standard) könnten die Krankenkassen künftig aber nicht mehr vergüten und nicht auch nur teilweise berücksichtigen.
Nach Meinung von Jacobs sind noch Wirtschaftlichkeits- und Rationalisierungsreserven zu mobilisieren. "Beweis": Im Bereich Nordrhein seien Nullrunden oder gar Budgetsenkungen durchgesetzt worden, ohne daß es bisher zu Engpässen und Qualitätsverlusten gekommen sei, so die Behauptungen der zuständigen AOK.
Stationär schrumpft
Der stationäre Sektor wird in Zukunft schrumpfen; der semistationäre und ambulante Sektor könnte begrenzt expandieren ("denn die Gesundheitswirtschaft ist eine dynamische Wachstumsbranche"). Ein Vertragsmodell, wie es die AOK in Nordrhein goutiert, setzt auf individuell abgeschlossene Planverträge zwischen einzelnen Krankenhäusern und den Verbänden der Krankenkassen. Dadurch sollen die Krankenkassen mehr Möglichkeiten erhalten, die Dimensionierung und Strukturierung des Leistungsgeschehens mit zu beeinflussen. Daran müsse sich auch das Ideenkonzept eines Medizinischen Leistungszentrums messen lassen.
Jacobs ist gegen ein lupenreines Einkaufsmodell, das von den Krankenkassen und der SPD empfohlen wird. Jacobs spricht sich für ein flexibles Vorgehen durch Verträge und sektorenübergreifende, integrierende und verzahnte Strukturen sowie "kongeniale" Organisations- und Finanzierungsstrukturen aus. Darin müsse auch das ambulante Operieren mit allen Honorarkonditionen einbezogen werden. Bisher sei die Kann-Bestimmung allerdings noch nicht umgesetzt worden, nämlich auf Bundesebene gemeinsame Budgets für Krankenhäuser und Vertragsärzte im Bereich des ambulanten Operierens zu schaffen. Die AOK Rheinland tritt für eine gerechte Bezahlung von niedergelassenen Vertragsärzten ebenso wie von Klinikärzten und Krankenhausbetrieben ein. Die Deckelung des Finanzierungstopfes "Ambulantes Operieren" müsse verschwinden. Es werde keine Leistungsverschiebung zwischen stationär und ambulant erfolgen, wenn der ambulante Bereich zementiert und mögliche Entwicklungsprozesse verhindert würden. Dr. Harald Clade

 

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Spielberg, Petra

Rationierung im Gesundheitswesen: Ärzte nicht allein lassen

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 48 (27.11.1998), Seite A-3036
POLITIK: Aktuell

Die Debatte um Rationierung von Gesundheitsleistungen muß auf eine objektive Grundlage gestellt werden. Das forderten Experten auf einem Symposium der "Internationalen Gesellschaft für Gesundheitsökonomie e.V." in Mainz, dessen Berichtsband soeben erschienen ist (bei Thieme, 19,80 DM). Klarheit darüber, wann Ärzte im Einzelfall Leistungen vorenthalten, die eigentlich medizinisch notwendig gewesen wären, kann es nach übereinstimmender Auffassung der Teilnehmer am Symposium nicht immer geben. Ihr Fazit: Den Ermessensspielraum, wann ein Arzt Leistungen unterlassen darf, können nur objektivierte und allgemein akzeptierte Leitlinien bestimmen. "Wir müssen öffentlich darüber diskutieren, ob und wenn ja auf welchem Niveau Rationierung stattfinden soll", forderte der Hauptgeschäftsführer der Bundesärztekammer, Professor Dr. Christoph Fuchs. Die Ärzte sollten das Problem nicht allein auf ihren Schultern austragen müssen. Bislang überwiegt indessen die Praxis, daß sich Ärzte im Einzelfall auf ihre persönliche Erfahrung und medizinische Intuition verlassen, wenn sie über eine notwendige und zweckmäßige Behandlung entscheiden.
"Die von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften erarbeiteten Leitlinien lesen mehr Juristen als Ärzte", gab Professor Dr. Karl Wilhelm Lauterbach vom Institut für Gesundheitsökonomie und Gesellschaft in Köln zu bedenken. Allerdings sieht Lauterbach in einer öffentlich geführten Rationierungsdebatte die Gefahr, daß spektakuläre Einzelfälle die Diskussion bestimmen würden. "Solange noch keine empirischen Belege für die Effizienz von Behandlungsalternativen vorliegen, muß die wissenschaftliche Evaluation Vorrang haben", betonte er.
Als Vertreter der Krankenkassen zeigte Herbert Rebscher vom Verband der Angestellten-Krankenkassen Bereitschaft, gemeinsam mit den Ärzten wissenschaftliche Grundlagen zu erarbeiten. "Ich kann nur alle einladen, an Modellversuchen teilzunehmen", unterstrich er. Bis konkrete Daten vorliegen, wird aber noch einige Zeit vergehen. Damit der Ermessensspielraum für die Ärzte nicht zur Falle wird, riet der Mannheimer Rechtswissenschaftler Professor Dr. Jochen Taupitz dazu, Patienten sorgfältig darüber aufzuklären, welche Alternativen bestehen und wer im Einzelfall für die Kosten aufkommen muß. Petra Spielberg

 

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Glöser, Dr. Sabine

Kassenärzte: Gute Startchancen im Globalbudget

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 48 (27.11.1998), Seite A-3046
POLITIK: Aktuell

Wie geht es im Gesundheitswesen weiter? Dies war das Thema eines Symposiums der KBV in Königswinter.
Das Gesundheitswesen muß sich prioritär am Versorgungsbedarf des Patienten orientieren. Für den Vorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Dr. med. Winfried Schorre, ist dies die zentrale Aufgabe im "System mit den begrenzten Mitteln". Er bekannte sich zu einer sinnvollen Mengensteuerung und zu der Notwendigkeit, das Leistungsangebot auf das medizinisch Notwendige zu konzentrieren. "Die Kassenärzte sind bereit und willens", betonte der KBV-Vorsitzende, "den notwendigen Anpassungsprozeß des Systems an die Erfordernisse der Zukunft zu leisten, und ziehen sich nicht auf die Verteidigung ökonomischer Besitzstände zurück."
Rahmenbedingungen mit Gestaltungsspielraum
Diese Ziele können Schorre zufolge nur erreicht werden, wenn bestimmte Voraussetzungen gegeben sind: akzeptable politische Rahmenbedingungen, innerärztliche Geschlossenheit und eine funktionierende Selbstverwaltung. So forderte er die Krankenkassen erneut auf, ihren Pflichten nachzukommen. Deren Verweigerungshaltung habe in den vergangenen Monaten zu einer weitgehenden Lähmung der Selbstverwaltung geführt. Die politischen Rahmenbedingungen sollten Orientierung geben, aber Gestaltungsspielraum bieten - das von der Regierungskoalition geplante Globalbudget lasse dies nicht zu (siehe DÄ, Heft 46, Seite eins).
In einem System globaler Budgets sieht der Vorsitzende des Verbandes der Angestellten-Krankenkassen, Herbert Rebscher, indes "gute Startchancen" für die Vertragsärzte. Die Diskussion über Verteilungsfragen innerhalb des Budgets dürfte sich seiner Ansicht nach eher im stationären Sektor abspielen. Denn der habe selbst in Zeiten der Budgetierung massive Ausgabenüberhänge gehabt. Bei der angestrebten Rationalität der Versorgung hätten die Vertragsärzte zugleich die Chance, die Versorgung kostengünstiger und qualitativ besser zu gestalten.
Dennoch ist nach Rebschers Überzeugung eine Strukturreform notwendig. An erster Stelle stehe das Kapazitätenproblem. Man kämpfe immer noch mit der Niederlassungswelle, die das Gesundheitsstrukturgesetz ausgelöst habe. Es bleibe die spannende Frage, sagte er, ob die Selbstverwaltung die Kapazitäten planerisch im Kollektivvertragsmodell entwickele oder dem Wettbewerb und damit dem selektiven Kontrahieren (eine Umschreibung des Begriffs "Einkaufsmodell") vertraue.
Einig sind sich Rebscher und Schorre darin, daß die Versorgungsstrukturen sektorenübergreifend weiterentwickelt werden müssen. Beim Leistungsprozeß an sich gehe es um eine möglichst rationale Lösung von Patientenproblemen, sagte Rebscher. Dazu sei ein geregeltes Verfahren zur Entwicklung und Umsetzung von Leitlinien und Standards notwendig. Die Selbstverwaltung müsse ferner ein flächendeckendes Qualitätssicherungsprogramm organisieren.
Bei der anstehenden Strukturreform bot Rebscher den Vertragsärzten die konstruktive Zusammenarbeit der Kassen an. Gelinge dies, könne man den stationären Sektor auch mehr als bisher auf den Prüfstand stellen.
Dr. Sabine Glöser

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Korzilius, Heike

Ressourcenverteilung: "Das Gesundheitswesen ist im Prinzip unersättlich"

in: Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 8 (26.02.1999), Seite A-457
POLITIK: Aktuell

Die meisten Industrienationen müssen ihre Gesundheitssysteme reformieren. Das Machbare mit begrenzten Mitteln zu finanzieren, gleicht einer Quadratur des Kreises.
Die Gesundheitsreform als ewige und unlösbare Aufgabe - diese Vorstellung dürfte der Alptraum jedes Gesundheitspolitikers sein. Glaubt man Prof. Dr. Uwe E. Reinhard, ist aber genau dies der Fall. "Jederzeit und überall sind die Menschen unzufrieden mit ihrem Gesundheitssystem. Auch die angeführten Mängel sind überall dieselben. Deshalb ist eine Gesundheitsreform nie erfolgreich abgeschlossen", lautet die These des Gesundheitsökonomen an der amerikanischen Universität Princeton. Reinhard sprach auf dem XII. Malente Symposium "Gesundheitssysteme am Scheideweg: Ausgleich zwischen individuellen Bedürfnissen und finanziellen Grenzen", das die Dräger-Stiftung Anfang Februar in Lübeck veranstaltet hat. Unbestreitbar ist, so Reinhard, daß die Gesundheitskosten weltweit einen immer größeren Anteil am jeweiligen Bruttoinlandsprodukt (BIP) einnehmen. Dabei sei die Unzufriedenheit mit dem Gesundheitssystem unabhängig davon, wieviel ein Land für Gesundheit ausgebe. Die US-Amerikaner seien mit einem Anteil von rund 14 Prozent am BIP genauso unzufrieden wie die Briten, die sich ihre Gesundheit etwa die Hälfte kosten lassen. Eine wissenschaftlich fundierte Antwort auf die Frage, wieviel eine Nation für Gesundheitsleistungen ausgeben sollte, gebe es zudem nicht. Der rheinland-pfälzische Gesundheitsminister Florian Gerster sieht das eher pragmatisch: "Wir geben in Deutschland jährlich rund 450 Milliarden DM für Gesundheit aus. Wenn das nicht reichen soll, weiß ich nicht, was mit Geld bezahlt werden kann." Das Gesundheitswesen sei stark anbieterorientiert, wobei eine Ausweitung des Angebots zusätzliche Nachfrage auslöse. Erschwerend komme hinzu, daß es aufgrund des Informationsgefälles zwischen Arzt und Patient keine echte Konsumentensouveränität gebe. Eine solche Situation birgt Konflikte. Gesundheitsökonom Reinhard beschreibt dies so: Die Finanziers von Gesundheitsleistungen wittern stets Verschwendung - im deutschen gesundheitspolitischen Jargon: Wirtschaftlichkeitsreserven - auf seiten der Leistungserbringer, während diese über Unterbezahlung und Unterfinanzierung klagen. Dabei sei der Wert der "Ware Gesundheit" kaum zu beziffern. Wie Gerster diagnostiziert auch Reinhard ein Informationsgefälle zwischen Arzt und Patient, woran sich für ihn die Frage knüpft, ob die Ärzte wirklich wissen, was sie tun. Wissenschaftliche Studien hätten beispielsweise große intra- und internationale Unterschiede zwischen den Gesundheitsausgaben nachgewiesen, ohne daß sich diese Differenzen auf den Gesundheitszustand der Bevölkerung auswirkten. Fehlende medizinische Standards führten hier zu Intransparenz und Unzufriedenheit. Zudem gebe es keine ideale Vergütungsmethode für ärztliche Leistungen: Die Einzelleistungsvergütung berge die Gefahr der Überversorgung, Kopfpauschalen die der Unterversorgung. Zahle man den Ärzten ein Gehalt, könne dies zu Unproduktivität führen. Über allem schwebe schließlich der Verdacht, daß die Patienten kollektiv finanzierte Systeme ausnutzen, indem sie Leistungen wahllos in Anspruch nehmen.
Markt als Problemlöser?
Allen Reformansätzen gemeinsam ist es deshalb laut Reinhard, den Akteuren im Gesundheitswesen größere Verantwortung für die Verwendung von Ressourcen zu übertragen. Die Idee, daß ein freier "Markt" die Probleme löst, verweist der Ökonom ins Reich der Theorie. Ein unkontrollierter Wettbewerb führe dazu, daß Gesundheitsleistungen rationiert würden. Rationierungskriterium sei die Zahlungsfähigkeit des einzelnen: "Man muß darüber nachdenken, ob dies in Deutschland jemals sozial akzeptabel wird, bevor man Marktmechanismen einführt." Effizienz, ein Schlagwort aller Reformdiskussionen, erhalte ihre Bedeutung erst im Hinblick auf ein definiertes Ziel. "Wenn das Ziel ein solidarisches Gesundheitssystem ist, wird jedes marktwirtschaftliche System ineffizient sein, weil es Solidarität und den gleichen Zugang zu Gesundheitsleistungen ausschließt", gibt Reinhard zu bedenken. Bei allen Reformüberlegungen gelte es, die Verteilungsgerechtigkeit zu berücksichtigen, wobei die Gesellschaft die Ziele vorgeben müsse. Solidarität und Marktmechanismen können nach Ansicht von Reinhard nur im kontrollierten Wettbewerb (managed competition) verbunden werden, wobei verschiedene Krankenversicherungsformen über Preise und Leistungen um Versicherte konkurrieren. Die Frage, inwieweit die Rationierung von Gesundheitsleistungen an die Finanzkraft des einzelnen geknüpft sein soll, hält Reinhard für legitim. Fragwürdig seien hingegen Reformvorschläge, die unter dem Motto "mehr Markt" oder "mehr Effizienz" nicht explizit auf das damit verbundene Problem der Verteilungsgerechtigkeit eingehen.
"Wir müssen nach Wegen der Ressourcenverteilung suchen. Die Zeiten voller Kassen sind vorbei", sagt auch Dr. med. Frank-Ulrich Montgomery, Präsident der Ärztekammer Hamburg. Das Grundproblem besteht für ihn darin, daß das Gesundheitswesen im Prinzip unersättlich ist. Der medizinisch-technische Fortschritt gehöre zu den klassischen Fällen additiver Investitionen, bei denen neue Verfahren die alten nicht ablösten, sondern hinzukämen. Die Rationierung medizinischer Leistungen ist nach Auffassung des Kammerpräsidenten jedoch Aufgabe des Staates. Seine Kritik: Die Politik entzieht sich der Verantwortung, wenn sie Rationierungsentscheidungen in die Selbstverwaltung - oder schlimmer noch - in die Arztpraxen verlagert. Klassisches Beispiel: das von der rot-grünen Bundesregierung diskutierte Globalbudget. Hier bestehe die Gefahr, daß der Arzt zum Vollstrecker politischer Rationierungsentscheidungen werde. Die Ärzte müßten als Anwälte ihrer Patienten fiskalische Grenzen so lange bekämpfen, wie sie enger gezogen seien als die ethischen und biologischen. Doch Montgomery räumt ein: "Die Kluft zwischen medizinisch Sinnvollem und infolge von Ressourcenknappheit nicht Machbarem wird wachsen." Gesundheitsminister Gerster hält die Frage: "Wo darf man rationieren?" für erlaubt. Am Grundsatz, daß Notwendiges über die Gesetzliche Krankenversicherung finanziert werden muß, will er jedoch festhalten. "Einen Paradigmenwechsel würde keiner mitmachen", ist der Minister überzeugt. Dennoch müsse man zaghaft darüber nachdenken, medizinisch Notwendiges und medizinisch Sinnvolles, das aber nicht notwendig sei, zu trennen.
Heike Korzilius

 

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Brech, Prof. Dr. med. Wolfgang; Bausch, Dr. med. Jürgen

Ambulante Versorgung: Die KBV will die Folgen der Budgetierung offenlegen

in: Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 9 (05.03.1999), Seite A-528
POLITIK: Aktuell

Weil die Politik weiterhin auf Budgets beharrt,
sollen die Kassenärzte nicht länger schweigen, sondern
ihre Patienten mit den Sachzwängen konfrontieren.
Um eine kontinuierliche medizinische ambulante Versorgung der Bevölkerung auch weiterhin auf hohem Niveau zu gewährleisten, werden KBV und KVen auch gegenüber der neuen Regierungskoalition darlegen, daß dies in einem auf Solidarität gegründeten Gesundheitssystem durch sektorale Budgetierungen nicht mehr möglich ist. Wenn Patienten, ihrem Krankheitszustand angemessen, qualitativ hochwertig und auf der richtigen Ebene des Versorgungssystems - und das ist in der Regel (90 Prozent) die ambulante Behandlung - versorgt werden sollen, so müssen genau dort für diese Leistungen ausreichende Finanzmittel bereitgestellt werden. Dies gilt für die Vergütung der ärztlichen Leistungen ebenso wie für notwendige veranlaßte Leistungen. Stehen diese Finanzmittel wegen der politisch festgelegten strikten sektoralen Budgetierung nicht an der richtigen Stelle zur Verfügung, muß der Patient dort behandelt werden, wo die Mittel verfügbar sind, oder es muß zu einer Rationierung der Leistungen kommen. Niemand kann von einem Vertragsarzt erwarten, daß er für die notwendigen Arznei- und Heilmittel seiner Patienten, nur wegen zu knapp bemessener politischer Budgets, den das Budget übersteigenden Betrag aus seinem erarbeiteten Honorar finanziert.
Neben der politisch-argumentativen Auseinandersetzung mit der gesetzlich verfügten sektoralen Budgetierung ist es jedoch auch erforderlich, den niedergelassenen Ärzten im täglichen Umgang mit den gegebenen Rahmenbedingungen für die Versorgung ihrer Patienten Handlungshilfen bereitzustellen. Dies bedeutet nicht, daß diese Rahmenbedingungen damit anerkannt würden. Der Vorstand der KBV hat deshalb im Einvernehmen mit dem Länderausschuß beschlossen, Informationen und Handlungshilfen zur Ausschöpfung von Wirtschaftlichkeitsreserven auf der Basis der Arznei- und Heilmittel-Richtlinien, zu innovativen und teuren Versorgungsangeboten (verbunden mit der Frage, ob die Politik auf diese Versorgungsoptionen angesichts knapper Ressourcen zu verzichten gedenkt) und zum Stand der Budgetausschöpfung bereitzustellen.
Diese Informationen sollen die Vertragsärzte in die Lage versetzen, drohende Regresse mit allen negativen Folgen, auch für die Versorgung, zu vermeiden. Die KBV ist sich bewußt, daß der Vertragsarzt in der Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben die Hauptlast zu tragen hat. Die Sorge, daß sich Kollegen auch durch "Marketing mit dem Rezeptblock" Vorteile gegenüber denjenigen verschaffen, die bereit sind, ihren Patienten die Notwendigkeit von Einschränkungen in der Versorgung zu vermitteln, wird durch die Einführung individueller Regresse relativiert. Leistungsausschlüsse konsequent realisieren
Eine wichtige Unterstützung für die politischen Bemühungen der Standesvertretung leistet jeder einzelne Arzt, wenn er nicht - wie in der Vergangenheit - versucht, möglichst geräuschlos und weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit die Versorgung auf einem halbwegs akzeptablen, medizinisch vertretbaren Niveau zu halten. Dies mit der begründeten Sorge, in der Zukunft doch noch zur Kasse gebeten zu werden. Jeder Vertragsarzt wird zukünftig gezwungen sein, konsequent alle gesetzlichen Leistungsausschlüsse und alle ihm von den Kassen und der Politik abverlangten Wirtschaftlichkeitsreserven bei der Behandlung seiner Patienten zu realisieren und sie zugleich auf diese politisch, nicht jedoch medizinisch begründeten Zwänge hinzuweisen. Handlungshilfen zum Umgang mit den Budgets
Die KBV wird zunächst im ersten Halbjahr 1999 etwa alle drei Wochen Handlungshilfen für den Vertragsarzt zum Umgang mit den Budgets und Richtgrößen in Form von Beilagen zum Deutschen Ärzteblatt zu den nachstehenden Themen aufbereiten:
c gesetzlich vorgegebene Leistungsausschlüsse
c Auswahl wirtschaftlicher Generika und Darreichungsformen und Umgang mit Kombinationspräparaten
c wirtschaftlicher Umgang mit Innovationen
c Umgang mit Verordnungswünschen und Krankenhausentlassungsrezepten
c konsequenter Einsatz von praxisinternen Positivlisten
c wirtschaftlicher Umgang mit Heilmitteln
c indikationsbezogene Beispiele zum zusätzlichen Finanzbedarf durch innovative Versorgungskonzepte.
Die Handlungshilfen basieren auf gesetzlichen Bestimmungen und den Arznei- und Heilmittelrichtlinien. Die Informationen werden auch auf den Internetseiten der KBV unter www.kbv.de veröffentlicht. Flankierend stellen die KVen Handzettel und Wartezimmerplakate für Patienten zur Verfügung. In der Patientenzeitschrift "medizin heute" werden die erzwungenen Versorgungseinschränkungen ebenfalls thematisiert und zielgruppengerecht dargestellt. Die einzelnen KVen begleiten die Aktion gegebenenfalls zusätzlich durch eigene Aktivitäten.
Sofern Sie sich als Vertragsärzte nach Gesetz und Richtlinien konsequent wirtschaftlich verhalten und
Ihnen von seiten der Krankenkassen oder der Politik der Vorwurf gemacht wird, die Versorgung nicht im gewünschten Umfang bereitzustellen, bitten wir Sie, uns dies schriftlich mitzuteilen und dabei "Roß und Reiter" zu benennen (KBV, Dezernat 4, Herbert-Lewin-Straße 3, 50931 Köln). Auf diese Weise kann sehr schnell deutlich gemacht werden, daß die Folgen politisch festgesetzter Budgets unter der übergeordneten Zielsetzung einer bedarfsgerechten und wirtschaftlichen Versorgung nicht ausreichend bedacht worden sind. Prof. Dr. med. Wolfgang Brech
Dr. med. Jürgen Bausch
Kassenärztliche Bundesvereinigung

 

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Jessen, Dr. Jens K.

Selbstbeteiligung: Noch nicht ausgereizt

in: Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 15 (16.04.1999), Seite A-960
POLITIK: Aktuell

Die Internationale Gesellschaft für Gesundheitsökonomie diskutierte in Mainz Regelungen zur Direktbeteiligung im Gesundheitssystem im internationalen Vergleich.


Vor 20 Jahren organisierte die Internationale Gesellschaft für Gesundheitsökonomie e.V. das erste Mal in der Akademie der Wissenschaften und Literatur in Mainz ein Symposium zu dem Thema "Selbstbeteiligung im Gesundheitswesen". Damals stritten Ärzte, Ökonomen und Politiker über das Für und Wider mit Verbissenheit und Grundsätzlichkeit. Am 18. März kam es zu einer erneuten Diskussion dieses Themas am gleichen Ort. Die Atmosphäre hat sich in den 20 Jahren völlig verändert. Wissenschaftler und Praktiker waren unter sich.
Rationales Verhalten
In seinem Statement wies der Vorsitzende der Gesellschaft, Prof. Dr. med. Hans Rüdiger Vogel, Frankfurt/Main, darauf hin, daß es heute in einem Großteil der Industriestaaten nicht mehr darum gehe, ob eine Selbstbeteiligung angezeigt ist, sondern wie diese Selbstbeteiligung in die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) am besten integriert werden kann.
Das Grundproblem des Krankenversicherungsschutzes in Deutschland, so Prof. Dr. rer. pol. Peter Ober-ender, Ordinarius für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth, sei zukünftig nicht die Verschwendung, sondern die vorhandene und ständig zunehmende Knappheit der Ressourcen. In den Vordergrund trete das Management des Mangels. Rationalisierung und Rationierung seien die Folge des Paradigmenwechsels in der Medizin: von der maximalen zur funktionalen medizinischen Versorgung. Konsequent folge daraus ein "duales Gesundheitswesen": auf der einen Seite der Solidarbereich (GKV) mit Fremdverwaltung und Regelleistungen, stabilen Beiträgen, Budgetierung und sehr begrenztem Wachstum, auf der anderen Seite die Eigenvorsorge mit Eigenverantwortung, Wahlleistungen, Wettbewerb und einem großen Wachstumspotential. Das rationale Verhalten der Beteiligten am Gesundheitswesen müsse durch eine fühlbare Selbstbeteiligung und die Honorierung der Leistungserbringer für den gesunden statt für den kranken Menschen gefördert werden. Oberender gibt der GKV eine Chance, wenn sie dem Zwang des Faktischen, das heißt der Finanzierbarkeit, angepaßt wird: Rationalisierung durch Ausschluß von nicht notwendigen Maßnahmen mit Hilfe individueller Anreize für ein sparsames Verhalten vor Ort (Haftungsprinzip) auf der einen Seite und Rationierung durch Ausschluß von wirksamen Leistungen im Rahmen von Warteschlangen (ohne Ausnahmeregelung).
Autonome Ausgabensteigerungen
Die Fortschritte der Selbstbeteiligung im internationalen Vergleich hat Dr. rer. pol. Markus Schneider, Geschäftsführer des Augsburger Beratungsinstituts Basys GmbH, aufbereitet. Zuzahlungsregelungen sind in Belgien, Frankreich, der Schweiz und den USA in das System eingebaut, um die Solidargemeinschaften vor Überforderungen bei ärztlicher Wahlfreiheit (das heißt: ohne Primärarztsystem) zu schützen. Großbritannien, Dänemark und die Niederlande verzichten teilweise auf Direktbeteiligungen, da sie zum Beispiel den Primärarzt als "Filter" für den Zugang zu den übrigen Sektoren des Systems benutzen. Die Belastung durch Selbstbeteiligung ist deshalb in diesen Ländern am geringsten. Allerdings sei auch in Primärarztsystemen eine hohe Selbstbeteiligung zu beobachten, wenn die Qualität beziehungsweise die Funktionsfähigkeit der nachgelagerten fachärztlichen Versorgung Mängel aufweise, so in Italien, Griechenland und Portugal.
Differenzierte Selbstbeteiligungsregelungen in Form prozentualer Zuzahlungen und Gebühren in nationalen Gesundheitsdiensten und Sozialversicherungssystemen orientierten sich an der Art der Leistung und an der Einflußnahmemöglichkeit durch den Patienten. Hier seien auch Härtefallregelungen üblich, damit der Versicherte eine notwendige und medizinisch begründete Leistungsinanspruchnahme nicht unterläßt.
In Systemen mit Risikosolidarität - private Versicherungssysteme, Managed Care - fallen überdurchschnittlich viele leistungsübergreifende Zuzahlungsregelungen auf. Die Art der Selbstbeteiligung, so Schneider, hänge von dem System der Gesundheitsversorgung ab. Davon abgekoppelt seien das Ausgabenniveau und das Ausgabenwachstum. Das werde nach Erkenntnissen von Basys stärker durch andere Faktoren als durch die Höhe der Selbstbeteiligungsbelastung bestimmt.
Diese empirischen Daten zu den Bestimmungsgründen und Wirkungen von Selbstbeteiligung wurden ergänzt durch Dr. rer. pol. Gerhard Brenner, Geschäftsführer des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung, Köln. Ziel einer Studie wissenschaftlicher Institute der Länder Großbritannien, Frankreich, Italien, Deutschland, Niederlande, Dänemark, Finnland und Österreich war es, die patientenbezogene Wirkung von Zuzahlungen im Verhältnis zu den Preisen der Arzneimittel zu analysieren. Die Studie zeige eine große Variationsbreite der Selbstbeteiligung, so Brenner:
c feste Zuzahlung unabhängig von Packungsgröße und Medikament
c nach Packungsgröße gestaffelte, feste Zuzahlungen
c proportionale Zuzahlungen vom Marktpreis.
Hinzu kommt noch eine Reihe von Härtefallregeln, die zu einer Befreiung der Zuzahlung führen. Das Ergebnis der Untersuchung verdeutlicht, daß es eine große Bandbreite der Arzneimittelpreise und der Belastung der Patienten durch Zuzahlungen gibt. In Deutschland ist die Belastung durch Zuzahlungen für den Patienten auch 1999 noch relativ gering, die Arzneimittelpreise sind jedoch relativ hoch. In Großbritannien sind die Zuzahlungen hoch, die Arzneimittelpreise relativ niedrig. Ein Vergleich der Zuzahlungen sieht Finnland mit der höchsten Zuzahlung vorne, gefolgt von Dänemark, Großbritannien, Österreich, Deutschland, Frankreich, und Italien. Die Belastung finnischer Patienten ist im Vergleich zum italienischen Patienten viermal so hoch.
Schweiz und Niederlande
Prof. Dr. Heinz Schmid, Bern, erläuterte Aufgabe und Funktion der Selbstbeteiligung aus versicherungsmathematischer Sicht anhand der Franchise - ein fester Betrag in Franken - und prozentualen Zuzahlung an den maßgebenden Behandlungskosten, in der Regel mit einer Begrenzung unabhängig vom Einkommen, in der Schweiz. Anhand einer Vielzahl von Beispielen verdeutlichte er, daß Direktbeteiligungen das Kostenbewußtsein der Versicherten fördern und die Ausgabenentwicklung der Versicherungsträger dämpfen können. Die Direktbeteiligungen sollten dort zum Zuge kommen, wo der Versicherte die Art und Intensität der Behandlungen beeinflussen kann.
Aus den Niederlanden berichtete Dr. Diane Delnoij über den Sachstand und neuere Entwicklungen der Zuzahlungsbegrenzungen. Am 1. Januar 1997 wurde im niederländischen Krankenkassengesetz die allgemeine Selbstbeteiligungsregelung (AEB) eingeführt. Danach mußte der Versicherte 20 Prozent der Behandlungskosten für die medizinische Versorgung selbst übernehmen. Ausgenommen davon wurden die Behandlungskosten für den Hausarzt, Zahnarzt und den Geburtshelfer. Es gab noch eine ganze Reihe verschiedener Regelungen für Alte, Kinder und andere. Ziel der AEB-Regelung war die Verschiebung der Finanzierung zu den Versicherten hin. Eine Untersuchung führte zum Ergebnis, daß die Versicherten 1997 für AEB 600 Millionen Gulden bezahlt haben. Die Einnahmen der Krankenkassen sanken - die nominale Prämie der Versicherten wurde um 110 Gulden verringert - um 871,4 Millionen Gulden. Delnoij kam auf der Basis der Untersuchung zum Ergebnis: Ein Erfolg der AEB-Regelung wäre zu verzeichnen, wenn in die Selbstbeteiligung auch der Besuch des Hausarztes einbezogen worden wäre.
In Skandinavien selbstverständlich
Dr. rer. pol. Uwe K. Preusker, Helsinki, berichtete aus Skandinavien über die Wirkung der Selbstbeteiligung. Er stellte die Frage, ob der Wohlfahrtsstaat mit der Selbstbeteiligung vereinbar sei. Aufgrund seiner Kenntnis der Verhältnisse in Norwegen, Schweden und Finnland zog er das Resümee:
c Selbstbeteiligungen und private Finanzierung sind in Nordeuropa Tradition. Sie widersprechen dem Wohlfahrtsstaatsgedanken nicht.
c Steuerungsfunktion und soziale Komponente - Kinder- und Hochkostenschutz - stehen im Mittelpunkt. Dr. Jens K. Jessen


Tabelle Selbstbeteiligung in der Krankenversicherung im internationalen Vergleich
Land Arzneimittel ambulante stationäre
Versorgung Versorgung
Deutschland proportional diverse linear (mit oberer
(nicht linear) Kappungsgrenze)
Großbritannien fest* keine keine
Schweden linear linear linear
USA diverse diverse proportional (nicht linear)
* feste Zuzahlung unabhängig von der Leistungsmenge Quelle: Medizinische Welt, Heft 2/1999, S. 48

 

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Clade, Dr. Harald

Rehabilitation: Trotz enger Ressourcen: Es geht wieder aufwärts

in: Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 18 (07.05.1999), Seite A-1174
POLITIK: Aktuell

Nach den Ende 1996 einsetzenden drastischen Sparmaßnahmen in der medizinischen Rehabilitation ist inzwischen eine Trendumkehr eingetreten: Die Anschlußrehamaßnahmen steigen seit 1998 wieder.


Der Sektor der medizinischen Rehabilitation und der Anschlußheilbehandlungen (stationäre Maßnahmen) hat vor allem infolge des Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetzes und des Beitragsentlastungsgesetzes in den Jahren 1996 und 1997 zu Umsatzrückgängen und -einbrüchen bis zu mehr als 30 Prozent geführt. Die Folge: Mehr als 180 Rehabilitationseinrichtungen und Kurkliniken mußten entweder kurzfristig schließen oder Kurzarbeit anmelden, Entlassungen vornehmen oder ihren Betrieb auf andere Zwecke umwidmen.
Inzwischen werden wieder mehr Anträge auf die Durchführung stationärer Maßnahmen zur medizinischen Rehabilitation gestellt, genehmigt und in Anspruch genommen. Ein Schlaglicht die aktuelle Situationsanalyse der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA), die deren Präsident, Dr. jur. Herbert Rische, vor der Presse in Berlin erläuterte: Im Jahr 1998 sind die von der Bundesversicherungsanstalt finanzierten Anschlußheilbehandlungsmaßnahmen (Anschlußrehabilitation) gegenüber 1997 um acht Prozent gestiegen (neue Bundesländer: + 10 Prozent; alte Länder: + 7 Prozent). Allerdings basieren diese Zuwächse auf dem seit 1997 zurückgegangenen Ausgangsniveau.
Die Bundesanstalt "investierte" im vergangenen Jahr zur Finanzierung von Rehabilitationsleistungen ein Volumen in Höhe von 3,056 Milliarden DM. Das gesetzlich vorgegebene Budget ist damit fast exakt wie in einer "Punktlandung" (Herbert Rische) eingehalten worden. Die Ausgabenüberschreitungen und -unterschreitungen oszillieren um die Vorgabewerte um plus/minus zwei bis drei Prozent. Die BfA führte im Jahr 1998 rund 75 000 Anschlußheilbehandlungen durch. Wichtigste AHB-Indikationsgruppen sind wie bisher schon die Krankheiten der Bewegungsorgane (40 Prozent), onkologische Erkrankungen (22 Prozent), Herz-Kreislauf-Erkrankungen (20 Prozent) und neurologische Erkrankungen (10 Prozent).
Bei der Bundesversicherungsanstalt wurden im letzten Jahr im eigenen Zuständigkeitsbereich (das heißt ohne AHB-Maßnahmen, die im Auftrag der gesetzlichen Krankenkassen durchgeführt werden) rund 475 000 Anträge auf medizinische und sonstige Leistungen zur Rehabilitation gestellt (+ 18 Prozent).
Getrennte Wege: Kranken-/ Rentenversicherung
Allerdings hat das "Auftragsgeschäft" der Bundesversicherungsanstalt für AHB-Maßnahmen, die für die Krankenkassen durchgeführt werden, einen herben Rückschlag erlitten: Wie der BfA-Präsident berichtete, haben sich die gesetzlichen Krankenkassen aus dem gemeinsam mit der BfA bisher praktizierten Direkteinweisungsverfahren vollends zurückgezogen. Damit ist die unmittelbare Verlegung vom Akutkrankenhaus in eine Rehabilitationseinrichtung nicht mehr immer ohne verzögernde Zuständigkeitsprüfung gewährleistet. Eine lückenlose und unverzügliche integrierende Versorgung von bisher Akutkranken und Rehabilitanden wird aber von allen Rehabilitations-Experten dringend angeraten, unterstützt auch durch die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR), Frankfurt/ Main, die dies in dem zu Beginn der neuen Legislaturperiode konzipierten Positionspapier vehement forderte.
Seit einem Jahr gehen die Krankenkassen getrennte Wege und wenden ein eigenes Zuweisungsverfahren an - offenbar aus Autonomiebestrebungen und aus Kostendämpfungsgründen. Bei der Bundesversicherungsanstalt gingen deshalb die AHB-Anträge im Auftrag der Krankenkassen in den alten Ländern im Jahr 1998 um 28 Prozent, in den neuen Ländern sogar um 50 Prozent zurück.
Dagegen nahmen die Anträge auf ambulante/teilstationäre Maßnahmen stark zu, wenn auch auf niedrigerem Ausgangsniveau. Im Jahr 1998 gingen 7 500 Anträge bei der BfA ein (+ 43 Prozent gegenüber 1997). Bei den ambulanten und teilstationären Maßnahmen haben die Entwöhnungsbehandlungen einen überdurchschnittlich hohen Anteil.
Auch bei den berufsfördernden Leistungen gibt es einen leichten Zuwachs bei den Anträgen: 1998 waren es rund 61 000 Anträge, mithin zwei Prozent mehr als noch im Jahr 1997.
Bei den Patienten, die eine Anschlußrehabilitation durchliefen, hat sich die Gesamtdauer vom Beginn der stationären Akutbehandlung bis zum Ende der Maßnahmen deutlich verkürzt. Die akut-stationäre Liegezeit für sämtliche Patienten (AHB) im Jahr 1998 betrug 23 Tage - gegenüber 35 Tagen im Jahr 1992.
Auch hat sich die Verlegungszeit von der Akut- in eine Rehabilitationsklinik und -einrichtung seit 1992 fast halbiert; sie betrug im vergangenen Jahr im Durchschnitt aller Indikationen nur noch rund sechs Tage. Dies kann als ein weiteres Indiz für eine enger gewordene Verzahnung und eine bessere Kooperation von Akutkrankenanstalten mit Rehabilitationskliniken gewertet werden. Großen Anteil an den verkürzten Gesamtbehandlungsdauern hatten nach Darstellung der BfA auch die Reha-Einrichtungen: Die durchschnittliche Dauer einer Rehabilitationsbehandlung im AHB-Antragsverfahren der BfA betrug im Jahr 1998 noch 26,6 Tage (zwei Tage weniger als noch 1997 und sechs Tage weniger als 1992).
Einhellig kritisiert wird sowohl bei den Rentenversicherungsträgern als auch der Bundesarbeitsgemeinschaft sowie beim Bundesverband der Privatkrankenanstalten die vom Bundesgesetzgeber 1996 von vier auf drei Wochen verkürzte Regelverweildauer und die Verlängerung des Wiederholungsintervalls von drei auf vier Jahre. Die BfA hat sich darauf festgelegt, die Leistungen trotz der relativ starren gesetzlichen Rahmenbedingungen indikationsbezogen und medizinisch begründet weiterhin flexibel zu handhaben. Dies wird durch indikationsbezogene Verlängerungsbudgets der Kliniken ermöglicht.
Bei den Indikationen, die Ausschlag für eine AHB-Maßnahme gaben, handelt es sich zum größten Teil um gravierende, oft postoperative Krankheitsbilder, die in erheblichem Ausmaß zu einer Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit führen können. Ein Indiz für diese Entwicklung: Weniger als die Hälfte der AHB-Rehabilitanden des Jahres 1992 schieden in einem Zeitraum von fünf Jahren nach Beendigung der RehaMaßnahme endgültig aus dem Erwerbsleben aus. Mehr als 40 Prozent der Männer und 19 Prozent der Frauen waren lückenlos erwerbstätig, weitere 12 Prozent der Männer und neun Prozent der Frauen waren mit Unterbrechungen erwerbstätig.
In Zukunft will die BfA sowohl die Kooperationsverbünde verstärken als auch nicht mehr versorgungsnotwendige Reha-Betten kündigen. Davon könnten rund 6 000 Betten in Reha-Einrichtungen betroffen sein. Die Qualitätsstandards sollen verbessert und der Förderschwerpunkt "Rehabilitationswissenschaften" verstärkt werden. In den nächsten acht Jahren steht hierfür ein Gesamtfinanzierungsvolumen in Höhe von 80 Millionen DM zur Verfügung, das aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und von allen Rentenversicherungsträgern aufzubringen ist.
Neukodifizierung des Reha-Rechtes
In der Koalitionsvereinbarung vom Oktober 1998 wird künftig den Rehabilitationsmaßnahmen ebenso wie der Prävention ein deutlich stärkerer Rang eingeräumt. Nach der Devise "Rehabilitation vor Pflege und vor Rente" sollen sämtliche qualifizierten Maßnahmen forciert werden; dies ist auch die Forderung der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation und der Verbände der Rehabilitations-Einrichtungen. Bereits seit längerer Zeit plant die Politik eine völlige Neukodifizierung des Rehabilitationsrechtes in das Sozialgesetzbuch IX. Ziel ist es, stringentere Regelungen zu treffen und in allen die Rehabilitation betreffenden Sozialleistungszweigen einheitliche Vorschriften zu verankern. Namentlich der Bundesverband Deutscher Privatkrankenanstalten e.V. hat anläßlich seines Bundeskongresses am 29./30. April in Weimar an den Gesetzgeber konkrete Forderungen gerichtet:
Flexibilisierung der relativ starren dreiwöchigen Regeldauer für die Durchführung von RehabilitationsMaßnahmen und Anschlußrehabilitationsmaßnahme; Flexibilisierung des Wiederholungsintervalls nach ausschließlich medizinischen Erfordernissen und Indikationen.
Vermeidung des mißverständlichen und oftmals falsch gebrauchten Begriffes "Kur" im Leistungsrecht und statt dessen die Unterscheidung zwischen Vorsorge-, Kurations- und Rehabilitationsleistungen beziehungsweise von Maßnahmen zur Anschlußrehabilitation. Änderung der gesetzlichen Vorschriften, insbesondere der §§ 23 und 40 SGB V.
Flexibilisierung der Verweildauer nach medizinischen und ökonomischen Erfordernissen unter Beachtung der Notwendigkeit einer bedarfsgerechten und optimalen Patientenversorgung und der Kompetenz des behandelnden Arztes sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich. Entdeckelung des Budgets insoweit, daß sämtliche notwendigen Rehabilitationsmaßnahmen innerhalb des vorgegebenen Budgets durchgeführt werden können. Schaffung von Freiräumen durch die Ausgrenzung fragwürdiger Behandlungsmaßnahmen.
Verbesserung der Qualitätssicherung im Bereich der Rehabilitation durch entsprechende Bundesrahmenrichtlinien.
Überprüfung der Zuzahlungsregelungen im Bereich der medizinischen Rehabilitation. Harmonisierung der Vorschriften im Bereich der Renten- und Krankenversicherung.
Überprüfung des Grundsatzes der Einheitlichkeit und Gemeinsamkeit in der Gesetzlichen Krankenversicherung sowohl bei der Vereinbarung von Versorgungsverträgen als auch bei den Vergütungen.
Verstärkung und finanzielle Förderung der Aus-, Weiter- und Fortbildung in der Rehabilitation; Förderung der Rehabilitationsforschung und -wissenschaft. Dr. Harald Clade

 

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Glöser, Dr. Sabine

Gesundheitsreform 2000: Globalbudget weckt keine Zuversicht

in: Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 18 (07.05.1999), Seite A-1180
POLITIK: Aktuell

Auch das Globalbudget und Einkaufsmodelle für integrierte Versorgungsformen werden an den begrenzten finanziellen Mitteln der Gesetzlichen Krankenversicherung nichts ändern.


Die neue Bundesregierung will die Strukturen im Gesundheitswesen grundlegend ändern - einiges wird indes auch nach der "großen Reform" bleiben, wie es ist. Für den Knackpunkt hält Prof. Dr. Günter Neubauer, Direktor des Instituts für Gesundheitsökonomik in München, das Kernproblem, das auch nach der Gesundheitsreform 2000 bestehenbleibt: die Knappheit der finanziellen Mittel. Das ideologische Leitbild der Gesundheitspolitik habe sich nach der Bundestagswahl zwar geändert. Die neue Regierung setze auf Solidarität statt auf Selbstverantwortung. Doch der enge ökonomische Spielraum zwinge dazu, Prioritäten zu setzen. "Wir stellen uns der Ehrlichkeit nicht, daß dies immer auch Rationierung bedeutet", sagte Neubauer bei einer Euroforum-Konferenz Ende April in Düsseldorf. Die entscheidende Frage sei daher nicht, wie man die Knappheit der finanziellen Mittel aufheben könne, sondern vielmehr, wie und was man rationiere.
Der stellvertretende Hauptgeschäftsführer der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Dr. med. Lothar Krimmel, unterstrich dies. Im Gegensatz zur optimierten Individual-Medizin, sagte er, gebe es in der Gesetzlichen Krankenversicherung seit 1993 eine rationierte Budget-Medizin. Und die orientiere sich maßgeblich daran, die starren Budgets einzuhalten. Leitgedanke oder zumindest Konsequenz dieser BudgetMedizin sei es, auch unterhalb von Standards zu behandeln. Nämlich dann, wenn die Budgetgrenze erreicht sei.
Welche Folgen der "Budgetirrsinn" für die Kassenärzte in diesem Jahr habe, verdeutlichte er am Beispiel der Arznei- und Heilmittelbudgets. Die Kassenärzte allein müßten beispielsweise für den medizinischen Fortschritt, die Zunahme der Morbidität, die demographische Belastung und auch das Leistungsgebaren der Krankenkassen haften. Krimmel: "Das hat mit den tatsächlichen Verantwortlichkeiten nichts mehr zu tun." Die Folge sei, daß das Arznei- und Heilmittelbudget in den neuen Bundesländern Anfang Oktober aufgebraucht sei.
Einkaufsmodelle zersplittern die Versorgung
Das anstehende Gesetz soll jedoch mehr als bloße Kostendämpfung bewirken. Die Pläne der Regierungskoalition zielen nicht zuletzt darauf ab, die Machtverhältnisse im Gesundheitswesen zugunsten der Krankenkassen zu verschieben. Das angestrebte Einkaufsmodell bei integrierten Versorgungsformen lehnt Krimmel strikt ab. Es stehe dem Leitgedanken einer einheitlichen Versorgung diametral gegenüber. Risikoselektion und eine zersplitterte Versorgung wären unausweichlich. Zudem würden sich die Vertragsebenen und die Fremdkassenprobleme vervielfachen, die Gesamtvergütungen und die Arzneimittelbudgets der Kassenärztlichen Vereinigungen würden wegfallen. Statt dessen plädiere die KBV dafür, die Krankenkassenverbände zu verpflichten, Stukturverträge kassenartenübergreifend abzuschließen.
Ganz anders sehen das die Krankenkassenvertreter. Sie wollen Verträge über kooperative Versorgungsformen mit den Ärzten vor Ort schließen. Karl-Heinz Schönbach vom BKK-Bundesverband forderte eigenständige Vertragsrechte der regionalen ärztlichen Zusammenschlüsse. Der Gesetzgeber soll seiner Ansicht nach Mindestvoraussetzungen für die Vertragsfähigkeit ärztlicher Zusammenschlüsse festlegen und deren Rechtsformen und Geschäftsführungen normieren.
Kombinierte Budgets für kooperative Modelle
Die derzeit entscheidende Frage ist, in welcher Form integrierte Versorgungsformen unter einem Globalbudget gesteuert und finanziert werden können. Nach Schönbachs Vorstellungen sind kombinierte Budgets das Mittel der Wahl. Wie diese umgesetzt werden könnten, erklärte er so: Für die Versicherten, die sich für ein integriertes Modell entschieden haben, vereinbaren die Krankenkassen vor Ort ein aus den sektoralen Budgets abgeleitetes kombiniertes Budget als Obergrenze. Dazu werden die sektoralen Budgets um die Ausgabenanteile für die integrierten Leistungen bereinigt. Die durchschnittlichen Ausgaben je Versicherten werden für die teilnehmenden Versicherten nach den Merkmalen des Risikostrukturausgleichs gewichtet. Schönbach zufolge werden so Risikoverschiebungen zugunsten oder zu Lasten teilnehmender oder nicht teilnehmender Ärzte und Versicherter vermieden. In die kombinierten Budgets sollen seiner Ansicht nach Drittleistungen wie Arznei-, Heil- und Hilfsmittel soweit wie möglich einbezogen werden. Auf diese Weise werde eine medizinische und ökonomische Gesamtverantwortung ermöglicht.
Daß die anstehende Strukturreform nicht das Maß aller Dinge sein wird, daran ließ Prof. Dr. Günter Neubauer keinen Zweifel. "Im Jahr 2004 haben wir die nächste Gesundheitsreform", prognostizierte er. Von der jetzigen oder einer anderen Bundesregierung. Dr. Sabine Glöser

 

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Glöser, Dr. Sabine

Zweiter Ostdeutscher Kassenärztetag: Andrea Fischer erwägt "Sofortprogramm Ost"

in: Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 19 (14.05.1999), Seite A-1247
POLITIK: Aktuell

2 500 niedergelassene Ärzte haben sich in Leipzig gegen die Politik der rot-grünen Bundesregierung gewandt.


Endlich ein einheitliches Gesundheitswesen in Deutschland! Das haben die niedergelassenen Ärzte der neuen Bundesländer am 1. Mai im Leipziger Gewandhaus erneut eingefordert - von der Politik und insbesondere von Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer, die sich der Konfrontation mit den verbitterten Ärzten stellte. Die ostdeutschen Krankenkassen, lautet die Kernforderung, sollen für die medizinische Versorgung der Patienten in der Relation genauso viel Geld zur Verfügung haben wie die im Westen. Der Ostdeutsche Kassenärztetag stand daher unter dem Leitgedanken "Als Ost-Patient weniger wert!?". Initiiert und besser organisiert als 1998 wurde er von den Vorsitzenden der fünf Kassenärztlichen Vereinigungen der neuen Länder. Mit aller Schärfe hatten die ostdeutschen Vertragsärzte bereits im vergangenen Jahr darauf gedrängt, die sozialrechtliche Unterscheidung von Ost und West aufzuheben. "Heute treffen wir uns hier erneut", sagte der Vorsitzende der KV Sachsen, Dr. med. habil. Hans-Jürgen Hommel, "weil die soziale Mauer wächst und die Mittel, die in das Gesundheitssystem der neuen Bundesländer fließen, nicht mehr ausreichen." Von 1995 bis 1998 seien die Krankenkassenleistungen für die ambulante Versorgung in den alten Ländern um 7 Prozent, in den neuen Ländern nur um 1,9 Prozent gestiegen. Die Aufwendungen für den Versicherten im Osten lägen nur bei 75 Prozent des Westniveaus.
Enttäuscht und zornig zeigte sich der Vorsitzende der KV Mecklenburg-Vorpommern, Dr. med. Wolfgang Eckert, darüber, "wie die Politiker mit unseren Patienten und uns im Osten umgehen". In einer kämpferischen Rede ging er mit der rot-grünen Bundesregierung hart ins Gericht. Sie habe in unglaublicher Manier und hektischer Eile ein Vorschaltgesetz gezimmert, das "unsere schlimmsten Befürchtungen weit übertroffen hat". Er spielte damit vor allem auf die Abschaffung der Regelleistungsvolumina und die Wiedereinführung der Arznei- und Heilmittelbudgets an. Auf politischen Druck hin seien die Arzneimittelbudgets viel zu niedrig festgesetzt worden - obwohl der Arzneimittelverbrauch im Osten erwiesenermaßen höher sei. Eckert nannte die Gründe dafür: höhere Morbidität, schlechte Sozialstruktur, hohe Zuzahlungsbefreiung wegen niedriger Verdienste, Arbeitslosigkeit und geringe Selbstmedikation. Seiner Einschätzung nach werden in allen ostdeutschen Ländern Regresse fällig. Mecklenburg-Vorpommern läge bereits nach dem ersten Quartal dieses Jahres um 25 Millionen DM über dem Soll. Das Arzneimittelbudget, prognostizierte er, sei Mitte Oktober ausgeschöpft. "Wir Kassenärzte in Ostdeutschland versprechen Ihnen heute schon", rief er der Ministerin zu, "daß wir dann keine Rezepte auf unsere Kosten ausstellen werden."
Als besonders infam bezeichnete der Rostocker Allgemeinarzt die Reglementierung der ostdeutschen Praxisumsätze im Vorschaltgesetz. Danach errechnet sich die Gesamtvergütung 1999 aus der Höhe des Budgets 1997, zweimal addiert wird die bundesdurchschnittliche Grundlohnsummenentwicklung in 1998. Dennoch könne die Gesamtvergütung in den neuen Ländern 1999 bis zu 4,5 Prozent niedriger liegen als 1998 - in Mecklenburg-Vorpommern wären das 42 Millionen DM. Der Grund: Die Vertragsabschlüsse für 1998 mit einem Plus von 3,5 Prozent wurden nicht berücksichtigt. Zudem hingen die Transferleistungen von den Vertragsabschlüssen im Westen ab.
Die Schere zwischen Ost und West geht Eckert zufolge im Jahr 2000 noch weiter auseinander. Denn die möglichen Transferleistungen aus den West-KVen würden bei der Sockelberechnung der Gesamtvergütung nicht einbezogen. Durch die Regelungen im Vorschaltgesetz werde der Sockelbetrag für die Gesamtvergütung Ost im Jahr 2000 um 0,96 Prozent gesenkt, in den alten Ländern steige sie indes um 3,32 Prozent. Damit, erboste er sich, verstoße der Gesetzgeber gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Grundgesetzes und den Einigungsvertrag. "Wenn Sie so weitermachen wollen, dann nehmen Sie doch unsere Praxen, bezahlen Sie unsere Schulden und lassen Sie uns von den Krankenkassen nach BAT anstellen", wandte Eckert sich an die Ministerin.
Die hohe Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern wird die Situation weiter verschärfen. Immer mehr GKVMitglieder würden zu nichtzahlenden Familienversicherten. Infolgedessen müßten die Ärzte mit weniger Mitteln die gleiche Zahl von Patienten behandeln. Für den KV-Vorsitzenden gibt es nur eine Konsequenz: Wenn die Politik die deutsche Einheit im sozialen Bereich nicht durchsetze, sagte er, solle sie einen Leistungskatalog Ost mit 25 Prozent weniger Leistungen vereinbaren - und dies den Patienten auch unumwunden sagen.
Patientenprotest gegen Zwei-Klassen-Medizin
In Mecklenburg-Vorpommern haben bereits 150 000 Menschen eine Initiative gegen die Zwei-Klassen-Medizin unterstützt, in Brandenburg 192 000. Eckert: "Noch ist dies nur eine Kampfansage an eine verfehlte Gesundheitspolitik. Wenn der soziale Sprengstoff zunimmt, kann das sehr schnell zu einer Kampfansage gegen eine ganze politische Richtung werden."
Der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Dr. med. Winfried Schorre, bezeichnete die ökonomische Benachteiligung seiner ostdeutschen Kollegen als "schwerwiegende historische Ungerechtigkeit". Er forderte die Politik auf, einen gesamtdeutschen Risikostrukturausgleich einzuführen. Es sei nicht länger vertretbar und verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar, monierte er, daß die Ostkrankenkassen von diesem Prinzip ausgespart werden. Das Finanzierungsdefizit der ostdeutschen Kassen sei neun Jahre nach der deutschen Einheit nicht mehr zu überdecken. Ein Grund dafür sei der auf zwei getrennte Versorgungsgebiete beschränkte Risikostrukturausgleich, der den Ost-Krankenkassen nur begrenzt zugute komme. Daran ändert Schorre zufolge auch das Finanzstärkungsgesetz nicht viel, durch das die Ost-Kassen zusätzliche Mittel erhalten, um Defizite abzubauen. Die KBV, stellte Schorre klar, habe den im Vorschaltgesetz erzwungenen, auf ein Jahr begrenzten innerärztlichen Gesamtvergütungsausgleich als Solidarbeitrag mitgetragen, damit die Honorarschere nicht weiter auseinanderklafft. Für ihn ist dies jedoch "eine Notlösung, die nicht prolongiert werden darf". Ernsthafte Lösungsansätze fehlten indes. Weder in den Eckpunkten noch in dem jetzt vorliegenden Arbeitsentwurf werde das Thema "Ostförderung" erwähnt.
Von Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer erwarteten die Ärzte vor allem eines: konkrete Maßnahmen und einen konkreten Zeitplan für die Gleichstellung des Ostens. Beides mußte sie ihnen schuldig bleiben: "Ich kann Ihnen keine Versprechungen machen, was ich in zwei, drei oder vier Jahren erreiche." Sie sei für die Finanzen der Gesetzlichen Krankenversicherung insgesamt verantwortlich und müsse verschiedene Interessen berücksichtigen, betonte die Ministerin mehrmals.
Die Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung sollen künftig an der bundesdurchschnittlichen Entwicklung der Löhne und Gehälter ausgerichtet werden. Die Ost-West-Angleichung, darauf beharrte sie indes, könne nicht "von jetzt auf gleich", sondern nur schrittweise erfolgen. Buhrufe und Pfiffe waren die Antwort des Publikums - und die Ministerin hatte es schwer, ihre Rede zu Ende zu bringen. Immerhin: In der anschließenden Podiumsdiskussion sagte Andrea Fischer den Vertretern der Ost-KVen ein Gespräch zu, um über ein Sofortprogramm Ost für dieses Jahr zu reden.
"Wir werden dieses Versprechen sehr genau kontrollieren", kündigte der Vorsitzende der KV Brandenburg, Dr. Hans-Joachim Helming, an. Er wertete den Kassenärztetag als Erfolg. Die Ministerin habe den seit mehr als einem halben Jahr geforderten Gesprächstermin endlich zugesagt, und zwar kurzfristig. Dr. Sabine Glöser


2. Ostdeutscher Kassenärztetag: die Forderungen
- Gleiche Rechte, Chancen und Leistungen in ganz Deutschland.
- Aufhebung der unterschiedlichen Rechtskreise und Vollendung der Wiedervereinigung auch in der Gesetzlichen Krankenversicherung. - Angleichung der finanziellen Mittel für die ambulante Versorgung Ost an den entsprechenden Anteil in den alten Bundesländern. - Aufhebung aller Budgets, insbesondere der Arznei-, Verband- und Heilmittelbudgets.
- Erhalt der freien Arztwahl und der wohnortnahen und flächendeckenden Betreuung der Versicherten auf hohem Niveau und durch alle Facharztgruppen.
- Sicherstellung einer ebenso guten Versorgung der Patienten im Osten wie im Westen durch einen wirksamen Finanzausgleich.
- Erhalt des uneingeschränkten Sicherstellungsauftrags der Kassenärztlichen Vereinigungen, keine Einkaufsmodelle für die Krankenkassen.
- Öffentliche ethische Debatte über den sich verschärfenden Widerspruch zwischen Leistungsanspruch und den finanziellen Möglichkeiten.
- Erhalt der bewährten ärztlichen Selbstverwaltungsstrukturen und der Freiberuflichkeit aller Vertragsärzte.

 

Berichte und Reden - Ärztetage

 

Clade, Harald

Medizinische Hochschulen im Wandel: Hochschulmedizin vor großer Herausforderung

in: Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 25 (21.06.1996), Seite A-1680
POLITIK: Deutscher Ärztetag

Die Medizinischen Hochschulen und die Universitätskliniken als Stätten der Hochleistungsmedizin müssen sich an geänderte Rahmenbedingungen anpassen und den gewachsenen Herausforderungen offensiv stellen. Sie sind in besonderer Weise Opfer der "Fortschrittsfalle" bei weiter begrenzten Ressourcen. Die Hochschulmedizin muß den Ansprüchen der Gesellschaft und des Staates, aber auch den im Hochschulbetrieb eingeschalteten akademischen Lehrern, Klinikärzten und dem medizinischen Ausbildungsbetrieb ebenso gerecht werden wie den Bedingungen des medizinischen Fortschritts und einer mehr anwendungsbezogenen, praktischen Medizin. Damit die Fakultäten und Universitätskliniken ihre zentralen Aufgaben in Forschung, Lehre und universitärer Krankenversorgung für die Zukunft gerüstet sind, ist eine "Optimierung" und "Effizienzsteigerung" in allen Bereichen erforderlich. Dies ist die Quintessenz der Referate und Statements zum Tagesordnungspunkt III "Die Medizinischen Hochschulen im Wandel des Gesundheitswesens" und der 19 Beschlüsse zu diesem heterogenen Problemkomplex.


Bei aller Notwendigkeit, den Standort, die Funktion und die zukünftigen Schwerpunkte der Medizinischen Hochschulen und Fakultäten neu zu bestimmen und überkommene Denkschemata kritisch in Frage zu stellen, müsse die Strukturreform mit Augenmaß betrieben werden. Durch eine Neuorientierung müßten die Hochschulkliniken als öffentliche Einrichtungen zu modernen Dienstleistungsunternehmen.
Der Ärztetag und die Experten aus der Hochschulpraxis bekräftigten einige Essentials, die beachtet werden müßten. Akademische Lehre, medizinische Forschung und universitäre Krankenversorgung müßten gleichwertige Aufgaben der medizinischen Einrichtungen der Universitätskliniken bleiben. Um diesen Verbund würden wir im Ausland beneidet. Eine Trennung der Zuständigkeiten für Forschung und Lehre einerseits und die Krankenversorgung andererseits wird.
Die Medizinische Fakultät wird als die Grundeinheit für die Entscheidung über Lehre und Forschung innerhalb der Gesamtuniversität definiert. Die Fakultäten müßten sich den sich ständig ändernden Bedingungen rasch anpassen. Die Hochschulen müßten sich wieder stärker auf ihre Aufgaben - Forschung und qualitätsgesicherte Lehre - konzentrieren.
Ganz entscheidend für die medizinische Versorgung, für die Ausbildung zum Arzt (als entscheidende Voraussetzung für die Strukturqualität) sei die Leistungs- und Innovationskraft der Medizinischen Hochschulen. Auch gebe es viele Berührungspunkte, Problemhierarchien bei den Aktionsfeldern und Schnittpunkten zwischen Medizinischen Fakultäten und Ärztekammern als legitimierte Vertretung der Gesamtärzteschaft, betonte Prof. Dr. Jörg-D. Hoppe, Düren, Vizepräsident der Bundesärztekammer und Vorsitzender der Ausschüsse und Ständigen Konferenzen der Bundes-ärztekammer "Ausbildung zum Arzt und "Hochschulmedizin und Medizinische Fakultäten". Die Medizinischen Fakultäten müßten von überbordendem, unnötigem bürokratischem Ballast befreit werden, so daß sie sich verstärkt ihren zentralen Aufgaben widmen können. Die Ärzteschaft müsse daran interessiert sein und mithelfen, daß die Medizinischen Fakultäten die an sie gestellten Forderungen unabhängig und eigenverantwortlich lösen könnten, so der Appell von Prof. Dr. Horst Dieter Becker, Geschäftsführender Ärztlicher Direktor des Klinikums Schnarrenberg, Chirurgische Klinik der Universität Tübingen.
Die Ärzteschaft erwartet, daß die Medizinischen Hochschulen auch künftig ihre Aufgaben in der ärztlichen Ausbildung ernst nehmen und diese nicht im Vergleich zur Krankenversorgung und Forschung vernachlässigen. Die Medizinischen Hochschulen als ein Ort der Hochleistungsmedizin und Forschung und damit in der Rolle der Spezialistenmedizin müßten wieder ein wahrnehmbares Gegengewicht in einer auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierenden praxisorientierten Ausbildung erhalten. Das Ausbildungsziel habe sich am Arztbild der Zukunft zu orientieren. Um nicht in die "Bodenlosigkeit des Spezialistischen" zu geraten, müßten der akademische Unterricht und die Lehre sich mehr als bisher an den Erfordernissen der ärztlichen Praxis sowohl im niedergelassenen Sektor als auch im Klinikbereich orientieren. Das hohe Niveau dieser Trias dürfe nicht durch dirigistische Eingriffe und Sparmaßnahmen gesenkt werden, so ein Postulat von Prof. Dr. Christoph Fuchs, Hauptgeschäftsführer der Bundesärztekammer.
Ziel der Ausbildung zum Arzt müsse auch in Zukunft der zur Ausübung des Berufs befähigte Arzt sein, der in der Lage ist, sich nach absolviertem Studium über eine frei zu entscheidende Weiterbildung zu spezialisieren und sich lebenslang fortzubilden, denn die Halbwertzeit des medizinischen Wissens betrage zwischen drei und fünf Jahre, so ein weiteres Argument für den umfassenden Bildungsauftrag der Fakultäten, der in der wissenschaftlich-systematischen Vermittlung theoretischer und medizin-praktischer Grundlagen bestehen müsse. In diesem Punkt baut der Ärztetag auch auf die Kooperation und die Lernfähigkeit der für den Hochschulbereich maßgebenden Vertretungen und Einrichtungen, insbesondere der Kultusministerkonferenz der Länder, des Medizinischen Fakultätentages und der Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlicher Medizinischer Fachgesellschaften (AWMF).
Auf Zustimmung des Plenums stieß die Feststellung von Prof. Fuchs: Besitzstände und Bestandsschutz für die eigene Organisaton, das heißt auch für die Medizinischen Fakultäten bis hin zur "Ordinarien-Herrlichkeit" kann es nicht mehr geben. Die Bereitschaft zum Wandel muß Bestandteil von neu formulierten Führungsprinzipien sein. Die für die Universitätskliniken typischen und heute noch dominierenden dreifach versäulten berufsgruppenbezogene Führungshierarchien müssen abgeflacht und durch ein mehr auf dem Team- und Kollegialprinzip basierenden Department-System (mit Wahl in die Führungspositionen) abgelöst werden, so das Plädoyer von Prof. Dr. Gunter Lob, Leiter der Unfallchirurgie des Klinikums Großhadern der Universität München.
Um Mißverständnissen vorzubeugen, betonte Ärztetagspräsident Dr. Karsten Vilmar: An die Stelle obsolet gewordener institutioneller Hierarchien müssen funktional bezogene Hierarchien treten - ausgerichtet auf die verschiedenen Führungs-und Entscheidungsfunktionen. Der Universitätslehrer sei nicht mehr der Alleskönner und Alleinbestimmer. Eine weitere These: Die Medizinischen Fakultäten dürfen sich nicht nur als "Durchlauferhitzer" verstehen, indem sie den Nachwuchs nur bedingt und zeitlich befristet in die Krankenversorgung, Forschung und Lehre einbeziehen. Vielmehr müßten in den Universitätskliniken ebenso wie in den anderen Krankenhäusern Lebensstellungen für qualifizierte Ärzte geschaffen werden.


Lehre vernachlässigt
Eine weitere "Selbstgänger-These" vor dem Ärztetag: Die Lehre wird oftmals vernachlässigt, sie hat an den Medizinischen Fakultäten einen großen Nachholbedarf, sie rangiert in Deutschland häufig nach der Forschung. Der Sprecher der Fachtagung Medizin, Thomas Isenberg, Universität Düsseldorf, der als Gast vor dem Ärztetag sprach, behauptete sogar, die Lehre sei zu einer "Feierabend-Beschäftigung" verkommen. Die Verquickung von Professur und die Rolle des akademischen Lehrers mit dem des Chefarztes führe dazu, daß die Lehrenden sich mehr um die lukrative Patientenversorgung und um die Forschung, kaum aber um die fest bezahlte Lehre kümmerten. "Die ostdeutschen hatten einen wesentlichen Vorteil gegenüber den westdeutschen Hochschullehrern, denn sie durften nicht reisen und hatten keine Privatpatienten und daher sehr viel mehr Freizeit für die Lehre", konstatierte Prof. Dr. Heinz Diettrich, Präsident der Sächsischen Landesärztekammer, Dresden. Prof. Dr. Dr. Dieter Adam, München, ergänzte: "Wenn die These von den Lehrdefiziten und den schlechten Lehrern stimmt, müßten wir in Deutschland die am schlechtesten ausgebildeten Ärzte haben. Dies trifft aber nicht zu. Es gibt auch noch gute Lehrer."
Prof. Becker referierte eine andere These, wonach auch die Forschung zu kurz komme. Zudem sei die Verwendung der Staatszuschüsse für die Lehre und Forschung intransparent, und es gebe sich widersprechende Aussagen, wonach die Forschung und Lehre die universitäre Krankenversorgung subventionierten, wohingegen die Krankenkassen eine umgekehrte Quersubventionierung kritisieren. !
Tatsache ist: Das Ressourcen-Management an den 36 Universitätskliniken und Fakultäten muß verbessert werden. Die Gesamtaufwendungen belaufen sich auf rund 20 Milliarden DM für die Forschung, Krankenversorgung und Lehre. Ungefähr sechs Milliarden DM geben die Länder als Zuschuß für die Forschung und Lehre aus. Der Rest muß aus (vom Ärztetag als unverzichtbar bezeichneten) Drittmitteln und vor allem aus den Vergütungen aus der Krankenversorgung bestritten werden.
Was soll nun anders werden? Zunächst sollen die Fakultäten als Orte der Lehre wesentlich erweitert werden. Die Medizinische Hochschule müsse die Aufgaben der Lehre, Forschung und umfassender Krankenversorgung integriert wahrnehmen. Die Ausbildung der Studenten soll nicht mehr nur an Universitätskliniken, sondern auch in Lehrkrankenhäusern, Polikliniken und Ambulanzen, Lehrpraxen niedergelassener Ärzte und anderen Einrichtungen des Gesundheitswesens erfolgen. Grund: Weniger als 10 Prozent aller Patienten werden überhaupt in Krankenhäusern behandelt, nur 0,5 Prozent in Hochschulkliniken. Nur acht Prozent aller Krankenhausbetten stehen in Universitätskliniken, 92 Prozent außerhalb. Auf diese Reservoir sollte zurückgegriffen werden, so Prof. Hoppe, um die Medizinerausbildung mehr praxis- und anwendungsbezogen auszurichten. Prof. Hoppe beklagte, daß einige Fakultäten nur noch losen Kontakt zu außeruniversitären Einrichtungen hätten. Dies müsse geändert werden.


Kapazitäten anpassen
Strukturanpassungen sind vor allem auch bei den Ausbildungskapazitäten erforderlich, betonte Prof. Lob. Während die beiden Sprecher der Studentenschaft davor warnten, die 8. Novelle zur Änderung der Approbationsordnung für Ärzte dazu zu mißbrauchen, die Zahl der Medizinstudenten und Hochschulabsolventen drastisch zu reduzieren, war es mehrheitliche Auffassung des Ärztetages, die Hochschulkapazitäten nicht an den Klappsitzen in den Hörsälen zu orientieren, sondern auch an der Zahl der für die Forschung und Lehre geeigneten und bereiten Patienten auszurichten. Das Kapazitätsrecht müsse den Erfordernissen einer stärkeren Praxisorientierung des Studiums angepaßt werden, so Prof. Horst Dieter Becker. Die Änderung der Kapazitätsverordnung durch die Länder und die Novelle zur Approbationsordnung müßten als Junktim verstanden werden. Denn die Ausbildungsqualität wird maßgeblich von den Hochschulkapazitäten bestimmt.
Der mit großer Mehrheit angenommene Leitantrag zu TOP III plädiert für Strukturreformen und eine neue, erweiterte Medizinische Fakultät. Dies setzt eine neue Sinnbestimmung und Aufgabendefinition der Hochschullehrer voraus. Die medizinischen Einrichtungen sollten Schwerpunkte benennen, die sie im Wettbewerb zu anderen Universitäten fortentwickeln. Zugleich müsse die Leitungs- und Entscheidungsstruktur neu organisierter Fakultäten angepaßt werden. Bei einer erweiterten Fakultät müßten die Aufgaben-, Verantwortungs- und Einflußbereiche des Dekans im Bereich der Lehre ausgeweitet werden. Die ManagementFunktion des Dekans erfordert dessen hauptamtliche Tätigkeit - bei entsprechender zeitlicher Befristung (sechs Jahre?). Das in Baden-Württemberg erprobte Konzept:
! Die Zuständigkeiten zwischen Dekan und Fakultätsrat sollen insofern neu definiert werden, daß die Fakultät durch einen Fakultätsvorstand geleitet wird, dem die Leitung der Fakultät und die selbständige Führung der Geschäfte obliegen soll. Ihm sollen der Dekan, Prodekan, Studiendekan und ForschungskommissionsVorsitzende sowie der Leitende Ärztliche Direktor des Klinikums und der Verwaltungsdirektor angehören. Um zu vermeiden, daß Dekanats- und Klinikumsverwaltung getrennt werden, wird in Baden-Württemberg die Verwaltung des Dekanats als Dezernat der Verwaltung der medizinischen Einrichtungen geführt.
! Der Studienbereich wird von zwei Studiendekanen geleitet, denen mehrere wissenschaftliche Mitarbeiter zuarbeiten. Dies erfordert eine personelle Aufrüstung, denn die Dekanate dürfen nicht wie bisher in RoutineAufgaben wie etwa der Sichtung und Prüfung von Dissertationenoder Habilitationsarbeiten ersticken.
! Der universitäre Forschungsbereich soll vom Vorsitzenden der Forschungskommission geleitet werden. Ihm arbeiten mehrere Wissenschaftler zu. Die Kommission koordiniert die Forschungsförderungsprogramme der Fakultät.
! Der Gremienbereich wird von einem Fachbeamten koordiniert. Hier werden die Arbeiten des Fakultätsrates, der Habilitation, Promotion und Strukturkommission erledigt.


Verkrustete Führungsstrukturen
Prof. Lob kritisierte, daß die vertikale Führungsstruktur dazu geführt habe, daß Macht und Einfluß einzelner mit ihrer tatsächlichen Kompetenz nicht mehr übereinstimmen. Vielfach würden Klinikdirektoren, die zugleich ihre Lehrfunktion wahrnehmen müssen, ausschließlich nach ihrer wissenschaftlichen Qualifikation ausgewählt (etwa auf Grund ihrer Publikationen oder verfaßten Gutachten). Führungs- und Management-Qualitäten müßten aber heute ebenso gefordert werden wie der Nachweis, daß der akademische Lehrer und Klinikdirektor auch zur Lehre befähigt ist (pädagogische und didaktische Fähigkeiten). Auch müsse überprüft werden, ob seine Vorlesungen bei den Studenten angenommen werden und der Wissensstoff in der vorgegebenen Zeit auch vermittelt wird. Allerdings fehlen noch objektivierbare Kriterien, um die Qualität des akademischen Lehrers, die der Fakultät und des Ausbildungsbetriebes zu beurteilen, so Prof. Dr. Reinhard Papst, Rektor der Medizinischen Hochschule Hannover, Mitglied des Präsidiums des Medizinischen Fakultätentages (MFT) und der MFT-Kommission für Ausbildungs- und Qualifikationsfragen.
Der Sprecher der Fachtagung Medizin, Thomas Isenberg, sprach sich für eine Professionalisierung der Lehre aus; diese dürfe nicht länger "Abfallprodukt der klinischen oder wissenschaftlichen Betätigung" sein. Es sei eine Legende, daß gute Forscher gleichzeitig ausgezeichnete Ärztinnen und Ärzte sowie didaktisch qualifizierte Lehrer seien. Selbst Experten des Wissenschaftsrates hätten festgestellt: Kein Arzt kann im Keller einer UniKlinik intensiv forschen, in der Krankenversorgung Höchstleistungen erbringen und gleichzeitig ein begnadeter Lehrer sein. Die Fachtagung Medizin tritt für eine differenzierte Aufgabenverteilung ein: Innerhalb der Kliniken müsse es Möglichkeiten geben, diejenigen Klinikärzte und Funktionseinheiten, die eine hochwertige Krankenversorgung gewährleisten, von ihrem Lehrengagement zu entlasten. Gleichzeitig sollten qualifizierte Ausbilder angestellt werden, die sich gegenüber der Fakultät verpflichten, die Ausbildung des medizinischen Nachwuchses intensiv durchzuführen und nach Qualitätsstandards zu garantieren.
Die Wissenschaftsministerien und die Hochschulen werden in einem Beschluß aufgefordert, Mittel und Wege zu finden, um die Lehrfähigkeit gegenüber den vielfach lukrativeren Tätigkeiten in Forschung und Krankenversorgung aufzuwerten.
Im Verbund von Krankenversorgung, Forschung und Lehre muß auch die Weiterbildung an Instituten und Kliniken einen angemessenen Stellenwert erhalten. Wegen der in bestimmten Weiterbildungsgängen erforderlichen Hochspezialisierung kann es notwendig werden, Teile der Weiterbildungskenntnisse außerhalb der Fakultäten zu erwerben. In der "erweiterten Fakultät" könnte eine Rotationsweiterbildung im Rahmen der Weiterbildungsbefugnis im Verbund von mehreren zur Weiterbildung befugten Ärztinnen und Ärzten durchgeführt werden.
Um mehr Wettbewerb und Leistungstransparenz für die Hochschulmedizin zu implementieren, sollten die Budgetmittel im personellen, im Sachmittel- und im investiven Bereich getrennt für die Bereiche Lehre und Forschung erfolgen. Die Finanzierung der Krankenversorgung müsse verursachergerecht durch die Versicherungen erfolgen und kostendeckend sein. Trotz der getrennten Buchführung müßten die Bereiche und Zuständigkeiten personell aber auf das engste integriert bleiben.
Künftig müßten sich die Hochschulen und Medizinischen Fakultäten stärker auf ihre Dienstleistungsfunktion und am Gemeinwohlinteresse ausrichten. Mit Hilfe von Leistungsindikationen, eines eigenen Profils, einer ständigen Effizienzkontrolle und eines umfassenden Qualitätsmanagements müßten sich die Medizinischen Fakultäten den härter werdenden Wettbewerbsbedingungen stellen. Dazu bedarf es aber neben neuer Strukturen auch eines veränderten Leitbildes, einer neuen Unternehmenskultur für den Dienstleistungsbetrieb Hochschulmedizin. Kooperation, Motivation, eine adäquate Personalführung und gerechte Bezahlung sind gefragt - bei klar definierten Zielvorgaben. Der mit starkem Beifall bedachte Vortrag von Prof. Lob brachte ein wesentliches Reformproblem auf den Punkt: "Strukturänderungen sind notwendig, und sie werden kommen. Strukturveränderungen werden nur dann erfolgreich sein, wenn sie die enormen innovativen Personalkräfte der Medizinischen Fakultäten erschließen können." Dr. Harald Clade

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Vilmar, Karsten

Gesundheits- und Sozialpolitik: Konzentration auf das unbedingt Notwendige Referat des Präsidenten der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages zur Eröffnung des 99. Deutschen Ärztetages

in: Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 25 (21.06.1996), Seite A-1693
POLITIK: Deutscher Ärztetag

Hohe Arbeitslosigkeit, sinkende Lohnquote und ein dadurch verändertes Beitragsaufkommen sind die maßgeblichen Determinanten in der heutigen Gesundheits- und Sozialpolitik geworden. Auch die Ärzteschaft wird sich auf die geänderten Rahmenbedingungen einzustellen haben - und sie wird ihren Beitrag leisten, sofern ihr eine politisch überzeugende Konzeption vorgelegt wird. Doch statt klarer Analysen und konstruktiver Strukturvorschläge erleben wir ein Feuerwerk öffentlicher Auseinandersetzungen um Steueraufkommen und Staatsfinanzen. Politischer Aktionismus und eine Inflation von Sparvorschlägen blockieren seit Wochen die notwendige, sachliche Diskussion um die 3. Stufe der Gesundheitsreform. Aber die Gefahr für den Sozialstaat ist zu groß, als sich jetzt in parteipolitischem Gezänk zu ergehen.
In Deutschland waren im Mai 1996 knapp vier Millionen, in den 15 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union im März 1996 insgesamt 18,3 Millionen Menschen offiziell arbeitslos gemeldet. Das entspricht europaweit einer Arbeitslosenquote von 11 Prozent, wobei Spanien mit 22,5 Prozent an der Spitze, Deutschland mit 9,1 Prozent in einem Mittelfeld liegt und Luxemburg mit drei Prozent die niedrigste Quote aufweist. Für die USA beträgt diese Quote 5,7 Prozent, für Japan 3,5 Prozent. Erhebliche Minderungen sowohl des Steueraufkommens als auch der Beiträge zu den sozialen Sicherungssystemen sind unausweichliche Folge der Arbeitslosigkeit. Zusammen mit den demografischen Veränderungen, der weiter stark zunehmenden Zahl älterer Menschen und der Tendenz zu kürzerer Lebensarbeitszeit verschärfen sich die Finanzierungsprobleme in der Renten- und Arbeitslosenversicherung sowie vor allem in der gesetzlichen Krankenversicherung erheblich.
Die Finanznot wird durch die zunehmende Multimorbidität dauerbehandlungsbedürftiger älterer Menschen noch verstärkt, ebenso wie durch den medizinisch-wissenschaftlichen und technischen Fortschritt, der vielfach vorzeitigen Tod verhindern läßt. Daraus folgt: Je leistungsfähiger die Medizin wird, um so mehr Menschen wird es geben, die erfolgreich behandelt werden könne und damit steigen unausweichlich die Kosten.
Die langjährigen, hektischen Bemühungen um Beitragssatzstabilität und jetzt sogar eine von oben verordnete Beitragssatzsenkung haben sich inzwischen als Stellvertreterauseinandersetzung sogenannter politischer Sozialprofis entpuppt. Die Finanzprobleme der gesetzlichen Krankenversicherung, ebenso wie anderer Krankenversicherungsarten, sind Teil der derzeitigen Schieflage des Sozialstaates geworden. Bei der Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland geht es auch um die Senkung der Lohnnebenkosten. Diese sind in Deutschland tatsächlich rapide angewachsen. Auf je 100 DM Entgelt wurden 1995 im Durchschnitt 80,10 DM in den westlichen Bundesländern und 69,90 DM in den östlichen Bundesländern zusätzlich an "Nebenkosten" bezahlt. Auf die gesetzlichen Lohnzusatzkosten entfallen dabei jedoch nur 36,20 DM beziehungsweise 35,90 DM, während die tariflich und betrieblich von Arbeitgebern und Arbeitnehmern oder ihren Organisationen völlig freiwillig vereinbarten Lohnnebenkosten 43,90 DM beziehungsweise 34 DM betragen. Daraus wird erkennbar, daß die Arbeitgeber es zum großen Teil selbst in der Hand hatten und haben, die von ihnen lautstark beklagten Lohnnebenkosten zu senken. !


Effizienter Einsatz von Ressourcen
In dem von der Bundesregierung vorgeschlagenen Sparpaket hat das Gesundheitswesen inzwischen nur noch eine untergeordnete Bedeutung. Bei einer derzeitigen Staatsverschuldung von 1 900 Milliarden DM und einer zu erwartenden Neuverschuldung von rund 70 Milliarden DM im Jahr 1996 ist mit einem Zuwachs der von der Solidargemeinschaft aufgebrachten Finanzmittel für das Gesundheitswesen in absehbarer Zeit nicht zu rechnen. Im Gegenteil: Durch das jetzt vom Deutschen Bundestag beschlossene Beitragsentlastungsgesetz wird eine Absenkung des Beitragssatzes um 0,4 Prozentpunkte ab 1. Januar 1997 zu einer Einnahmenminderung der gesetzlichen Krankenkassen führen. Durch das Sparpaket wird insgesamt ein Einsparvolumen von 7,5 Milliarden DM durch die verschiedenen Gesetzesänderungen angestrebt.
Für die Krankenhäuser wird die von den Arbeitgebern angestrebte BAT-Nullrunde bei gleichzeitig steigenden Kosten - auch durch viele neue Dokumentationspflichten und die Auswirkungen des zum 1. Januar 1996 dort in Kraft getretenen Arbeitszeitgesetzes (AZG) - zu Budgetsenkungen mit allen daraus für Patienten resultierenden Risiken führen müssen.
Die Ärzteschaft muß deshalb die zur Verfügung stehenden Ressourcen so effizient wie nur irgend möglich einsetzen. Das erfordert eine Konzentration auf das unbedingt Notwendige, Zweckmäßige und Ausreichende; und das bedeutet: rationale und rationelle Nutzung der Möglichkeiten in Diagnostik und Therapie sowie eine sparsame Verordnungsweise für Arzneimittel, Heil- und Hilfsmittel und andere veranlaßte Leistungen. Nur durch Rationalisierungen können vorerst Rationierungen von Gesundheitsleistungen oder gar Ausgrenzungen von Alters- oder Krankheitsgruppen aus der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung vermieden werden. "Vorerst" muß einschränkend gesagt werden, weil es bei Fortsetzung eines harten Sparkurses mittelfristig auch zu Rationierungen kommen könnte - was wir freilich nicht hoffen wollen.
Zur Rückführung der gesetzlichen Krankenversicherung auf ihre originären Aufgaben ist der Gesetzgeber aufgefordert, die sozialen Sicherungssysteme von versicherungsfremden Leistungen zu befreien. Dafür wurden im Jahre 1994 insgesamt 197 Milliarden DM ausgegeben, von denen 127 Milliarden DM von den Beitragszahlern aufgebracht worden sind. Diese auch den Krankenkassen auferlegten Fremdleistungen treiben die Beitragssätze in die Höhe und belasten somit Unternehmen und Arbeitnehmer gleichermaßen. Aus sozial- und familienpolitischer Sicht durchaus sinnvolle Leistungen von gut drei Milliarden DM für künstliche Befruchtung, Empfängsverhütung, nicht rechtswidrigen Schwangerschaftsabbruch und nicht rechtswidrige Sterilisation, Mutterschaftsgeld, Entbindungsgeld, Krankengeld bei Erkrankung eines Kindes, hauswirtschaftliche Versorgung bei häuslicher Krankenpflege und Grundpflege, Haushaltshilfe und Sterbegeld sind jedoch Gemeinschaftsaufgaben des Staates. Sie haben, so sinnvoll sie auch sein mögen, besonders in Zeiten knapper finanzieller Ressourcen in einer Versicherung gegen Krankheit nichts zu suchen.


GKV ist kein "Verschiebebahnhof"
Auch darf der Gesetzgeber nicht Ausgabensteigerungen oder Einnahmenminderungen in der gesetzlichen Krankenversicherung dadurch bewirken, daß er diese als "Verschiebebahnhof" zwischen den sozialen Sicherungssystemen mißbraucht. So führte die Neuregelung für die Krankenversicherung der Rentner (KVdR) durch das Rentenanpassungsgesetz von 1982 mit Absenkung der Krankenversicherungsbeiträge für die Rentner auf 11,7 Prozent allein im Jahr 1994 zu einem Transfer von über 40 Milliarden DM aus Beiträgen der aktiven Beitragszahler in die Krankenversicherung der Rentner. In Vergessenheit geraten ist offensichtlich auch das von Regierungskoalition und SPD-Opposition im Jahr 1989 gemeinsam verabschiedete Rentenreformgesetz mit einem erst zum 1. Januar 1995 in Kraft getretenen Konzept, durch das allein in diesem Jahr bei der Krankenversicherung ein Einnahmeausfall zwischen fünf und sechs Milliarden DM entstanden ist. Das macht etwa die Hälfte des Defizits im Jahr 1995 in der gesetzlichen Krankenversicherung aus. Diese Folgen werden allerdings oft vergessen, verdrängt oder den Leistungserbringern im Gesundheitswesen angelastet, oder sollten sie gar unter die politische Schweigepflicht fallen?
Das Problem ist komplex. Bei den für Ausgabensteigerungen im Gesundheitswesen geradezu routinemäßigen Schuldzuweisungen an Ärzte und Krankenhäuser wird ebenso gerne übersehen, daß neben Gesetz- und Verordnungsgebern auch die Tarifvertragspartner selbst für manche von ihnen beklagte Entwicklungen verantwortlich sind. Übersehen wird bei dem inzwischen ausgebrochenen Spareifer allerdings auch, daß allein im Gesundheitswesen zirka 2,5 bis drei Millionen Arbeitnehmer tätig sind. Durch ein "Kaputtsparen" würde also die Zahl der Arbeitslosen weiter steigen mit der Folge, daß noch weniger Sozialversicherungsbeiträge bezahlt werden könnten. Auch hier kann man nur Franz Volhard zitieren: "Vor die Therapie haben die Götter die Diagnose gesetzt." Bundesgesundheitsminister Seehofer hat in der Haushaltsdebatte des Deutschen Bundestages im September 1995 völlig zu Recht festgestellt: "Das deutsche Gesundheitswesen ist nicht krank - wie es gelegentlich gesagt wurde - im Gegenteil: Ich kenne kein besseres System auf dieser Erde. Was wir ändern müssen, sind nicht die Prinzipien des Gesundheitswesens, sondern die Art und Weise der Gesundheitspolitik."
Dieser Feststellung können wir uneingeschränkt zustimmen, ebenso wie seinen wiederholt öffentlich vorgetragenen Analysen, daß die im Gesundheitswesen Tätigen nicht die bisherigen Kostenentwicklungen verursacht haben. Der Minister veränderte mit seinen Aussagen nachhaltig den gesundheitspolitischen Diskurs. Offenbar haben noch nicht alle diese Zäsur bemerkt. Denn sonst ist es kaum verständlich, wenn die Bemühungen, tragende Strukturen unserer sozialen Sicherungssysteme vor Überlastung zu schützen, als "Sozialabbau" in einem "Klima der sozialen Kälte" gegeißelt werden. Sollte denn erst ein völliger Zusammenbruch bessere Einsichten ermöglichen?


Neue Definition des Leistungskatalogs
Angesichts der drängenden Probleme ist es für alle, die ihre Verantwortung wirklich ernst nehmen, geradezu unausweichlich, sich wieder auf das zu besinnen, was wirklich notwendig, zweckmäßig und ausreichend ist. Es muß deshalb unter diesem Aspekt vorbehaltslos über die Ausgliederung finanzieller Bagatellen aus der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen nachgedacht werden, ebenso wie über die Auswirkung von Kostenerstattungsregelungen in bestimmten Bereichen. Der Leistungskatalog ist nach solidarisch zu finanzierenden Leistungen und satzungsgemäßen Zusatzleistungen zu definieren. Ferner ist eine Trennung von vielem nötig, was möglicherweise angenehm, vielleicht sogar nützlich ist, aber nicht der Solidargemeinschaft der Beitragszahler aufgebürdet werden darf, sondern in den privaten Lebensbereich gehört. Das gilt z.B. für viele Kuren, Massagen oder gar Arzneimittel mit unbewiesener Wirkung. Hier wäre ein Einsparvolumen von über zehn Milliarden DM möglich. Der Einzelne könnte selbstverständlich auch in Zukunft sein Geld für ihm wichtig erscheinende Leistungen ausgeben - jedoch nicht zu Lasten der Solidargemeinschaft. Das bis zum Zerreißen gespannte soziale Netz aber darf nicht als Trampolin für Lustbarkeiten mißbraucht werden.
Dem früheren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Ernst Benda, ist uneingeschränkt zu folgen, wenn er im Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland ausführt, daß die den Gerichten, unter ihnen das Bundesverfassungsgericht, "auferlegte Pflicht zur Rechtsgewährung bedeutet, daß sie mit einem knappen, nicht beliebig vermehrbaren Gut umgehen müssen. In solcher Lage spielt schon heute die sozialstaatlich und rechtsstaatlich naheliegende Überlegung eine Rolle, daß es im Falle knapper Ressourcen nicht richtig sein kann, Güter, die den Bedürftigen zukommen sollen, an Nichtbedürftige zu verteilen." Zum Thema "Chancengleichheit und soziale Umverteilung" heißt es dort: "Es ist ein elementares Gebot des Sozialstaates, daß die begrenzten Mittel der Allgemeinheit nicht schematisch ausgestreut, sondern auf diejenigen konzentriert werden, die wirklich hilfsbedürftig sind. Sozialstaatswidrig ist es, wenn Hilfen von denen in Anspruch genommen werden können, die nicht hilfsbedürftig sind. Die als "Gießkannenprinzip" bezeichnete politische Praxis, die wegen der Chance, breite Wählerschichten zu beeindrucken, eine ständige Versuchung darstellt, widerspricht den sozialstaatlichen Geboten."
Zum Thema "Staat und Gesellschaft" führt Benda unter anderem aus: "Auch die individuelle Eigenvorsorge und die Übernahme von Verantwortung für sich selbst und seine Familie, die den Staat ganz zurücktreten läßt, ist keineswegs sozialstaatswidrig; im Gegenteil erscheint die Pflicht, unverschuldete Schäden, für die die Gemeinschaft einzustehen hat, soweit wie möglich und zumutbar, selbst zu mildern, gerade als ein Ausfluß des Prinzips der Sozialstaatlichkeit."


Lösungsvorschläge der Ärzte Aus unserer täglichen ärztlichen Arbeit und Erfahrung heraus haben wir Ärzte für viele der heute in der Öffentlichkeit beklagten Probleme bereits Lösungsvorschläge gemacht und sie auf dem 97. Deutschen Ärztetag 1994 im Gesundheitspolitischen Programm der deutschen Ärzteschaft bekräftigt. Besonderes Gewicht haben dabei die Vorschläge zur
c Intensivierung der Integration zwischen ambulantem und stationärem Behandlungsbereich
c hausärztlichen Versorgung
c Qualitätssicherung
Diese Vorstellungen wurden in den im Januar 1995 auf dem Petersberg begonnenen politischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozeß gemeinsam von Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Bundesvereinigung eingebracht. Zum Teil wurden sie in Entwürfen für die jetzt vorliegenden Reformgesetze, so insbesondere im GKV-Weiterentwicklungsgesetz (GKVWG) und im Krankenhausneuordnungsgesetz 1997 (KHNG 1997) berücksichtigt. Es bleibt jedoch abzuwarten, was davon bei den weiteren Beratungen im Bundesrat und vor allem im Vermittlungsausschuß übrig bleibt, wenn unterschiedliche, aus dem Föderalismus erwachsende oder parteipolitisch geprägte Vorstellungen aufeinandertreffen.
Deshalb pflichte ich den Ausführungen des Ersten Vorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Dr. Winfried Schorre, ausdrücklich bei, der gestern sagte: "Lassen Sie uns deswegen weiterhin gemeinsam den Mut aufbringen, die Schwierigkeiten, die sich vor uns auftürmen, mit der bisherigen Geschlossenheit zu meistern. Wenn wir jetzt getrennte Wege gehen - und Ansätze dazu gibt es ja bereits - werden wir unsere Handlungsfähigkeit verlieren und uns in die Abhängigkeit von staatlicher oder krankenkassenseitiger Bevormundung begeben." Das gilt insbesondere für die Integration von ambulanter und stationärer Versorgung. Diese muß allein schon wegen der Entwicklung der Medizin verbessert werden, vor allem zum Nutzen des Patienten. Nach unserer Vorstellung sollen dabei Krankenhausärzte personenbezogen in die ambulante Versorgung einbezogen werden, wenn hierzu deren besondere Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten gefragt sind. Die Ärzteschaft lehnt dagegen eine institutionelle Öffnung der Krankenhäuser für Leistungen der ambulanten Versorgung geschlossen ab. Sie befürwortet statt dessen verstärkt Zulassungen von Vertragsärzten im Krankenhaus für medizinisch-technische Leistungen, den Ausbau des kooperativen Belegarztwesens und personenbezogene Ermächtigung qualifizierter Krankenhausfachärzte.
Neben der Förderung des kooperativen Belegarztwesens und einer kooperativen ambulanten und stationären Nutzung von kostenaufwendigen medizinisch-technischen Einrichtungen bietet sich dabei insbesondere die persönliche Ermächtigung von Krankenhausfachärzten mit besonderen Kenntnissen und Erfahrungen zur Erbringung hochspezialisierter Leistungen aus folgenden Bereichen an:
c Interventionelle Kardiologie
c Interventionelle Gastroenterologie
c Interventionelle Radiologie
c Versorgung spezieller onkologischer Patienten
c Versorgung spezieller Formen der AIDS-Erkrankung
Eine Integration zwischen ambulantem und stationärem Versorgungsbereich wird auch für folgende Versorgungsbereiche angestrebt:
c Nachsorge von Transplantationspatienten
c Gemeinsames Betreiben von Notfallpraxen/-ambulanzen in Krankenhäusern
c Spezielle nephrologische Kooperationsformen sowie ferner für die
c Behandlung von Patienten mit komplexen Verletzungen (analog zum berufsgenossenschaftlichen Heilverfahren)
c Orthopädische Versorgung geistig und körperlich behinderter Kinder
c Versorgung schwer psychisch Behinderter


Team-Arzt-System im Krankenhaus
Eine wichtige Voraussetzung für die den Bedürfnissen der Patienten entsprechende personelle Integration zwischen ambulanter und stationärer ärztlicher Versorgung, die auch den Bedürfnissen der Patienten entspricht, ist ein Team-Arzt-System im Krankenhaus. In diesem arbeiten mehrere erfahrene Krankenhausfachärzte im Team mit einem gewählten Sprecher zusammen und können dazu auch noch freiberufliche Vertragsärzte integrieren. Die Spitzenorganisationen der verfaßten Ärzteschaft sprechen sich also dafür aus, die heute noch zu starre Trennung zwischen ambulanter und stationärer Patientenversorgung durch ein integrierendes System mit offenen Grenzen nach beiden Seiten sukzessive abzulösen.
Eine solche Zusammenführung kann allerdings nur dann gelingen, wenn die derzeitige Bedarfsplanung entweder in dieser Form beseitigt oder zumindest auf Versorgungssitze für die vertragsärztliche Versorgung umgestellt wird, um kooperative Praxisstrukturen zu ermöglichen. Für eine Verbesserung der hausärztlichen Versorgung ist eine Konzentration der Hausarztqualifikation auf den Allgemeinarzt mit entsprechender Neugestaltung der Weiterbildung zu beraten - bei gleichzeitiger Zuordnung der inneren Medizin zur fachärztlichen Versorgung. Der 99. Deutsche Ärztetag wird sich mit den dazu notwendigen Konsequenzen für die Weiterbildungsordnung eingehend befassen. Dabei ist zu bedenken, daß die im § 73 SGB V vorgesehene Gliederung von hausärztlicher und fachärztlicher Versorgung möglichst rasch und plausibel realisiert werden muß, um weitergehende Entscheidungen durch die Politik zu vermeiden. Erinnert sei an Vorstellungen aus der Gesundheitsministerkonferenz der Länder (GMK), die auf die Einführung eines Primärarztsystems zielen. In der EG-Richtlinie von 1986 wird eine mindestens zweijährige zusätzliche Ausbildung in Allgemeinmedizin vorausgesetzt, um in den Systemen der sozialen Sicherheit ärztlich tätig werden zu können. Daher dürfen Regelungen in der Weiterbildungsordnung in Deutschland nicht zu einer Inländerdiskriminierung führen.
Für die ärztliche Tätigkeit in Zukunft ist die Gestaltung der Ausbildung zum Arzt durch eine neue Approbationsordnung von ebenso großer Bedeutung wie eine Anpassung der Strukturen des ärztlichen Dienstes der Krankenhäuser und vor allem der Strukturen der Medizinischen Hochschulen und Fakultäten. Hier werden Arbeits- und Verhaltensweisen für das ganze ärztliche Berufsleben geprägt. Die sich aus der Entwicklung der Medizin ergebenden Differenzierungen und Spezialisierungen erfordern vor allem eine verstärkte und verbesserte interdisziplinäre und interprofessionelle Kooperation. Medizinische Fakultäten werden daher auch künftig die einzig legitimierten und von der Gesellschaft dafür ausgestatteten Einrichtungen ärztlicher Ausbildung - bis zu deren Abschluß - sein. Die damit einhergehenden Aufgaben in Lehre, Forschung und umfassender Krankenversorgung erfordern eine ausreichende Finanzierung mit klarer Zuordnung der Finanzmittel für Lehre und Forschung einschließlich der Drittmittelzuwendung sowie eine kostendeckende Finanzierung der Krankenversorgung durch die Versichertengemeinschaft.


Leitlinien für ärztliche Behandlung
Eine intensive Integration zwischen ambulanter und stationärer Behandlung sowie eine Verbesserung von Wirtschaftlichkeit und Sicherheit der Patientenversorgung müssen verbunden werden mit einer medizinischwissenschaftlich begründeten Qualitätssicherung, die vor allem bei der täglichen Arbeit in Klinik und Praxis anwendbar ist. Gleiche Tatbestände müssen dabei nach gleichen Kriterien und Methoden beurteilt werden, einschließlich der Indikation zu diagnostischen oder therapeutischen Verfahren sowie unabhängig davon, ob die Leistungen ambulant von einem Arzt im Krankenhaus, einem Belegarzt in einem Belegkrankenhaus oder einem Arzt in freier Praxis erbracht werden. Dafür sind heute bedauerlicherweise für GKV-Versicherte drei verschiedene Rechtsgrundlagen zu beachten, während es bei Privatpatienten diese Probleme nicht gibt. Die seit nahezu 20 Jahren zunehmenden Qualitätssicherungsbemühungen der Ärzteschaft werden so durch unklare oder gar widersprüchliche Regelungen im Sozialrecht und im ärztlichen Berufsrecht behindert.
Die Gesetzgeber in Bund und Ländern sind aufgefordert, unverzüglich die notwendigen Klarstellungen vorzunehmen. In einigen Heilberufsgesetzen der Länder ist dies bereits erfolgt, zum Beispiel im Heilberufsgesetz Bremen. Dort heißt es in Paragraph 8a: "Die Kammern haben dafür Sorge zu tragen, daß Maßnahmen der Qualitätssicherung im Tätigkeitsbereich der Kammerangehörigen entwickelt und umgesetzt werden. Sie sind an Qualitätssicherungsvorhaben Dritter zu beteiligen, soweit Belange der jeweiligen Kammerangehörigen betroffen sind."
Ärztliche Qualitätssicherungsmaßnahmen sind darauf gerichtet, bei den verschiedenen Behandlungsverfahren Abweichungen festzustellen und die Ursachen dafür zu ermitteln sowie gegebenenfalls eine Fehlersuche und analyse vornehmen zu können. So kann die medizinische Versorgung der Patienten verbessert und noch sicherer gemacht werden. Langfristig kann dies auch mehr Wirtschaftlichkeit bewirken, zum Beispiel wenn sich daraus Leitlinien für die ärztliche Behandlung entwickeln lassen. Allerdings müssen sie regelmäßig der weiterhin sprunghaften medizinisch-wissenschaftlichen und medizinisch-technischen Entwicklung angepaßt werden.
Aus solchen Leitlinien kann jedoch für die Ärzteschaft auch ein weiteres rechtliches Spannungsfeld entstehen. Es könnte zum Beispiel erkennbar werden, auf welche diagnostischen oder therapeutischen Verfahren verzichtet werden kann, weil sie zu wenig Aussagekraft haben oder die Kosten-Nutzen-Relation in einem Mißverhältnis steht insbesondere dann, wenn sich daraus keine Konsequenzen ergeben. Die Gesellschaft muß sich dann darüber klar werden, welches Restrisiko man zu tragen bereit ist, damit dem Arzt aus einem Verzicht auf bestimmte Maßnahmen bei späteren Gerichtsverfahren kein Nachteil entsteht.


Keine Zerstückelung der Selbstverwaltung
Für die Zukunft unseres freiheitlichen, beitragsfinanzierten und selbstverwalteten Gesundheitswesens ist es entscheidend, ob der Gesetzgeber künftig auf Dirigismus, Reglementierung und Paragraphendickichte verzichtet und sich statt dessen auf die Festlegung von Rahmenbestimmungen beschränkt und die Ausgestaltung der Selbstverwaltung überträgt.
Dazu ist es notwendig, die den heutigen Versorgungserfordernissen nicht mehr gerecht werdende sektorale Betrachtungsweise zu verlassen. Unter Zurückstellung von Partikular-interessen muß eine sektorübergreifende Selbstverwaltung neuer Art geschaffen werden. Nur so kann das Gegeneinander dauerhaft in ein Miteinander verwandelt und die Selbstverwaltung ihrer Aufgabe gerecht werden, eine auch wirtschaftlich effiziente Patientenversorgung zu sichern. Eine Zerstückelung dagegen - wie sie im Entwurf eines GSG II der SPD vorgesehen ist - wäre das Ende einer wirksamen Selbstverwaltung. Bei staatlich vorgegebenem Sparzwang wären Verlagerungen von einem in ein anderes Budget, Leistungsausgrenzungen und Risikoselektionen unvermeidlich. Der Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen hatte bereits 1994 in seinem Sondergutachten ausgeführt, daß "anstelle einer sektorspezifischen Betrachtung von Finanzlage und Leistungsgeschehen, wie sie in allen bisherigen Gutachten zugrunde lag, eine sektorübergreifende Sichtweise gewählt wurde", und zur Aufgabe der Selbstverwaltung heißt es dort weiter: "Die Kumulation von demographischer Entwicklung mit steigender Multimorbidität, medizinischem und medizinisch-technischem Fortschritt, steigenden Ansprüchen an die Lebensqualität bei Krankheit oder Leiden, Körperbehinderung und chronischen Krankheiten, läßt den Leistungsbedarf stärker ansteigen, als die Politik den Versicherten zur Finanzierung über Sozialversicherungsbeiträge zumuten will. Es stellt sich daher die politische Grundsatzfrage nach der zukünftigen Rolle des GKV-Systems in der Krankenversorgung und der gesundheitlichen Betreuung der Bevölkerung in Deutschland."
Mit allem Nachdruck muß allerdings auch darauf hingewiesen werden, daß Selbstverwaltung nur dort Verantwortung übernehmen kann, wo sie auch Regelungskompetenzen hat. Es kann nicht Aufgabe der Selbstverwaltung sein, die von der Politik in wirtschaftlich besseren Zeiten allzu großzügig verteilten Wohltaten gleichsam als staatliche Auftragsverwaltung wieder einzutreiben. Auch kann die Selbstverwaltung keine Probleme über Nacht lösen, zu deren Lösung der Staat sich seit Jahren oder Jahrzehnten als unfähig erwiesen hat. Die Auswirkungen etwa der demographischen Veränderungen und der faszinierenden Fortschritte in der Medizin oder die Folgen einer verfehlten Bildungspolitik mit einer viel zu hohen Zahl von Hochschulabsolventen - auch in der Medizin - entziehen sich ebenso der Regelungskompetenz der Selbstverwaltung. Die Versäumnisse der Gesetz- und Verordnungsgeber, durch Änderung der Kapazitätsverordnung der Länder die Zahl der Medizinstudenten an der Zahl qualifizierter Hochschullehrer und der Zahl der zur Ausbildung und Lehre geeigneten Patienten und deren Belastbarkeit zu orientieren und damit auch die Qualität der Ausbildung in kleinen Gruppen zu gewährleisten - all das kann nicht von der Selbstverwaltung aufgefangen werden.
Für eine sektorübergreifende Selbstverwaltung als Alternative zu staatlicher Reglementierung bleibt allerdings noch viel zu tun. Eine solche neue erweiterte Selbstverwaltung könnte zum Beispiel für die Krankenhäuser die seit langem überfällige Anpassung der Strukturen des ärztlichen Dienstes bewirken und für eine bessere Integration zwischen stationärem und ambulantem Bereich sachgerechte Lösungen je nach regionalen Gegebenheiten vereinbaren. Doppeluntersuchungen wären dann ebenso zu vermeiden wie Doppelinvestitionen. Rational begründete und nicht lediglich ideologisch geprägte Lösungen führen für den Patienten zu besserer individueller Behandlung und für das Gesamtsystem zu mehr Wirtschaftlichkeit.
Ohne Rechtsänderungen geht dies nicht. Gegenüber allen dazu geäußerten Bedenken sei mit Nachdruck gesagt: Das Recht muß sich endlich den veränderten Bedingungen und Notwendigkeiten der Patientenversorgung anpassen und nicht umgekehrt.


Vor ärztlicher Hybris hüten
Die faszinierenden Entwicklungen der modernen Medizin in den letzten Jahrzehnten mit erweiterten und verbesserten Möglichkeiten in Diagnostik und Therapie am Anfang und am Ende des menschlichen Lebens haben dazu geführt, daß vermehrt ethische Fragen ärztlichen Handelns in der Öffentlichkeit und von Politikern diskutiert werden. Ebenso führen neue Erkenntnisse aus der Molekularbiologie und der Gentechnologie, die in den nächsten Jahren und Jahrzehnten die Medizin und das Verständnis über die Entstehung und eine wirksame Behandlung von Krankheiten revolutionieren könnten, zu bislang völlig unbekannten Fragen. In der Medizin und in der Gesellschaft müssen wir deshalb einen Konsens erreichen, wie wir mit dem Wissen, den Chancen, aber auch den Risiken einer prädiktiven Medizin umgehen können
Seit 1992 hat sich die verfaßte Ärzteschaft sowohl im Weltärztebund, dem Ständigen Ausschuß der Europäischen Ärzte wie auch dem Deutschen Ärztetag für eine vernünftige Nutzung neuer Forschungsergebnisse eingesetzt, zugleich aber auch vor Mißbrauch gewarnt, wie zum Beispiel der Patentierbarkeit des menschlichen Genoms. Genetische Information ist keine patentfähige Erfindung, sondern eine Entdeckung natürlicher Gegebenheiten. Die Entdeckung genetischer Information darf nicht zu einer Kommerzialisierung führen. Genetische Information ist gemeinsames Eigentum aller Menschen.
Für die biomedizinische Forschung hat der Weltärztebund schon 1964 Empfehlungen verabschiedet, die in der Fassung von Tokio 1975 das Arzneimittelrecht in Deutschland mitgeprägt haben und die 1983 in Venedig und 1989 in Hongkong nochmals aktualisiert wurden. In der Öffentlichkeit umstritten, aber sicher notwendig, ist auch die Forschung an nicht einwilligungsfähigen Patienten, mit dem Ziel einer Verbesserung von Diagnostik und Therapie, möglicherweise sogar der Prävention, der bei solchen Menschen bestehenden oder zu erwartenden Krankheiten, wie zum Beispiel Stoffwechselstörungen, Mißbildungen oder der Alzheimerschen Erkrankung. Es ist damit zu rechnen, daß auch hier zunächst nur in Einzelfällen mögliche, erfolgreiche Vorstöße in medizinische Grenzbereiche in kurzer Zeit für eine große Zahl von Kranken zur Routine werden könnten.
Zunehmend stellt sich dennoch die Frage, ob der Arzt bei der Behandlung der Patienten in jedem Fall alles tun darf oder gar tun muß, was medizinisch-wissenschaftlich oder technisch möglich ist. Die Antwort darauf erfordert sicher keine neue Ethik, sie ist jedoch auf der Grundlage bewährter ethischer Prinzipien nicht immer leicht und nicht allgemeingültig für alle denkbaren Möglichkeiten und Herausforderungen zu geben. In jedem Einzelfall muß entschieden werden, welche angesichts des medizinischen Befundes individuell erforderliche, wirksame, unter Berücksichtigung des psychischen Befindens aber auch zumutbare Therapie - zur Anwendung kommen soll. Trotz großen wissenschaftlichen Fortschritts sollten wir Ärzte uns vor Hybris hüten und uns der Grenzen der Medizin bewußt sein.


Arzt kein Richter über Leben und Tod
Die wieder aufflammende öffentliche Diskussion um Sterbehilfe ist unter ethischen Aspekten nicht nur bedenklich, sondern geradezu erschreckend. Nicht selten wird der Vorwurf erhoben, daß Ärzte und Krankenhäuser in aussichtslosen Fällen angeblich aus Gewinnstreben "kein Ende finden könnten" - ein Vorwurf, der Unmenschlichkeit unterstellt. Abgesehen davon ist dieser Vorwurf angesichts der Vergütungsstrukturen, aber auch nach Einführung von Budgets, geradezu absurd. Nicht zuletzt die Möglichkeiten der Intensivmedizin waren für die Bundesärztekammer schon Ende der siebziger Jahre Anlaß gewesen, in Richtlinien für die Sterbehilfe darzustellen, wann weitere Behandlungsmaßnahmen sinnlos werden, weil nicht mehr das Leben, sondern nur noch das Sterben verlängert werden könnte. Aktive Beendigung eines Menschenlebens - also Tötung - darf jedoch niemals Aufgabe von Ärzten werden.
Trotz der unbestreitbaren Erfolge der modernen Intensivmedizin wurde der Vorwurf einer "inhumanen Maschinenmedizin" erhoben, lautstark sogar die gesetzliche Verankerung eines "Gnadentodes" gefordert. Dies allerdings brächte den Arzt in eine nicht nur aus ethischen Gründen unerträgliche Nähe zu der Forderung nach "Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens", die erstmals 1913 und dann zu Beginn der zwanziger Jahre von dem Leipziger Juristen Karl Binding und dem Freiburger Psychiater Alfred Hoche erhoben worden ist.
Wir weisen solche Vorstellungen mit Nachdruck zurück. Der Arzt kann und will nicht durch Gesetz ermächtigt oder sogar verpflichtet werden, Richter über Leben und Tod zu sein. Hier kann man nur Christoph Wilhelm Hufeland (1762 bis 1836) zustimmen, der schon 1800 sagte: "Wenn der Arzt sich zum Richter über Leben und Tod aufschwingt, wird er zum gefährlichsten Mann im Staat." Gerade 50 Jahre nach den Nürnberger Ärzteprozessen und auf diesem Messegelände, wo sich während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ein Sammellager für Juden, Sinti und Roma und eine Außenstelle des Konzentrationslagers Buchenwald befand, ist daran mit tiefen Ernst zu erinnern.
Forderungen nach einem sogenannten "Gnadentod" stehen im übrigen auch in einem merkwürdigen Gegensatz zu den oft von gleicher Seite geäußerten Zweifeln, daß der endgültige, vollständige und unumkehrbare Funktionsausfall des gesamten Gehirns ein sicheres Todeszeichen des Menschen ist, oder im Widerspruch zu der Vermutung, daß aus rein utilitaristischen Gründen eine andere Grenze als die naturgegebene zwischen Leben und Tod gezogen werden könnte.


Organspende ein Akt der Nächstenliebe
Die 1979 von einer Expertengruppe des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer erarbeiteten "Kriterien des Hirntodes" zur Feststellung des Todes des Menschen geben Entscheidungshilfe für die Frage, wann es aus ärztlichen, ethisch-moralischen Gründen erlaubt ist, sinnlos gewordene intensivmedizinische Maßnahmen zu beenden, weil der Tod inzwischen eingetreten ist. Sie sind also keine Definition gleichsam eines "neuen Todes". Auch für die Transplantationsmedizin ergeben sich daraus Konsequenzen. Nach eingetretenem Tod können Organe entnommen und anderen Menschen transplantiert werden, bei denen der Funktionsausfall gerade eben dieser Organe unweigerlich den Tod herbeiführen müßte. Durch Organtransplantation wird den Kranken also ein sonst verlorener Lebensabschnitt eröffnet. Organtransplantation ist deshalb eine Entscheidung für das Leben. Die Erhaltung eines Menschenlebens mit Hilfe einer Organspende von einem Toten ist ein Akt der Nächstenliebe. Organspende und Organtransplantation sind in vielen Fällen die einzige und letzte Möglichkeit, Leben zu erhalten. Der von CDU/CSU, SPD und FDP in den Bundestag eingebrachte Entwurf für ein Transplantationsgesetz sollte hier endlich Rechtsklarheit schaffen.
Folgt man dagegen dem Transplantationsgesetz-Entwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, wäre dies das Ende der Organtransplantation in Deutschland. Zu den Voraussetzungen der Organentnahme nach irreversiblem Ausfall der Hirnfunktion heißt es dort: "Die Entnahme von Organen Lebender nach irreversiblem Ausfall aller meßbaren Hirnfunktionen ist zulässig, wenn durch den vorliegenden Organspendeausweis die Einwilligung dokumentiert ist und die ärztlichen Feststellungen nach Paragraph 16 getroffen sind". Kein Chirurg wäre bereit, "Lebenden" Organe zu entnehmen. Dies käme schließlich auch bei Vorliegen einer Einwilligung zur Organentnahme einer Tötung auf Verlangen gleich. Ebenso unzulässig ist eine Organentnahme lediglich nach Herzstillstand. Zu dem Problem des "Non-heart-beating-donor" haben deshalb Bundesärztekammer und Deutsche Transplantationsgesellschaft eine Stellungnahme abgegeben, in der es unter anderem heißt: "Der Herzstillstand allein ist kein sicheres Todeszeichen, solange ungewiß ist, ob er unabänderlich ist oder bereits zum endgültigen, nicht behebbaren Ausfall der gesamten Hirnfunktion geführt hat. Daher lehnen die Bundesärztekammer und die Deutsche Transplantationsgesellschaft die Entnahme von Organen wie Niere, Leber oder Bauchspeicheldrüse unter solchen Bedingungen ab."


Forderungen zur Gesundheitsreform
Wir stehen vor großen, früher unbekannten Herausforderungen. Faszinierende wissenschaftliche und technische Entwicklungen eröffnen eine Fülle früher ungeahnter Möglichkeiten, deren Nutzen und Risiken sorgfältiger Abwägung bedürfen. Auf der anderen Seite stehen schon jetzt Mittelknappheit und eine wirtschaftliche Rezession, die den sozialen Anspruch unserer Gesellschaft nachhaltig bedrohen. In diesem Spannungsfeld bedarf es klarer Analysen und verantwortungsvoller Entscheidungen, mit denen wir auch vor der nächsten Generation bestehen können. Mit vordergründigen, durch politische und Partikularinteressen geprägte Rethorikschlachten können wir keinen Sieg für die nachwachsende Generation erringen. Eine wirklich patientengerechte Gesundheitsreform erfordert statt politischer Kurpfuscherei endlich eine wirksame Therapie - und dazu zählt insbesondere c Weiterentwicklung der medizinischen Versorgung mit dem Ziel, die sektoralen Abgrenzungen durch eine bessere Verbindung der einzelnen Versorgungsbereiche zu überwinden.
c Strukturierung nach den Versorgungserfordernissen der Patienten mit stärkerer personaler Integration von ambulanter und stationärer Versorgung, zum Beispiel durch Kooperationsmodelle zur gemeinsamen Nutzung von Krankenhausspezialeinrichtungen und Großgeräten durch niedergelassene und Krankenhausärzte, Förderung des kooperativen Belegarztwesens sowie Verbesserung der Zusammenarbeit und Kommunikation zwischen niedergelassenen und Krankenhausärzten.
c Persönliche (Regel-) Ermächtigung eines besonders qualifizierten Krankenhausfacharztes mit mehr als vierjähriger Facharzttätigkeit für die Konsiliarberatungen auf Überweisung eines niedergelassenen Arztes (nur klinische Untersuchung, Beratung und Arztbrief) oder eines Facharztes desselben Gebietes (mit festgelegtem Leistungsumfang).
c Stärkung der Selbstverwaltung und Gewährleistung von Ausgewogenheit in den Beziehungen zwischen Ärzten, Krankenkassen und Kran-kenhausträgern mit einem wirksamen Steuerungsinstrumentarium zur Sicherung von Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung in den einzelnen Leistungsbereichen.
c Beibehaltung des Sicherstellungsauftrages für die vertragsärztliche Versorgung als Voraussetzung für die Aufrechterhaltung einer flächendeckenden, guten und kostengünstigen vertragsärztlichen Versorgung mit der Möglichkeit der Vereinbarung von differenzierten Versorgungs- und Vergütungsmodellen, soweit dadurch die notwendige flächendeckende Ver-sorgung nicht tangiert und der erforderliche Versicherungsschutz nicht eingeschränkt wird.
c Sicherstellung der Finanzierung einer bedarfsgerechten Krankenhausversorgung, d.h. eines nach Leistungsfähigkeit gestuften und flächendeckend gegliederten Systems von wohnortnahen Krankenhäusern mit differenzierter medizinischer Aufgabenstellung.
c Strukturreform der Krankenhäuser und ihres ärztlichen Dienstes (Teamarzt-Modelle).
c Klarstellung der gesetzlichen Grundlagen zur Zuständigkeit der Ärztekammern für die Qualitätssicherung ärztlicher Berufsausübung.
c Erhaltung des bewährten gegliederten Krankenversicherungssystems mit Aufgabenteilung zwischen der gesetzlichen Krankenversicherung als solidarisch finanzierter Sozialversicherung und der privaten Krankenversicherung als risikoäquivalenter Privatversicherung.
c Entlastung des Leistungskataloges um krankenversicherungsfremde Leistungen.
c Differenzierung des Leistungskataloges in solidarisch zu finanzierende Leistungen und satzungsgemäße Zusatzleistungen.
c Überprüfung der Finanzierungsgrundlagen des Gesundheitswesens angesichts der rückläufigen Lohnquote.


Gesellschaftlicher Konsens nötig
Die notwendigen Reformen in den einzelnen Zweigen der Sozialversicherung werden nur dann greifen, wenn sie in einem breiten gesellschaftlichen- und parteiübergreifenden Konsens durchgeführt werden können. Die Forderung nach einer Strukturreform ist kein Selbstzweck. Sie erwächst aus Sorge um den Sozialstaat und den Wirtschaftsstandort Deutschland. Deshalb appellieren wir Ärzte an die politischen Entscheidungsträger: Haben Sie den Mut, Verantwortung und Regelungskompetenz an die tatsächlich Beteiligten und Betroffenen zu delegieren. Bleiben Sie bei dem Konzept der "Vorfahrt für die Selbstverwaltung".
Bei der Bewältigung vieler Probleme müssen wir uns aber auch darüber klar werden, daß sie durch die Erfüllung der Sehnsüchte vieler Generationen nach längerem Leben und Älterwerden, ebenso wie durch den Wunsch nach Freiheit in Deutschland und in Europa, entstanden sind. Die bedrohlichen Folgen von Diktatur und Unfreiheit sowie der Aufteilung der Welt in zwei sich feindlich gegenüberstehende Machtblöcke konnten wir in Gemeinsamkeit überwinden, aus der Stärke erwuchs. Unter Zurückstellung von mancherlei Einzelinteressen können daraus Mut und Zuversicht erwachsen, auch den sich aus einem erweiterten Wissens- und Erkenntnisstand ebenso wie aus der Freiheit ergebenden Folgen zu begegnen und Lösungen zu finden. Nutzen wir also gemeinsam die sich daraus ergebenden Chancen, um auf diese Weise der Gesundheit des Einzelnen und der gesamten Bevölkerung zu dienen.


Anschrift des Verfassers:
Dr. med. Karsten Vilmar
Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages
Herbert-Lewin-Straße 1
50931 Köln

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Jachertz, Norbert

50. Bayerischer Ärztetag: Regelversorgung ohne Kostendruck

in: Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 43 (24.10.1997), Seite A-2789
POLITIK: Leitartikel

Die ökonomischen Zwänge, unter denen Ärzte in Klinik und Praxis heute arbeiten, sowie die Sicherung einer qualitativ hochstehenden ärztlichen Versorgung standen im Mittelpunkt des 50. Bayerischen Ärztetages. Die wenig rosige aktuelle Lage bot kaum Anlaß für eine Jubelfeier, wie sie an sich dem runden Geburtstag entsprochen hätte.
Der Präsident der Bayerischen Landesärztekammer, Dr. Hans Hege, sieht die Ärzte in einer moralischen Zwickmühle zwischen Therapie und Ökonomie. Dem Erfordernis von notwendiger Diagnostik und Therapie und den medizinischen Möglichkeiten stünden die ökonomischen Zwänge gegenüber - und die würden immer größer. Hege befürchtet, das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient könne Schaden nehmen. Bei der Eröffnung des 50. Bayerischen Ärztetages, am 10. Oktober in München, ventilierte Hege Vorschläge, um aus der Zwickmühle herauszukommen. Hege setzte sich dafür ein, die Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung notfalls auf eine Grundversorgung zurückzuführen. Vorrangig sei die Versorgung von Kranken und Leidenden ohne Kostendruck. Zumindest für eine solche "Regelversorgung" müsse das Geld dasein. Wenn darüber hinaus nicht genügend Mittel vorhanden seien, dann müsse über Einschränkungen nicht nur nachgedacht werden. Hege kam mit konkreten Vorschlägen, und er scheute dabei auch keine heißen Eisen. Die künstliche Befruchtung muß seiner Meinung nach nicht zur Grundversorgung gehören. Auch die Prävention im Sinne des großflächigen Screenings ohne akuten Anlaß steht nach Hege zur Debatte. Selbst die Psychotherapie gehört, folgt man ihm, auf den Prüfstand. Hege setzte sich jedenfalls für eine strenge Indikationsstellung ein. Laut Dr. Karsten Vilmar, dem Präsidenten der Bundesärztekammer, der bei der Eröffnung des Bayerischen Ärztetages sprach, ist die heutige Zwangslage wesentlich eine Folge verfehlter Politikansätze in den sechziger und siebziger Jahren, so der damals ausufernden Bildungspolitik. Vilmar begrüßte die jüngsten Gesundheitsreformen, wenn auch das Reformpotential noch nicht ausgeschöpft sei. Er sieht neue Chancen für die Selbstverwaltung, lehnt aber Selbstverwaltung in Form einer staatlichen Auftragsverwaltung ab. Mahnungen an die
Selbstverwaltung
Mahnungen an die Selbstverwaltung kamen von der bayerischen Staatsministerin Barbara Stamm. So lehnte Stamm Forderungen, in die innerärztlichen Verteilungsprobleme einzugreifen, kategorisch ab. Da gebe es derzeit keinen staatlichen Handlungszwang, die Selbstverwaltung solle ihren Handlungsspielraum nutzen. Angemahnt wurde von ihr ein schlüssiges Konzept für die Verzahnung von ambulantem und stationärem Sektor. Hier sei die Selbstverwaltung im Verzug.
Die Arbeitstagung des Bayerischen Ärztetages am 10. und 11. Oktober beschäftigte sich im weitesten Sinne mit der Qualität der ärztlichen Berufsausübung. Verabschiedet wurde eine neue Berufsordnung nach dem Muster der beim 100. Deutschen Ärztetag in Eisenach im Mai dieses Jahres beschlossenen Vorlage. Ein Kennzeichen dieser Berufsordnung ist Offenheit gegenüber Patientenerwartungen, ohne aber die Selbstbeschränkungen der Ärzteschaft, zum Beispiel in Sachen Werbung, allzusehr zu lockern. Immerhin, im Internet darf ein Arzt künftig seine Homepage aufmachen. Bayerns Kammer-Vize, Dr. Hans Hellmut Koch, kam mit seinem Vorschlag, ein Fortbildungszertifikat auf freiwilliger Basis (zunächst als Modell für zwei Jahre) einzuführen, durch. Auf Bundesebene war die Idee in der Vergangenheit mehrfach gescheitert. Mit Qualitätssicherung im engeren Sinne beschäftigte sich Dr. med. Klaus Ottmann; er beschrieb den bayerischen Weg. Kennzeichen sind ausgewählte Projekte, Vermeidung von Datenfriedhöfen, ausgeprägte Kooperation von Ärztekammer und Kassenärztlicher Vereinigung.
In München wurde mehrfach ein drohender Facharztmangel beschworen. Vize Koch und der Vorsitzende des ärztlichen Kreis- und Bezirksverbandes München, Dr. med. Wolf von Römer, prophezeien den in etwa zehn bis fünfzehn Jahren. Denn fertige Fachärzte blieben heute in den Krankenhäusern und verstopften vielfach die Stellen für den weiterbildungswilligen Nachwuchs. Alternativen zeichneten sich bisher nicht ab: Die niedergelassene Praxis sei zu, der Ausbau von Planstellen am Krankenhaus - obwohl sachlich und rechtlich geboten - scheitere an den Kosten. Norbert Jachertz

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Herzog, Roman

Was ist los mit unserem Land? Wir brauchen einen neuen Gesellschaftsvertrag zugunsten der Zukunft

in: Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 21 (23.05.1997), Seite A-1398
THEMEN DER ZEIT: Dokumentation

Bundespräsident Roman Herzog hat am 26. April 1997 in Berlin eine vielbeachtete Rede gehalten, die sich mit dem weitverbreiteten Gefühl einer "Lähmung unserer Gesellschaft", mit der Blockierung notwendiger Reformen, vor allem aber mit den Herausforderungen unserer Gesellschaft und der Verantwortung ihrer Eliten beschäftigte. Herzog sprach ausdrücklich auch Reformen im sozialen Bereich an. Wir dokumentieren die Rede - lediglich am Anfang geringfügig gekürzt.
Der Bundespräsident wird beim 100. Deutschen Ärztetag in Eisenach erwartet - nicht nur als stumm repräsentierender Gast, sondern auch als Redner.


Ich komme gerade aus Asien zurück. In vielen Ländern dort herrscht eine unglaubliche Dynamik. Staaten, die noch vor kurzem als Entwicklungsländer galten, werden sich innerhalb einer einzigen Generation in den Kreis der führenden Industriestaaten des 21. Jahrhunderts katapultieren. Kühne Zukunftsvisionen werden dort entworfen und umgesetzt, und sie beflügeln die Menschen zu immer neuen Leistungen.
Was sehe ich dagegen in Deutschland? Hier herrscht ganz überwiegend Mutlosigkeit, Krisenszenarien werden gepflegt. Ein Gefühl der Lähmung liegt über unserer Gesellschaft.
Dabei stehen wir wirtschaftlich und gesellschaftlich vor den größten Herausforderungen seit 50 Jahren: 4,3 Millionen Arbeitslose, die Erosion der Sozialversicherung durch eine auf dem Kopf stehende Alterspyramide, die wirtschaftliche, technische und politische Herausforderung der Globalisierung. Lassen wir uns nicht täuschen: Wer immer noch glaubt, das alles gehe ihn nichts an, weil es ihm selbst noch relativ gut geht, der steckt den Kopf in den Sand.
Ich will heute abend kein Blatt vor den Mund nehmen, sondern die Probleme beim Namen nennen.
Was ist los mit unserem Land? Im Klartext: Der Verlust wirtschaftlicher Dynamik, die Erstarrung der Gesellschaft, eine unglaubliche mentale Depression - das sind die Stichworte der Krise. Sie bilden einen allgegenwärtigen Dreiklang, aber einen Dreiklang in Moll. In der Tat: Verglichen mit den Staaten in Asien oder - seit einigen Jahren wieder - auch den USA, ist das Wachstum der deutschen Wirtschaft ohne Schwung. Und: In Amerika und Asien werden die Produktzyklen immer kürzer, das Tempo der Veränderung immer größer. Es geht auch nicht nur um technische Innovation und um die Fähigkeit, Forschungsergebnisse schneller in neue Produkte umzusetzen. Es geht um nichts Geringeres als um eine neue industrielle Revolution, um die Entwicklung zu einer neuen, globalen Gesellschaft des Informationszeitalters. Der Vergleich mit Amerika und seinem leergefegten Arbeitsmarkt zeigt: Deutschland droht tatsächlich zurückzufallen.
Wer Initiative zeigt, wer vor allem neue Wege gehen will, droht unter einem Wust von wohlmeinenden Vorschriften zu ersticken. Um deutsche Regulierungswut kennenzulernen, reicht schon der Versuch, ein simples Einfamilienhaus zu bauen. Kein Wunder, daß es - trotz ähnlicher Löhne - soviel billiger ist, das gleiche Haus in Holland zu bauen.
Und dieser Bürokratismus trifft nicht nur den kleinen Häuslebauer. Er trifft auch die großen und kleinen Unternehmer, und er trifft ganz besonders den, der auf die verwegene Idee kommt, in Deutschland ein Unternehmen zu gründen. Bill Gates fing in einer Garage an und hatte als junger Mann schon ein Weltunternehmen. Manche sagen mit bitterem Spott, daß sein Garagenbetrieb bei uns schon an der Gewerbeaufsicht gescheitert wäre.
Und der Verlust der wirtschaftlichen Dynamik geht Hand in Hand mit der Erstarrung unserer Gesellschaft.
Die Menschen bei uns spüren, daß die gewohnten Zuwächse ausbleiben, und sie reagieren darauf verständlicherweise mit Verunsicherung. Zum ersten Mal werden auch diejenigen, die bisher noch nie von Arbeitslosigkeit bedroht waren, von Existenzangst für sich und ihre Familien geplagt. Das amerikanische Nachrichtenmagazin "Newsweek" sprach schon von der "deutschen Krankheit". Das ist gewiß übertrieben. Aber so viel ist doch richtig: wer heute in unsere Medien schaut, der gewinnt den Eindruck, daß Pessimismus das allgemeine Lebensgefühl bei uns geworden ist.
Das ist ungeheuer gefährlich; denn nur zu leicht verführt Angst zu dem Reflex, alles Bestehende erhalten zu wollen, koste es, was es wolle. Eine von Ängsten erfüllte Gesellschaft wird unfähig zu Reformen und damit zur Gestaltung der Zukunft. Angst lähmt den Erfindergeist, den Mut zur Selbständigkeit, die Hoffnung, mit den Problemen fertig zu werden. Unser deutsches Wort "Angst" ist bereits als Symbol unserer Befindlichkeit in den Sprachschatz der Amerikaner und Franzosen eingeflossen. "Mut" oder "Selbstvertrauen" scheinen dagegen aus der Mode gekommen zu sein.
Unser eigentliches Problem ist also ein mentales: Es ist ja nicht so, als ob wir nicht wüßten, daß wir Wirtschaft und Gesellschaft dringend modernisieren müssen. Trotzdem geht es nur mit quälender Langsamkeit voran. Uns fehlt der Schwung zur Erneuerung, die Bereitschaft, Risiken einzugehen, eingefahrene Wege zu verlassen, Neues zu wagen. Ich behaupte: Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem. Während die Auswirkungen des technischen Wandels auf dem Arbeitsmarkt und die Folgen der Demographie für die sozialen Netze auch andere Industrieländer, etwa Japan, heimsuchen, gibt es für den Modernisierungsstau in Deutschland keine mildernden Umstände. Er ist hausgemacht, und wir haben ihn uns selbst zuzurechnen.
Dabei leisten wir uns auch noch den Luxus, so zu tun, als hätten wir zur Erneuerung beliebig viel Zeit: Ob Steuern, Renten, Gesundheit, Bildung, selbst der Euro - zu hören sind vor allem die Stimmen der Interessengruppen und Bedenkenträger. Wer die großen Reformen verschiebt oder verhindern will, muß aber wissen, daß unser Volk insgesamt dafür einen hohen Preis zahlen wird. Ich warne alle, die es angeht, eine dieser Reformen aus wahltaktischen Gründen zu verzögern oder gar scheitern zu lassen. Den Preis dafür zahlen vor allem die Arbeitslosen.
Alle politischen Parteien und alle gesellschaftlichen Kräfte beklagen übereinstimmend das große Problem der hohen Arbeitslosigkeit. Wenn sie wirklich meinen, was sie sagen, erwarte ich, daß sie jetzt schnell und entschieden handeln! Ich rufe auf zu mehr Entschlossenheit! Eine Selbstblockade der politischen Institutionen können wir uns nicht leisten.
Innovationsfähigkeit fängt im Kopf an, bei unserer Einstellung zu neuen Techniken, zu neuen Arbeits- und Ausbildungsformen, bei unserer Haltung zur Veränderung schlechthin. Ich meine sogar: Die mentale und die intellektuelle Verfassung des Standorts Deutschland ist heute schon wichtiger als der Rang des Finanzstandorts oder die Höhe der Lohnnebenkosten. Die Fähigkeit zur Innovation entscheidet über unser Schicksal. 20 Jahre haben wir gebraucht, um den Ladenschluß zu reformieren. Die zentralen Herausforderungen unserer Zeit werden wir mit diesem Tempo ganz gewiß nicht bewältigen. Wer 100 Meter Anlauf nimmt, um dann zwei Meter weit zu springen, der braucht gar nicht anzutreten.
Allzuoft wird versucht, dem Zwang zu Veränderungen auszuweichen, indem man einfach nach dem Staat ruft; dieser Ruf ist schon fast zum allgemeinen Reflex geworden. Je höher aber die Erwartungen an den Staat wachsen, desto leichter werden sie auch enttäuscht; nicht nur wegen knapper Kassen. Der Staat und seine Organe sind der Komplexität des modernen Lebens - mit all seinen Grenz- und Sonderfällen - oft einfach nicht gewachsen, und sie können es auch gar nicht sein.
Der Staat leidet heute besonders unter dem Mythos der Unerschöpflichkeit seiner Ressourcen. Man könnte das auch so sagen: Die Bürger überfordern den Staat, der Staat seinerseits überfordert die Bürger. Je höher die Steuerlast, desto höher die Erwartungen an den Staat. Dem bleibt dann nichts anderes übrig, als sich weiter zu verschulden oder erneut die Steuern zu erhöhen. Bei überhöhter Verschuldung bleibt nur noch die Roßkur der Haushaltssanierung mit schmerzhaften konjunkturellen Folgen. Ein Teufelskreis!
Mit dem rituellen Ruf nach dem Staat geht ein - wie ich finde - gefährlicher Verlust am Gemeinsinn einher. Wer hohe Steuern zahlt, meint allzuleicht, damit seine Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft abschließend erfüllt zu haben. Vorteilssuche des einzelnen zu Lasten der Gemeinschaft ist geradezu ein Volkssport geworden. Wie weit sind wir gekommen, wenn derjenige als clever gilt, der das soziale Netz am besten für sich auszunutzen weiß, der Steuern am geschicktesten hinterzieht oder die Subventionen am intelligentesten abzockt? Und jeder rechtfertigt sein Verhalten mit dem Hinweis auf die anderen, die es - angeblich - ja auch so machen.
Führen wir angesichts dieser Probleme überhaupt noch die richtigen Debatten? Ich will ganz unten ansetzen: Die Welt um uns herum ist hochkompliziert geworden, der Bedarf an differenzierten Antworten wird infolgedessen immer größer. Aber gerade bei den Themen, die am heftigsten diskutiert werden, ist der Informationsstand des Bürgers erschreckend gering. Umfragen belegen, daß nur eine Minderheit weiß, um was es bei den großen Reformen derzeit eigentlich geht. Das ist ein Armutszeugnis für alle Beteiligten: die Politiker, die sich allzuleicht an Detailfragen festhaken und die großen Linien nicht aufzeigen, die Medien, denen billige Schlagzeilen oft wichtiger sind als saubere Information, die Fachleute, die sich oft zu gut dafür sind, in klaren Sätzen zu sagen, "was Sache ist".
Statt dessen gefallen wir uns in Angstszenarien. Kaum eine neue Entdeckung, bei der nicht zuerst nach den Risiken und Gefahren, keineswegs aber nach den Chancen gefragt wird. Kaum eine Anstrengung zur Reform, die nicht sofort als "Anschlag auf den Sozialstaat" unter Verdacht gerät. Ob Kernkraft, Gentechnik oder Digitalisierung: Wir leiden darunter, daß die Diskussionen bei uns bis zur Unkenntlichkeit verzerrt werden - teils ideologisiert, teils einfach "idiotisiert". Solche Debatten führen nicht mehr zu Entscheidungen, sondern sie münden in Rituale, die immer wieder nach dem gleichen Muster ablaufen, nach einer Art Sieben-StufenProgramm:
1. Am Anfang steht ein Vorschlag, der irgendeiner Interessengruppe Opfer abverlangen würde.
2. Die Medien melden eine Welle "kollektiver Empörung".
3. Spätestens jetzt springen die politischen Parteien auf das Thema auf, die einen dafür, die anderen dagegen.
4. Die nächste Phase produziert einen Wirrwarr von Alternativvorschlägen und Aktionismen aller Art, bis hin zu Massendemonstrationen, Unterschriftensammlungen und zweifelhaften Blitzumfragen.
5. Es folgt allgemeine Unübersichtlichkeit, die Bürger werden verunsichert.
6. Nunmehr erschallen von allen Seiten Appelle zur "Besonnenheit".
7. Am Ende steht meist die Vertagung des Problems. Der Status quo setzt sich durch. Alle warten auf das nächste Thema.
Diese Rituale könnten belustigend wirken, wenn sie nicht die Fähigkeit, zu Entscheidungen zu kommen, gefährlich lähmen würden. Wir streiten uns um die unwichtigen Dinge, um den wichtigen nicht ins Auge sehen zu müssen. Erinnert man sich heute noch an den Streit über die Volkszählung, der vor ein paar Jahren die ganze Nation in Wallung brachte? Scheinsachverständige mit Doktortitel äußern sich zu beliebigen Themen, Hauptsache, es wird kräftig schwarzgemalt und Angst gemacht. Wissenschaftliche und politische Scheingefechte werden so lange geführt, bis der Bürger restlos verwirrt ist; ohnehin wird die Qualität der Argumente dabei oft durch verbale Härte, durch Kampfbegriffe und "Schlagabtausche" ersetzt. Und das in einer Zeit, in der die Menschen durch die großen Umbrüche ohnehin verunsichert sind; in einer Zeit, in der der Verlust von eigenem Erfahrungswissen durch äußere Orientierung ersetzt werden müßte. Ich mahne zu mehr Zurückhaltung: Worte können verletzen und Gemeinschaft zerstören. Das können wir uns nicht auf Dauer leisten, schon gar nicht in einer Zeit, in der wir mehr denn je auf Gemeinschaft angewiesen sind.
Können unsere Eliten über die dogmatischen Schützengräben hinweg überhaupt noch Entscheidungen treffen? Wer bestimmt überhaupt noch den Gang der Gesellschaft: diejenigen, die die demokratische Legitimation dazu haben, oder jene, denen es gelingt, die Öffentlichkeit für ihr Thema am besten zu mobilisieren? Interessenvertretung ist sicher legitim. Aber erleben wir nicht immer wieder, daß einzelne Gruppen durch die kompromißlose Verteidigung ihrer Sonderinteressen längst überfäl-lige Entscheidungen blockieren können? Ich mahne zu mehr Verantwortung!
In Amerika hat man Interessengruppen, die durch die Mobilisierung der öffentlichen Meinung ihre Sonderinteressen verfechten, "Veto-Gruppen" genannt, wahrlich eine treffende Bezeichnung. Sie führen dazu, daß über Probleme nur noch geredet, aber nicht mehr gehandelt wird. Die Parole heißt dann: durchwursteln, unter angestrengter Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Folge ist der Verlust der großen Perspektive.
Ich vermisse bei unseren Eliten in Politik, Wirtschaft, Medien und gesellschaftlichen Gruppen die Fähigkeit und den Willen, das als richtig Erkannte auch durchzustehen. Es kann ja sein, daß einem einmal der Wind der öffentlichen Meinung ins Gesicht bläst. Unser Land befindet sich aber in einer Lage, in der wir es uns nicht mehr leisten können, immer nur den Weg des geringsten Widerstands zu gehen.
Ich glaube sogar: In Zeiten existentieller Herausforderung wird nur der gewinnen, der wirklich zu führen bereit ist, dem es um Überzeugung geht und nicht um politische, wirtschaftliche oder mediale Macht - ihren Erhalt oder auch ihren Gewinn. Wir sollten die Vernunft- und Einsichtsfähigkeit der Bürger nicht unterschätzen. Wenn es um die großen Fragen geht, honorieren sie einen klaren Kurs. Unsere Eliten dürfen den notwendigen Reformen nicht hinterherlaufen, sie müssen an ihrer Spitze stehen!
Eliten müssen sich durch Leistung, Entscheidungswillen und ihre Rolle als Vorbild rechtfertigen. Ich erwarte auch eine klare Sprache! Wer - wo auch immer - führt, muß den Menschen, die ihm anvertraut sind, reinen Wein einschenken, auch wenn das unangenehm ist. Ich mache den 35jährigen Kohlekumpeln, die in Bonn für den Erhalt ihres Arbeitsplatzes demonstriert haben, keinen Vorwurf. Ich weiß, daß den Bergleuten jetzt viel abverlangt wird, und ich fühle mit ihnen. Mein Vorwurf gilt aber denjenigen, die vor zwanzig Jahren die damals 15jährigen ermutigt haben, diesen Beruf zu ergreifen, indem sie ihnen wider besseres Wissen erzählt haben, er habe uneingeschränkt eine Zukunft.
Die einfache Wahrheit ist heute doch: Niemand darf sich darauf einrichten, in seinem Leben nur einen Beruf zu haben. Ich rufe auf zu mehr Flexibilität! In der Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts werden wir alle lebenslang lernen, neue Techniken und Fertigkeiten erwerben und uns an den Gedanken gewöhnen müssen, später einmal in zwei, drei oder sogar vier verschiedenen Berufen zu arbeiten.
Das Problempanorama ließe sich beliebig vervollständigen. Aber ich habe vorhin gesagt, es fehlt uns nicht an Analysen, sondern am Handeln. Deshalb will ich mich jetzt der Frage zuwenden: Was muß geschehen?
Ich meine, wir brauchen einen neuen Gesellschaftsvertrag zugunsten der Zukunft. Alle, wirklich alle, Besitzstände müssen auf den Prüfstand. Alle müssen sich bewegen. Wer nur etwas vom anderen fordert - je nach Standort von den Arbeitgebern, den Gewerkschaften, dem Staat, den Parteien, der Regierung, der Opposition -, der bewegt gar nichts.
Zuerst müssen wir uns darüber klarwerden, in welcher Gesellschaft wir im 21. Jahrhundert leben wollen. Wir brauchen wieder eine Vision. Visionen sind nicht anderes als Strategien des Handelns. Das ist es, was sie von Utopien unterscheidet.
Visionen können ungeahnte Kräfte mobilisieren: Ich erinnere nur an die Vitalität des "American Dream", an die Vision der Perestroika, an die Kraft der Freiheitsidee im Herbst 1989 in Deutschland.
Auch die Westdeutschen hatten einmal eine Vision, die sie aus den Trümmern des Zweiten Weltkrieges emporführte: die Vision der sozialen Marktwirtschaft, die Wohlstand für alle versprach und dieses Versprechen gehalten hat. Die Vision, das im Krieg geschlagene und moralisch diskreditierte Deutschland in die Gemeinschaft demokratischer Staaten und nach Europa zurückzuführen. Und schließlich die Vision der Vereinigung des geteilten Deutschlands.
Niemand darf von mir Patentrezepte erwarten. Aber wenn ich versuche, mir Deutschland im Jahre 2020 vorzustellen, dann denke ich an ein Land, das sich von dem heutigen doch wesentlich unterscheidet.
Erstens: Wäre es nicht ein Ziel, eine Gesellschaft der Selbständigkeit anzustreben, in der der einzelne mehr Verantwortung für sich und andere trägt und in der er das nicht als Last, sondern als Chance begreift? Eine Gesellschaft, in der nicht alles vorgegeben ist, die Spielräume öffnet, in der auch dem, der Fehler macht, eine zweite Chance eingeräumt wird. Eine Gesellschaft, in der Freiheit der zentrale Wert ist und in der Freiheit sich nicht nur durch die Chance auf materielle Zuwächse begründet.
Zweitens: Wäre es nicht ein Ziel, eine Gesellschaft anzustreben, die nicht mehr wie heute strikt in ArbeitsplatzBesitzer und Menschen ohne Arbeit geteilt ist? Arbeit wird in Zukunft anders sein als heute: Neue, wissensgestützte Berufe werden unqualifizierte Jobs verdrängen, und es wird mehr Dienstleistungen als industrielle Arbeit geben. Statt Lebens-Arbeitsplätzen wird es mehr Mobilität und mehr Flexibilität geben, auch zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Arbeit dient nicht nur dem Lebensunterhalt, Arbeit kann und soll auch Freude machen und Stolz vermitteln. Niemandem, der sich mit voller Kraft engagiert, darf deswegen ein schlechtes Gewissen eingeredet werden.
Drittens: Wäre es nicht ein Ziel, eine Gesellschaft der Solidarität anzustreben - nicht im Sinne der Maximierung von Sozialtransfers, sondern im Vertrauen auf das verantwortliche Handeln jedes einzelnen für sich selbst und die Gemeinschaft? Solidarität ist Hilfe für den, dem die Kraft fehlt, für sich selbst einzustehen. Solidarität heißt aber auch Rücksicht auf die kommenden Generationen.
Viertens: Ich erwarte eine Informations- und Wissensgesellschaft. Das ist die Vision einer Gesellschaft, die jedem die Chance einräumt, an der Wissensrevolution unserer Zeit teilzuhaben. Das heißt: bereit zum lebenslangen Lernen zu sein, den Willen zu haben, im weltweiten Wettbewerb um Wissen in der ersten Liga mitzuspielen. Dazu gehört vor allem auch ein aufgeklärter Umgang mit Technik.
Fünftens: Ich wünsche mir eine Gesellschaft, die die europäische Einigung nicht als Technik des Zusammenlebens versteht, sondern die Europa als Teil ihrer politischen und kulturellen Identität empfindet und bereit ist, diese in der bunter werdenden Welt zu bewahren und zu bewähren.
Sechstens: Ich wünsche mir deshalb eine Gesellschaft, die die internationale Verantwortung Deutschlands annimmt und sich für eine Weltordnung einsetzt, in der die Unterschiedlichkeit der Kulturen nicht neue Konflikt- und Kampflinien schafft. Auch im Inneren muß eine offene Gesellschaft entstehen, eine Gesellschaft der Toleranz, die das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Kulturen möglich macht.
Wir brauchen aber nicht nur den Mut zu solchen Visionen, wir brauchen auch die Kraft und die Bereitschaft, sie zu verwirklichen. Ich rufe auf zur inneren Erneuerung! Vor uns liegt ein langer Weg der Reformen. Wir müssen heute mit dem ersten Schritt beginnen. Da sind zunächst die Reformen, über die wir schon viel zu lange reden:
- Beispiel Lohnnebenkosten: Daß die Lohnnebenkosten zu hoch sind, weiß mittlerweile wirklich jeder. Wann endlich werden die Kosten der Arbeit von versicherungsfremden Leistungen befreit?
- Beispiel Arbeitsmarkt: Wann finden Arbeitgeber und Gewerkschaften endlich die Kraft zu Abschlüssen, die Neueinstellungen möglich machen?
- Beispiel Subventionen: Statt Subventionen mutig zu kürzen, fallen uns immer wieder neue Vorschläge für staatliche Leistungen ein. Dabei hat manches Förderprogramm längst seinen guten Sinn verloren.
- Beispiel öffentliche Verwaltung: Ich frage mich manchmal, ob mancherorts bei öffentlichen Baumaßnahmen ein Wettlauf zwischen Ausbau und Rückbau stattfindet. Und überall gilt: die vielen kleinen Fälle öffentlicher Verschwendung ergeben zusammen Milliardensummen. Wo bleibt ein modernes Haushaltsrecht, das Sparen belohnt und Verschwendung bestraft?
- Beispiel Deregulierung: Ist es wirklich ein Naturgesetz, daß man in Deutschland bis zu 19 Behörden fragen muß, wenn man einen Produktionsbetrieb errichten will, obwohl der neue Arbeitsplätze schafft?
- Beispiel Arbeitslosigkeit bei den Niedriglohngruppen: Alle wissen heute, daß Löhne und Sozialhilfeleistungen so weit auseinanderliegen müssen, daß es sich für den einzelnen auch lohnt zu arbeiten. Dabei geht es mir nicht um die vielzitierte Mutter mit vier oder fünf Kindern. Aber warum ist es so schwierig, das Lohnabstandsgebot für die durchzusetzen, die wirklich arbeiten könnten? Und sei es auch um den Preis öffentlicher Lohnzuschüsse, die immer noch billiger wären als die vollen Sozialhilfeleistungen?
- Beispiel Krankenversicherung: Warum finanzieren die Krankenkassen immer noch Erholungskuren, während auf der anderen Seite das Geld für lebenserhaltende Operationen knapp wird? Ständig steigende Beiträge sind hier gewiß kein Ausweg, denn sie gefährden Arbeitsplätze.
- Und schließlich Beispiel Steuerreform: Dazu fällt mir nach der Entwicklung der letzten Tage überhaupt nichts mehr ein.
Der Weg in die von mir skizzierte Gesellschaft beginnt mit dem Nachholen all der Reformen, die bislang liegengeblieben sind. Wir müssen endlich die Reform-Hausaufgaben machen, über die wir schon so lange reden. Wir müssen aber ebenso schon heute den Blick darüber hinaus richten. Die angesprochenen Reformen werden für sich allein genommen nicht ausreichen, die Zukunft zu gewinnen.
Ich möchte dazu etwas grundsätzlicher werden. Wir erleben heute, daß dem Menschen ein Zuwachs an Sicherheit durch staatliche Vorsorge oft wichtiger ist als der damit einhergehende Verlust an Freiheit. Wir fordern Freiheit - aber was ist, wenn die Bürger ihre Freiheit als kalt empfinden und statt dessen auf die Geborgenheit staatlicher Für- und Vorsorge setzen?
Diese Frage läßt sich nicht mit dem Federstrich eines Gesetzestextes beantworten. Wir müssen also tiefer ansetzen: bei unserer Jugend, bei dem, was wir mit unserem Erziehungs- und Bildungssystem vermitteln. Wir müssen unsere Jugend auf die Freiheit vorbereiten, sie fähig machen, mit ihr umzugehen. Ich ermutige zur Selbstverantwortung, damit unsere jungen Menschen Freiheit als Gewinn und nicht als Last empfinden. Freiheit ist das Schwungrad für Dynamik und Veränderung. Wenn es uns gelingt, das zu vermitteln, haben wir den Schlüssel der Zukunft in der Hand. Ich bin überzeugt, daß die Idee der Freiheit die Kraftquelle ist, nach der wir suchen, und die uns helfen wird, den Modernisierungsstau zu überwinden und unsere Wirtschaft und Gesellschaft zu dynamisieren. Deswegen gebe ich der Reform unseres Bildungssystems so hohe Priorität: Bildung muß das Mega-Thema unserer Gesellschaft werden. Wir brauchen einen neuen Aufbruch in der Bildungspolitik, um in der kommenden Wissensgesellschaft bestehen zu können.
Das ist nicht primär eine Frage des Geldes. Zuerst brauchen wir weniger Selbstgefälligkeit: Wie kommt es, daß die leistungsfähigsten Nationen in der Welt es schaffen, ihre Kinder die Schulen mit 17 und die Hochschulen mit 24 abschließen zu lassen? Es sind - wohlgemerkt - gerade diese Länder, die auf dem Weltmarkt der Bildung am attraktivsten sind. Warum soll nicht auch in Deutschland ein Abitur in zwölf Jahren zu machen sein? Für mich persönlich sind die Jahre, die unseren jungen Leuten bisher verlorengehen, gestohlene Lebenszeit.
Auch die Ausbildungsinhalte gehören auf den Prüfstand. Es geht in Zukunft noch weniger als bisher nur um die Vermittlung von Wissen. Mit dem Tempo der Informationsexplosion kann der einzelne sowieso nicht mehr Schritt halten. Also müssen wir die Menschen lehren, mit diesem Wissen umzugehen. Wissen vermehrt sich immer schneller, zugleich veraltet es in noch nie dagewesenem Tempo. Wir kommen gar nicht darum herum, lebenslang zu lernen. Es kann nicht das Ziel universitärer Bildung sein, mit dreißig einen Doktortitel zu haben, dabei aber keine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt. Unsere Hochschulen brauchen deshalb mehr Selbstverwaltung. Ich ermutige zu mehr Wettbewerb und zu mehr Spitzenleistungen. Ich weiß, daß solche Vorschläge schon lange auf dem Tisch liegen. Auch hier ist das Tempo der Umsetzung das Problem. Wir dürfen nicht so tun, als könnten wir die Schul- und Hochschulreform den Spezialisten überlassen. Es geht um eine zentrale Aufgabe. Sie betrifft die Zukunft unserer Gesellschaft insgesamt.
Wenn ich von der Zukunft unserer Gesellschaft rede, spreche ich - wie schon gesagt - zwangsläufig von der Jugend. Unsere Jugend ist das größte Kapital, das wir haben. Wir müssen ihr nur Perspektiven geben. Dazu gehört nicht nur, daß wir keine Schuldenpolitik zu ihren Lasten betreiben, mit der wir ihr alle Spielräume verbauen.
Ich frage weiter: Warum gibt es so wenige Angebote für Jugendliche zu einem freiwilligen sozialen Engagement? Es gibt sie doch wieder, die Jugendlichen, die dazu bereit sind. Ich erlebe es in persönlichen Begegnungen, und ich sehe durch die Umfragen bestätigt, daß wir längst eine Trendwende in diesem Land haben: Die Pflichtwerte gewinnen wieder an Bedeutung gegenüber dem, was die Soziologen so schön die "Selbstverwirklichungswerte" nennen. Man könnte vermutlich auch einfach sagen: Egoismus allein ist nicht mehr "in", gerade unsere Jugend ist wieder bereit, sich für die Gemeinschaft einzusetzen. Wir müssen sie dann aber auch gewähren lassen, ihr Spielräume geben, Erfahrungen jenseits der materiellen Werte zu gewinnen. Wir müssen unserer Jugend zu mehr Selbständigkeit, zu mehr Bindungsfähigkeit, zu mehr Unternehmensgeist und mehr Verantwortungsbereitschaft Mut machen. Wir sollten ihr sagen: Ihr müßt etwas leisten, sonst fallt ihr zurück. Aber: Ihr könnt auch etwas leisten. Es gibt genug Aufgaben in unserer Gesellschaft, an denen junge Menschen ihre Verantwortung für sich und das Ganze beweisen können.
Wir Älteren aber müssen uns die Frage stellen: Was leben wir den jungen Menschen vor? Welche Leitbilder geben wir ihnen? Das Leitbild des ewig irritierten, ewig verzweifelten Versorgungsbürgers kann es doch wahrhaftig nicht sein! Die Jungen beobachten uns Alte sehr genau. Wirklich überzeugen werden wir sie nur, wenn wir ihnen unsere eigene Verantwortung glaubhaft vorleben.
Und schließlich: Wir müssen von dem hohen Roß herunter, daß Lösungen für unsere Probleme nur in Deutschland gefunden werden können. Der Blick auf den eigenen Bauchnabel verrät nur wenig Neues. Jeder weiß, daß wir eine lernende Gesellschaft sein müssen. Also müssen wir Teil einer lernenden Weltgesellschaft werden, einer Gesellschaft, die rund um den Globus nach den besten Ideen, den besten Lösungen sucht. Die Globalisierung hat nicht nur einen Weltmarkt für Güter und Kapital, sondern auch einen Weltmarkt der Ideen geschaffen, und dieser Markt steht auch uns offen. Die meisten traditionellen Industriestaaten standen oder stehen vor ähnlichen Problemen wie wir. Eine ganze Reihe von ihnen hat aber bewiesen, daß diese Probleme lösbar sind. - In Neuseeland hat man aus alten, ineffizienten Strukturen eine moderne Kommunalverwaltung aufgebaut. - In Schweden hat man den überbordenden Sozialstaat erfolgreich modernisiert. - In Holland hat man im Konsens mit den Tarifpartnern die Arbeitsbeziehungen flexibler gemacht. Folge: die Arbeitslosigkeit ist in Holland drastisch gesunken. - In den USA hat eine gezielte Strategie neuartiges Wachstum ausgelöst, das Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen hat. Ich weiß, hier kommt gleich das Argument, daß nicht alles, was in Amerika geschieht, auf uns übertragbar ist und daß wir amerikanische Verhältnisse bei uns auch gar nicht wollen.
Das ist sicher richtig, aber es darf uns nicht hindern, einmal genauer hinzuschauen. Ich fordere auf, von anderen zu lernen, nicht sie zu kopieren! Tatsache ist doch: die Mehrheit dieser Arbeitsplätze ist in Zukunftsindustrien und Zukunftsdienstleistungen wie Telekommunikation, Computer, Software, Finanzdienstleistungen entstanden. Das sind keine Billigjobs. Die Amerikaner haben nicht versucht, den Wandel aufzuhalten, sondern sie haben sich an die Spitze des Wandels gesetzt: durch Förderung von Forschung und Technologie, durch Deregulierung, durch den Aufbau einer Infrastruktur für das Informationszeitalter. Sie haben das Potential der Durchbrüche in Mikroelektronik und Biotechnologie zur Schaffung neuer Produkte genutzt, aus denen ganz neue Industrien entstanden sind. Ein neues, wissensgestütztes Wachstum wurde zur Quelle für Millionen neuer Arbeitsplätze.
Auch wir müssen rein in die Zukunftstechnologien, rein in die Biotechnik, die Informationstechnologie. Ein großes, globales Rennen hat begonnen: die Weltmärkte werden neu verteilt, ebenso die Chancen auf Wohlstand im 21. Jahrhundert. Wir müssen jetzt eine Aufholjagd starten, bei der wir uns Technologie- und Leistungsfeindlichkeit einfach nicht leisten können.
Die Aufgaben, vor denen wir stehen, sind gewaltig. Die Menschen fühlen sich durch die Fülle der gleichzeitig notwendigen Veränderungen überlastet. Das ist verständlich, denn der Nachholbedarf an Reformen hat sich bei uns geradezu aufgestaut. Es wird Kraft und Anstrengung kosten, die Erneuerung voranzutreiben, und es ist bereits viel Zeit verlorengegangen. Niemand darf aber vergessen: In hochtechnisierten Gesellschaften ist permanente Innovation eine Daueraufgabe! Die Welt ist im Aufbruch, sie wartet nicht auf Deutschland. Aber es ist auch noch nicht zu spät. Durch Deutschland muß ein Ruck gehen. Wir müssen Abschied nehmen von liebgewordenen Besitzständen. Alle sind angesprochen, alle müssen Opfer bringen, alle müssen mitmachen: - die Arbeitgeber, indem sie Kosten nicht nur durch Entlassungen senken, - die Arbeitnehmer, indem sie Arbeitszeit und -löhne mit der Lage ihrer Betriebe in Einklang bringen, - die Gewerkschaften, indem sie betriebsnahe Tarifabschlüsse und flexiblere Arbeitsbeziehungen ermöglichen, - Bundestag und Bundesrat, indem sie die großen Reformprojekte jetzt rasch voranbringen, - die Interessengruppen in unserem Land, indem sie nicht zu Lasten des Gemeininteresses wirken.
Die Bürger erwarten, daß jetzt gehandelt wird. Wenn alle die vor uns liegenden Aufgaben als große, gemeinschaftliche Herausforderung begreifen, werden wir es schaffen. Am Ende profitieren wir alle davon. Gewiß: Vor uns liegen einige schwere Jahre. Aber wir haben auch gewaltige Chancen: Wir haben mit die beste Infrastruktur in der Welt, wir haben gut ausgebildete Menschen. Wir haben Know-how, wir haben Kapital, wir haben einen großen Markt. Wir haben im weltweiten Vergleich immer noch ein nahezu einmaliges Maß an sozialer Sicherheit, an Freiheit und Gerechtigkeit. Unsere Rechtsordnung, unsere soziale Marktwirtschaft haben sich andere Länder als "Modell Deutschland" zum Vorbild genommen. Und vor allem: Überall in der Welt - nur nicht bei uns selbst - ist man überzeugt, daß "die Deutschen" es schaffen werden.
John F. Kennedy hat einmal gesagt: Unsere Probleme sind von Menschen gemacht, darum können sie auch von Menschen gelöst werden. Ich sage: Das gilt auch für uns Deutsche. Und ich glaube daran, daß die Deutschen ihre Probleme werden lösen können. Ich glaube an ihre Tatkraft, ihren Gemeinschaftsgeist, ihre Fähigkeit, Visionen zu verwirklichen. Wir haben es in unserer Geschichte immer wieder gesehen: Die Deutschen haben die Kraft und den Leistungswillen, sich am eigenen Schopf aus der Krise herauszuziehen - wenn sie es sich nur zutrauen.
Und wieder glaube ich an die jungen Leute. Natürlich kenne auch ich die Umfragen, die uns sagen, daß Teile unserer Jugend beginnen, an der Lebens- und Reformfähigkeit unseres "Systems" zu zweifeln. Ich sage ihnen aber: wenn ihr schon "dem System" nicht mehr traut, dann traut euch doch wenigstens selbst etwas zu!
Ich bin überzeugt: Wir können wieder eine Spitzenposition einnehmen, in Wissenschaft und Technik, bei der Erschließung neuer Märkte. Wir können eine Welle neuen Wachstums auslösen, das neue Arbeitsplätze schafft.
Das Ergebnis dieser Anstrengung wird eine Gesellschaft im Aufbruch sein, voller Zuversicht und Lebensfreude, eine Gesellschaft der Toleranz und des Engagements. Wenn wir alle Fesseln abstreifen, wenn wir unser Potential voll zum Einsatz bringen, dann können wir am Ende nicht nur die Arbeitslosigkeit halbieren, dann können wir sogar die Vollbeschäftigung zurückgewinnen. Warum sollte bei uns nicht möglich sein, was in Amerika und anderswo längst gelungen ist? Wir müssen jetzt an die Arbeit gehen. Ich rufe auf zu mehr Selbstverantwortung. Ich setze auf erneuerten Mut. Und ich vertraue auf unsere Gestaltungskraft. Glauben wir wieder an uns selber. Die besten Jahre liegen noch vor uns.

 

 

Nachrichten und Berichte

Schlaudt, Dr. med. Hans-Peter

Fallmanagement vereint Qualität und Wirtschaftlichkeit

in: Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 17 (25.04.1997), Seite A-1115
THEMEN DER ZEIT: Berichte

Die Frage der Effizienz und Effektivität belastet das deutsche Gesundheitssystem. Eine entscheidende Rolle spielt die Verzahnung von ambulanter und stationärer Behandlung. Immense Ressourcen lassen sich durch eine verbesserte Abstimmung vieler unkoordinierter Bereiche der medizinischen Versorgung erschließen.


Das Pathway-Management-System (PMS) überbrückt als Fallmanagementsystem die Kluft zwischen ambulanter und stationärer Versorgung unter Berücksichtigung von "Total Quality Management"-(TQM-) Prinzipien. Reihenfolge und Umfang von standardisierbaren, medizinischen, multidisziplinären Prozessen werden definiert und in Form von Behandlungsleitlinien dargestellt.
Neben der notwendigen Diagnostik und der richtigen Therapie müssen die erwarteten Ergebnisse und der zeitliche Ablauf prospektiv berücksichtigt werden.
Beispielhaft in Kürze der Inhalt des Pathway zur operativen Therapie der Struma durch subtotale Thyreoidektomie bds.: An erster Stelle steht die Wahl der OP-Technik und die Planung durchzuführender Untersuchungen (Röntgen-Thorax, Trachea-Zielaufnahme, HNO-Konsil, Sono, Labor), auch der zeitliche Ablauf wird geplant (Termine). In der Folge werden Pflegestatus, Medikation und weitere Kontrolluntersuchungen sowie der Entlassungszeitpunkt festgelegt.
Dies erfolgt auch heute schon, allerdings nur in den Köpfen erfahrener Ärzte, und dient nicht prospektiv als Leitlinie und Organisationsmittel. Die erwarteten Behandlungsfortschritte sind in den seltensten Fällen aufgeschrieben, wodurch auch Kontrolle und Dokumentation von Heilungsverzögerungen nur unvollständig erfolgen. Spontanentscheidungen zur weiteren Therapie sind die Regel und nicht die Ausnahme (Anordnung von Untersuchungen, Entlassung/Verlegung). Sie führen immer zu einem unkalkulierbaren und wenig planbaren Therapieverlauf und vermeidbaren Kosten.
Durch Definition und Standardisierung werden Erkrankungen und Therapieabläufe planbar, die Behandlungsqualität verbessert sich, und der Patient profitiert von einem reibungsloseren und kürzeren Ablauf. Die Erfordernisse des Einzelfalles bleiben aber der Kompetenz und Erfahrung des Behandelnden überlassen.
Alle Mitarbeiter müssen die dazu notwendigen Maßnahmen und Abläufe kennen und beachten. Eine zur richtigen Zeit, am richtigen Ort und von dem richtigen Arzt (Spezialisten) durchgeführte Behandlung ist Basis für eine wirtschaftliche und qualitativ hochwertige Patientenversorgung.
Die Bereitschaft zur Kommunikation und die Darstellung fallbezogener Behandlungsstandards schaffen Transparenz und eine verbesserte ethische und rechtliche Absicherung der Therapieentscheidung durch verbesserte Dokumentation.
Die darstellbaren Kosten fördern Transparenz und Planbarkeit zukünftiger Ressourcen. Prospektiv lassen sich so die Kosten einzelner Krankheitsbilder kalkulieren und der ökonomische und medizinische Fortschritt neuer Therapieformen darstellen.
Die positiven Effekte des Pathway-Management-Systems resultieren aus der Verknüpfung von ökonomischeffizienzorientierten und medizinisch qualitativen Zielen sowie eines interdisziplinären Patientenmanagements.


Dr. med. Hans-Peter Schlaudt
Eisenacher Straße 103
10781 Berlin

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kr

Mehr sozialstaatliche Umverteilung im Gesundheitswesen

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 7 (13.02.1998), Seite A-326
POLITIK: Nachrichten - Aus Bund und Ländern

KIEL. Eine dem Sozialstaatsprinzip entsprechende Umverteilung im Gesundheitswesen hat der Sozialrechtler Prof. Dr. jur. Hans F. Zacher gefordert. Zwar seien Gesundheits- und Sozialpolitik in der Vergangenheit - bei guter Finanzlage - erfolgreich gewesen, sagte der Direktor des Max-Planck-Institutes für ausländisches und internationales Sozialrecht bei der ersten Tagung des neugegründeten Kieler Universitätsinstituts für Sozialrecht und Sozialpolitik in Europa. Nunmehr müßten die sozialen Unausgewogenheiten bei Leistungserbringern wie Empfängern durch den Einbau von solidaritätsfördernden Elementen korrigiert werden. Das könne zum Beispiel eine andere Beitragsbemessungsgrenze in der GKV sein oder ein Anreizsystem für vernünftigeres Verhalten der Versicherten. Zacher sieht jedoch auch Nachholbedarf auf seiten der Leistungserbringer: "Ich denke an die extrem unterschiedlichen Bedingungen, unter denen Ärzte in diesem System verdienen: von nichts bis exorbitant."
kr

 

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Stobrawa, Franz F.

Leitlinien in der Medizin: Schluß mit der Inflation

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 46 (13.11.1998), Seite A-2906
THEMEN DER ZEIT: Berichte

Zunehmend werden durch medizinisch-wissenschaftliche Fachgesellschaften medizinische Leitlinien erstellt.
Bei einer Fachtagung in Bremen kritisierte Prof. Dr. med. Friedrich-Wilhelm Kolkmann, Stuttgart, die unkoordinierte Überproduktion solcher Orientierungshilfen.
Die Diskussion um die Bedeutung von Leitlinien ist nicht ohne Grund aktuell, denn es geht um Kostendämpfung und Ausgabensenkung, um Prioritätensetzung im Gesundheitswesen vor dem Hintergrund knapper werdender Ressourcen. Anläßlich einer Tagung in Bremen setzte sich Prof. Dr. med. Friedrich-Wilhelm Kolkmann, Stuttgart, im Vorstand der Bundesärztekammer für Fragen der Qualitätssicherung zuständig, kritisch mit der Leitlinien-Inflation auseinander, mit der sich die Ärzteschaft konfrontiert sieht.
Er zeigte Einschränkungen auf, die für die Berufsausübung des Arztes entstehen können:
- Behinderungen des Fortschritts
- Beeinträchtigung des Arzt-Patienten-Verhältnisses
- die Gefahr eines immer dichter geknüpften bürokratischen Vorschriftennetzes und
- die Gefahr weiterer Förderung der Defensivmedizin.
Die Aktivitäten beurteilte Kolkmann so:
- Die aktuelle Entwicklung von Leitlinien geht weit am Bedarf vorbei. Zielrichtung, Bedarfsanalyse und Prioritätensetzung fehlen weitestgehend.
- Die ärztlichen Körperschaften haben Leitlinien und Richtlinien in der Vergangenheit bedarfsgerecht und problembezogen, aber vorsichtig eingesetzt.
- Der Einsatz von Richtlinien, Leitlinien oder Empfehlungen ist in Deutschland auf dem Gebiet der Medizin nichts Neues.
- Leitlinien ersetzen weder die externe, vergleichende Qualitätssicherung noch das interne Qualitätsmanagement.
- Effektiver als ein "flächendeckendes" Leitlinienkonzept sind funktionierende Informations- und Kommunikationssysteme.
Klare Ziele fehlen
Kolkmann verwies darauf, daß die Entwicklung von medizinischen Leitlinien, die insbesondere von
den wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften forciert wird, auch deshalb fragwürdig ist, weil es zur
Zeit keine schlüssigen Beweise dafür gebe, daß in der deutschen Medizin nicht nach der "lex artis" verfahren werde. Die Reaktion auf die von verschiedenen Seiten vorgestellten Maßnahmen ist multivalent und schwankt von vollständiger Ablehnung bis hin zu euphorischer Zustimmung. Die These, "daß die zentrale Produktion von Leitlinien die Qualität der Versorgung tatsächlich verbessert (habe)" (siehe Deutsches Ärzteblatt, Heft 33/1997), ist bis heute nicht belegt. Zutreffend ist, daß die Evaluation von Leitlinien auch heute ein weitgehend unbeackertes Feld ist, oftmals weil ihre Zielsetzung nicht definiert ist. Zu den Zielen gehöre beispielsweise auch eine klare Abgrenzung zur ökonomischen Orientierung von Leitlinien, die Vermeidung des Unnötigen beziehungsweise Überflüssigen und die Gewährleistung dessen, was in der Diagnostik und der Therapie notwendig ist. Unangemessen ist es, durch Leitlinien Fragen der Überversorgung klären zu wollen und damit auch Rationalisierungsreserven zu benennen. Klar müsse sein, daß eine ernsthafte Störung des Arzt-PatientenVerhältnisses zu befürchten wäre, wenn die klinische und ärztliche Entscheidungsfreiheit durch ökonomische Erwägungen eingeschränkt wird. Kolkmann: "Eine Normierung ärztlicher Erfahrung und individueller Patientenpräferenzen ist durch Leitlinien unmöglich." Gründe für die "Leitlinienhyperplasie": Offenbar sind die Nachteile einer inflationären Leitlinienentwicklung bisher nicht durch eine Bedarfs- und Problemanalyse möglicher gesundheitspolitischer Fehlentwicklungen geklärt worden. Dies warf Kolkmann auch der Ärzteschaft vor, die sich "in vorauseilendem Gehorsam" undifferenzierten Vorwürfen kritiklos gebeugt und sich in das Leitlinienentwicklungs-Abenteuer gestürzt habe, ohne zu bedenken, mit welchem Aufwand, Nutzen und Schwergewicht sinnvollerweise Ressourcen eingesetzt werden müssen. Wozu also Leitlinien? Um die lex artis medicinae zu definieren? Sicherlich nicht, denn dann hätte die wissenschaftliche Medizin versagt! Um Sorge zu tragen, daß die notwendigen Sorgfaltsstandards eingehalten werden? Regelwidrig sich verhaltenden Ärzten kommt man aber nicht mit Leitlinien allein bei. Dies ist Aufgabe der ordentlichen Gerichte.
Hilfsinstrumente fehlen
Es sei legitim, wurde bei der Veranstaltung betont, nach Steuerungs- und Hilfsinstrumenten zu suchen, um die Gesamtheit von Kenntnissen in der Medizin überhaupt noch überblicken zu können. Hier seien allerdings erfolgversprechende Entwicklungen im Gange. Am Beispiel der Cochrane Collaboration mit der weltweiten Sammlung von Studien und deren Aufarbeitung und Bewertung werde ein wesentlicher Beitrag zur Strukturqualität in der Medizin geleistet. Aber auch dies sei kein Allheilmittel, denn es entstehe die Frage, wie das Wissen auf den Einzelfall bezogen werden kann. Die Komplexität des Menschen, der Erkrankung ebenso wie die sich dynamisch entwickelnden Bedingungen, aber auch die Komplexität des Therapieverlaufs können nur zu einem relativ geringen Prozentsatz durch die "Modellsituation" im Rahmen von Studien aufgefangen werden. Die ärztliche Intuition, die langjährige Erfahrung und Persönlichkeit des Arztes sind entscheidend für den Heilungsprozeß. Hinzu komme, daß durch die starre Formulierung von Leitlinien auch einem wesentlichen Problem, nämlich der Aktualität des Wissens in der Entscheidungssituation, nicht Rechnung getragen werden kann, bedenkt man die rasante Entwicklung medizinischer Wissenszuwächse.
Aber auch hier gibt es Ansätze und Möglichkeiten, das durch Evidenz gestützte Wissen der praktischen Medizin zugänglich zu machen. So habe der englische Arzt David L. Sackett mit seiner Methode der evidenzgestützten Medizin einen Beitrag geleistet, um den "gewissenhaften, ausdrücklichen und vernünftigen" Gebrauch der gegenwärtigen besten wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen der medizinischen Versorgung von Patienten sicherzustellen. Voraussetzung ist allerdings eine funktionsfähige Informationsstruktur, die dem Arzt bei seiner Entscheidungsfindung nützlich sein kann. Dialog statt starrer Leitlinien
Voraussetzung ist die Interaktion, um Dialog, Erklärungskomponenten, Wissensveränderung und Wissensbasis darzulegen, um so dem Arzt eine Bewertung der Risiken des Vorschlages für die jeweilige Diagnose und Therapie zu ermöglichen. Die Informations- und Kommunikationswege und ihre Realisierung im Zuge der Vernetzung auch im Rahmen neuer Medien liefern Expertenwissen zeit- und problemgerechter als starre, globale Leitlinien. Einen gewissen Stellenwert haben Leitlinien jedoch im Rahmen der internen Qualitätssicherung, die unter Selbstverantwortung auf Verhaltensänderungen der Beteiligten zielt. Sie sollen dem Arzt im Einzelfall helfen, sein Handeln zu optimieren. Spezifische Leitlinien können das interne Qualitätsmanagement nicht ersetzen, sondern sind vielmehr dessen Bestandteil. Sie dienen der Ablauforganisation und Prozeßoptimierung, also der Sicherung der Prozeßqualität "vor Ort".
Durch Konzepte der aktuellen Wissensvermittlung, durch moderne Kommunikationsmittel werden dem Arzt Entscheidungsspielräume erhalten gegenüber dem Diktat starrer und inflexibler Leitlinien für alles und
jedes. Dem "Leitlinien-Wirrwarr" und der inflatorischen Entwicklung sowie ihrer ungezielten "Dissimination" wird man nur dadurch begegnen können, daß eine steuernde Funktion durch die Spitzenorganisationen der Ärzteschaft - Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung - erfolgt, um zu vermeiden, daß vermehrt rechtspolitische und rechts-praktische Probleme aufgeworfen werden. Erster Schritt in diese Richtung ist die Clearingstelle für Leitlinien in Köln, die von den Körperschaften der Ärzteschaft mit Unterstützung der Krankenkassen ins Leben gerufen wurde. Franz F. Stobrawa, Köln

 

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Glöser, Dr. Sabine

Kassenärzte warnen vor Rationierungschaos bei Arzneimitteln

in: Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 19 (14.05.1999), Seite A-1256
POLITIK: Nachrichten - Aus Bund und Ländern

KÖLN. Der Anstieg der Arzneimittelausgaben in der Gesetzlichen Krankenversicherung hat sich im März mit bundesweit 16,9 Prozent nochmals beschleunigt. Nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) beträgt der Ausgabenzuwachs im ersten Quartal dieses Jahres 14,2 Prozent in den alten und 14,9 Prozent in den neuen Bundesländern. Es zeige sich bereits jetzt, daß die von der neuen Bundesregierung wiedereingeführten Budgets viel zu niedrig festgesetzt worden seien, sagte der Erste Vorsitzende der KBV, Dr. med. Winfried Schorre. In der zweiten Jahreshälfte sei ein Rationierungschaos zu erwarten. Als besonders dramatisch bezeichnete er die Lage in den neuen Bundesländern. Halte der Trend an, seien die Budgets dort Ende September erschöpft.

Die KBV geht davon aus, daß das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit der Versorgungsbudgets feststellen wird. Schorre forderte Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer auf, den "Irrweg planwirtschaftlicher Gesundheitspolitik" zu verlassen. Sonst sei der Abstieg der Gesetzlichen Krankenversicherung in eine Versorgung zweiter Klasse nicht mehr aufzuhalten. SG

Erwähnugen von Triage

Heidbüchel, Dr. med. Ulrich

Gesundheitspolitik: Wer soll entscheiden?

in: Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 4 (24.01.1997), Seite A-132 (Zu dem "Seite eins"-Beitrag "Blick zurück mit Wut" in Heft 51?52/1996:)
SPEKTRUM: Leserbriefe

Ihrem Artikel entnehmen wir, daß Sie offenbar die Meinung vertreten, in der Bundesrepublik Deutschland gäbe es de facto eine "klassenlose" Medizin. Mehr noch, Sie glauben, so müssen wir jedenfalls Ihrem Artikel entnehmen, die Triage bezüglich erstattungsfähiger medizinischer Leistungen (stillschweigend: vordergründig zu-nächst einmal, und dann vielleicht später auch in anderen Bereichen) im Bereich der gesetzlichen Sozialversicherung sei nicht der Ärzteschaft zu überlassen.
Offen bleibt in Ihrem Artikel - den wir mit erheblichen Irritationen gelesen haben (Beweis: wir haben Ihnen vorher noch nie geschrieben!) -, wer denn dann wieder einmal über das, was wir Ärztinnen und Ärzte zu tun und zu lassen haben, entscheiden soll . . .
Dr. med. Ulrich Heidbüchel, Emmeransstraße 3, 55116 Mainz

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Meyer, Rüdiger

Therapie der Pneumonie: Zuviel stationär und zuwenig ambulant

in: Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 10 (07.03.1997), Seite A-552
SPEKTRUM: Akut

Bei der Therapie einer Pneumonie haben viele niedergelassene Ärzte noch immer zu wenig Vertrauen in ihre Fähigkeiten. Statt die nötige Antibiotikatherapie selbst einzuleiten, überweisen sie die Patienten vorsichtshalber in die Klinik. Nach einer jetzt veröffentlichten amerikanischen Studie (N Engl J Med 336, 243-250, 1997) könnten 31 Prozent der derzeitigen stationären Behandlungen vermieden werden. Für weitere 19 Prozent der Patienten, die heute in der Regel mehrere Wochen zur Behandlung und Beobachtung in der Klinik bleiben, wäre eine stationäre Aufnahme von nur wenigen Tagen ausreichend. Voraussetzung dazu wäre aber, daß die primär behandelnden Ärzte die Prognose bei ihren Patienten richtig einschätzen. Michael J. Fine und Mitarbeiter der Universität Pittsburgh haben hierfür nach der Analyse von fast 15 000 Patientendaten ein einfach zu handhabendes zweistufiges Schema entworfen.

Allein durch Anamnese und klinische Untersuchung kann im ersten Schritt für viele Patienten die Notwendigkeit einer stationären Behandlung ausgeschlossen werden. Für die anderen wird in einem zweiten Schritt ein Score ermittelt, in den zusätzlich Röntgenthorax und die Ergebnisse der Laboruntersuchung einfließen. Auf diese Weise lassen sich etwa 70 Prozent der Pneumoniepatienten herausfiltern, bei denen die Sterbewahrscheinlichkeit weniger als ein Prozent beträgt und die deshalb guten Gewissens ambulant behandelt werden können. Fine hat das Schema anhand der Daten der Pneumonia-Patient-Outcome-Research-TeamStudie (PORT) validiert. Hier starben sieben von 1 575 Patienten, die nach dem Schema ambulant behandelt worden wären. Das Erstaunliche an der Studie ist, daß sie nicht die erste ihrer Art ist. Im Editorial (Seite 288289) werden drei weitere Untersuchungen zitiert, welche praktisch zu dem gleichen Ergebnis kommen.


Dennoch gibt es bisher (auch in den USA nicht) keine offizielle Empfehlung zur "Triage" der Pneumoniepatienten. Um eine Fehlentscheidung zu vermeiden, wird sich an dieser Situation vermutlich nichts ändern. Die Einführung der Antibiotikabehandlung hat zwar die Zahl der Todesfälle um zwei Drittel gesenkt. Die Pneumonie ist jedoch noch immer die sechsthäufigste Todesursache. Trotz Antibiotika und Intensivmedizin versterben über 10 Prozent der Patienten. Daß diese ein klares Risikoprofil haben, das sich bei der Erstuntersuchung leicht erstellen läßt, wird sich wohl erst durchsetzen, wenn die Algorithmen in einer prospektiven Studie untersucht werden. Dies wäre sinnvoll, weil somit unnötige Krankenhausaufenthalte und beträchtliche Kosten erspart werden könnten. Rüdiger Meyer

 

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Heinz, Thomas W.

Drogenschnelltests: Qual der Wahl bei einer Fülle von Produkten

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 49 (04.12.1998), Seite A-3118
POLITIK: Medizinreport

Nur wenige Tests eignen sich zum Screening, da allgemein gültige Kriterien zu Qualität und Nachweisgrenzen fehlen.
Drogenschnelltests anhand von Urinproben auf immunchromatographischer Basis werden in großem Umfang in verschiedenen Bereichen eingesetzt. So kann zum Beispiel die Polizei bei Verkehrskontrollen auf solche Testverfahren zurückgreifen. Andere Testverfahren, die im Verdachtsfall vor Ort den Konsum von Drogen abbilden sollen - basierend auf Schweißuntersuchungen oder der Pupillometrie -, sind in der Erprobungsphase.
Leider ist es für niedergelassene oder in Kliniken arbeitende Ärzte nicht immer leicht, das richtige Produkt aus der Fülle der Angebote der Drogenschnelltests herauszufinden. Bei fehlenden allgemein gültigen Kriterien zu Qualität und Nachweisgrenzen - es gibt zur Zeit keinen weltweit anerkannten Standard für immunchemische Suchtests - sind häufig lediglich Preisunterschiede offensichtliche Entscheidungskriterien. Herstellerangaben und Expertenempfehlungen, die sich zumeist an ehemaligen amerikanischen Kriterien (NIDA) orientieren, sind unterschiedlich. So liegen beispielsweise die Herstellerangaben für den Cut-off- oder Grenzwert bei THC (Wirkstoff in Haschisch und Marihuana) zwischen 10 und 50 ng/ml. Diese Bandbreite macht es insbesondere Ärzten, die in der Methadon-Substitution arbeiten, schwer, den aktuellen Beigebrauch zu kontrollieren. Bei einer Spanne von 10 bis 50 ng/ml kann im Extremfall selbst ein passiv Mitrauchender ein auf THC positives Testergebnis erbringen. In ähnlicher Weise kann sich die Problematik bei Opiatschnelltests auswirken: hier kann der Genuß größerer Mengen Backmohns zu falsch positiven Opiat-/Heroin-Testergebnissen führen. Aus diesem Grunde wird zur Zeit diskutiert, die Opiat-cut-off-Werte am Arbeitsplatz von 300 auf 2 000 ng/ml anzuheben. Beim Einsatz von nichtinstrumentellen Drogentests (NIDT) muß dem Anwender klar sein, wofür die Ergebnisse dienen sollen. Für juristisch verwertbare Ergebnisse kommt man an differenzierten Untersuchungen (zum Beispiel im Blut) weiterhin nicht vorbei. Bislang lagen keine fundierten Vergleichsstudien der erhältlichen Schnelltests vor. Im Auftrag des Administrative Office of the US-Courts wurde erstmals eine solche umfangreiche und unabhängige Studie zur Evaluation von nichtinstrumentellen Drogentests in Auftrag gegeben und von der Firma Duo Research lnc. veröffentlicht. Die vernehmliche Zielrichtung war die Anwendung von Schnelltests in der Arbeitsmedizin. In das Ergebnis flossen neben der Einhaltung der offiziellen amerikanischen Grenzwerte verschiedener Substanzen anhand der sogenannten SAMHSA-Kriterien (Substance Abuse and Mental Health Services Administration) außerdem die Spezifität, Sensitivität und Handhabung mit ein. Alle zu dem Zeitpunkt der Studie (1997) bekannten Anbieter wurden von Duo Research kontaktiert; fünfzehn nichtinstrumentelle Drogentests wurden in die Untersuchung aufgenommen. Als Referenz wurde ein instrumenteller Test (Behring Diagnostic’s ETS) verwendet. Darzustellen war, inwieweit die NIDT akkurate Ergebnisse erbringen, das heißt das Maß deren Diagnosesicherheit. Nichtinstrumentelle Drogentests weisen die Drogen beziehungsweise deren Metaboliten qualitativ nach. Bei den anwenderfreundlich aufgebauten Schnelltests fand sich eine breite Streuung hinsichtlich positiver, falschpositiver, negativer und falschnegativer Testergebnisse. Keiner der Tests erbrachte in dieser Studie den Idealwert; allerdings gab es unter den Anbietern deutliche Unterschiede, so daß für Verlaufs- oder Screeningbeobachtungen einige der Schnelltests mit einer guten Ergebnissicherheit einsetzbar sind (siehe Tabelle).
Eine anschauliche vergleichende Untersuchung zur Qualität von neun auf dem deutschen Markt erhältlichen Schnelltests für Benzodiazepine und Amphetamine (inklusive "Ecstasy") wurde im Rahmen der jüngsten Tagung der Gesellschaft für Rechtsmedizin vom Münchener Institut für Rechtsmedizin veröffentlicht. Die Auswahl fiel auf diese Substanzgruppen, da diese häufig in der analytischen Beurteilung Probleme verursachen. Die meisten der zur Zeit gängigen immunchemischen Schnelltests sind nicht in der Lage, niedrigdosierte und schnell metabolisierte Benzodiazepine nachzuweisen. Ergebnis: Die von den Herstellern der neun Schnelltests angegebenen Cut-off-Werte (300 µg/l für Benzodiazepine und 1 000 µg/l für Amphetamine) sind zumeist zuverlässig für die jeweilige Zielsubstanz, aber auch für Derivate und Metaboliten eingehalten worden. Einige der Tests lagen deutlich unterhalb dieser Vorgaben - das heißt, diese sind empfindlicher. Bei den Amphetamintests ist vereinzelt mit falschpositiven Befunden durch Schnupfenmittel und Eiweißabbauprodukte zu rechnen.
Beide Untersuchungen führen zu dem Ergebnis, daß die Auswahl des jeweilig adäquaten Testverfahrens sehr stark von der Fragestellung abhängt: Liegt die Priorität bei einem Schnelltest mit breitem Spektrum oder bei einer hohen Sensitivität?
Die Europäische Union hat kürzlich eine Studie in Auftrag gegeben, die analog zur Duo-Research-Untersuchung die gängigen Drogenschnelltests hinsichtlich ihrer Einsatzfähigkeit am Arbeitsplatz testen soll. Mit Ergebnissen ist in etwa zwei Jahren zu rechnen. Die hier vorgestellte Studie der Firma Duo Research soll in diesem Jahr unter anderem für die SAMHSA fortgesetzt beziehungsweise aktualisiert werden. Ergebnisse hierzu liegen noch nicht vor.
Um eine weitestmöglich gute Ergebnisqualität mit den NIDT zu erreichen, sei auf die Durchführungsempfehlungen von Duo Research verwiesen:
- Unbedingt sind die Gebrauchsanweisungen der einzelnen Untersuchungsschritte durchzulesen und einzuhalten. - Soweit möglich, sollte ein Mitarbeiter die Probe abnehmen und ein zweiter dann den Test außerhalb des Einflußbereiches des Getesteten durchführen. Derjenige, der den Test abliest, sollte dies regelmäßig tun, um Vertrautheit und Routine in Durchführung und Bewertung zu erreichen.
- Die Probe sollte vor dem Test gesplittet werden, um eine notwendige Nachtestung vornehmen zu können.
- Die Archivierungsmöglichkeiten der Testergebnisse sind noch unzureichend. Vorschläge der Hersteller, den Teststreifen zu fotokopieren, erbringen in der Regel keine zufriedenstellenden Ergebnisse. In Einzelfällen konnte mit Polaroidaufnahmen eine befriedigende Möglichkeit gefunden werden. Thomas W. Heinz


Der Autor ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie.


Tabelle Übersicht der Schnelltests für bestimmte Drogen
Untersuchte Droge Einzel-Schnelltest Kombi-Schnelltest
1. Amphetamine Mahsan-AMP-S Mahsan-Kombi/DOA 4
PharmScreen First Check
TesTcup
Triage
2. Kokain Mahsan-COC-S Mahsan-Kombi/DOA 4
First Check
3. Opiate Mahsan-MOP/OPI-S TesTcup
Verdict Triage
Mahsan-Kombi/DOA 4
First Check
QuickScreen
4. THC PharmScreen First Check
Mahsan-THC-S Mahsan-Kombi/DOA
QuickScreen
5. Phencyclidin PharmScreen Triage
First Check Single
Verdict
Gesamturteil für Kombi- Mahsan-Kombi/DOA 4
tests der oben genannten TesTcup
Substanzen 1-4 First Check
QuickScreen