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4.2.1. Religiöse und konfessionelle Identität

Wir leben hier in Deutschland in einer säkularen Gesellschaft, in der Religion eine Privatsache ist und in der sich Glaubensgemeinschaften, von der historisch bedingten Sonderrolle der Juden einmal abgesehen, im wesentlichen aus der Öffentlichkeit heraushalten bzw. herausgehalten werden. Auch wenn gerade die Kirchen ihre schwindende öffentliche Bedeutung beklagen, so wirken sie doch in aller Regel nicht in die Parteipolitik hinein und wenn sie sich öffentlich zu Wort melden, geschieht dies mit ausgewogenen[203] Verlautbarungen. In dieser Gesellschaft, in der die „Konfessionslosen aus Steuergründen“ immer mehr zunehmen, ist eine zunehmende Reduktion religiöser und konfessioneller Identität zu beobachten. Dies wird vor einem ostdeutschen Hintergrund[204] und bei den sogenannten Volkskirchen besonders sichtbar, läßt sich jedoch zunehmend auch im Westen Deutschlands und bei Freikirchen bzw. kleineren religiösen Gemeinschaften erkennen. In diesem Prozeß verblaßt zuerst die konfessionelle Identität. Es spielt für die Gläubigen in der Praxis kaum noch eine Rolle, ob man katholisch oder evangelisch, geschweige denn reformiert oder lutherisch ist. Die eigene Konfession wird oft als Zufall gesehen und von vielen nur wahrgenommen, wenn durch die persönliche „Patchworkkonfession“[205] Konflikte mit Repräsentanten der in dieser Konfession verfaßten Kirche und deren Lehre auftreten. In einem solchen Fall besteht dann meist auch keine große Bindung zu dieser Konfession, sie wird ad libidum gewechselt oder aufgegeben. In einem solchen Klima ist dem Bedürfnis nach religiöser Identität oft schon Genüge getan, wenn man sich als Christ oder überhaupt als „gottgläubig“ bestimmt. Eine nähere Bestimmung wird dann nicht als notwendig angesehen. Eines solches Klima ist für die Ökumene bis zu einem bestimmten Punkt[206] förderlich, besonders dann, wenn diese zuvor durch ein übertriebenes Bedürfnis nach Abgrenzung behindert wurde.

Die STA, die sich nicht zuletzt vor diesem Hintergrund gerade in Deutschland immer stärker in ökumenischen Aktivitäten engagieren, sind jedoch eine relativ junge Glaubensgemeinschaft, die vor einem wesentlich anderen Hintergrund entstanden ist, dem der USA. Dort spielt das Religiöse eine wesentlich größere Rolle.[207] Im Ursprungsland der STA finden sich im Gegensatz zu Europa trotzdem keine „Mehrheitskirchen“, sondern eine unüberschaubare Anzahl von Glaubensgemeinschaften unterschiedlicher Größe. Besonders in der Zeit der Entstehung der STA bestand jedoch unter den Protestanten, unter denen auch viele Religionsflüchtlinge waren, die Befürchtung einer Katholisierung der USA durch eine große Anzahl katholischer Einwanderer besonders aus Irland, Italien und Süddeutschland. Das Bedürfnis nach Abgrenzung, dem Herausheben des eigenen Ichs, ist in den USA nach wie vor größer als anderswo. Es trat auch bei den Kirchen zu Tage, die sich 1843/44 gegen die Milleriten abgrenzten und diese aus ihrer Mitte ausschlossen. Diese Abgrenzung führte bei den Milleriten zu entsprechenden Gegenkräften und Reaktionen.

Glaubensgemeinschaften ermöglichen eine Identität durch Prozesse, in denen sie „nach innen“ und „nach außen“ Kompetenz gewinnen.[208] In einem deduktiven Ansatz geht Kompetenz im Bereich protestantischer Glaubensgemeinschaften, dem die STA historisch und in wesentlichen Teilen ihrer Lehre zuzuordnen sind, von der Rechtfertigungslehre aus. Diese ist in ihrem Kern unabänderlicher Bestandteil der Lehre der Glaubensgemeinschaften des Protestantismus[209], deren Quelle wiederum ist die Heilige Schrift. In anderen Bereichen der Lehre, die dann wieder die jeweilige innerprotestantische konfessionelle Identität bestimmen, unterscheiden sich die einzelnen Gemeinschaften jedoch. Diese Lehrunterschiede formen konfessionelle Identität. Sie sind jedoch oft auch durch Zeit- und Umfeldfaktoren bedingt, verschieden erkannte Wahrheiten. Aus der Veränderung dieser Faktoren folgt auch eine Veränderung der Wahrheit und somit eine Veränderung des daraus deduzierten Schlusses, hier der Identität. Da diese für die Gemeinschaft existentiell ist, darf sie dabei jedoch nicht verloren gehen. Bei den STA findet die Veränderung von Wahrheiten ihren Niederschlag in der „gegenwärtigen Wahrheit“, die die Begrenztheit der menschlichen Einsicht in göttliche Dinge anerkennt und es so auch ermöglicht, Fehlschlüsse einzugestehen und zu korrigieren.

Die Anerkennung der Veränderung von Wahrheit bzw. auch die Erkenntnis, daß Wahrheit aus der Lehre deduziert wird, geschieht in der Regel durch Mitglieder einer Gemeinschaft; somit ist die Kompetenz der Gemeinschaft „nach innen“ gefragt. Diese Mitglieder stehen allerdings in der Welt und werden somit auch von „außen“, durch Ereignisse und die Gesellschaft beeinflußt, so daß die Gemeinschaft auch in Lehrfragen ebenso in ihrer Kompetenz „nach außen“ gefordert ist. Da einmal aufgestellte Lehren meist im Laufe der Zeit zu einem wichtigen Bestandteil der Identität einer Glaubensgemeinschaft geworden sind, ist es oft sehr schwierig, diese bei neuer Erkenntnis zu verändern, zumal diese Erkenntnis nur in den wenigsten Fällen von allen Mitgliedern geteilt wird. Diese neue Erkenntnis ist meist durch das Auftreten neuer Anfragen an die Gemeinschaft bedingt, die sowohl von außen als auch von innen kommen können. Wird dann die Lehre gegen den Widerstand der Mitglieder verändert, die diese Erkenntnisse nicht teilen, führt dies oft zu einem Verlust an gemeinsamer Identität aller Mitglieder und somit zur Spaltung der Gemeinschaft, wie sich an den Splittergruppen der STA beobachten läßt. Deshalb ist eine Änderung und Aufgabe von Lehren an sich fast immer unmöglich, auch wenn die Anfragen, auf die sie reagierten, so nicht mehr existieren. So findet sich beispielsweise in den lutherischen Bekenntnisschriften weiterhin die Verwerfung des Ablasses, obwohl diese Problematik heute so nicht mehr aktuell ist. Neue Erkenntnis ist eine Anfrage an eine Gemeinschaft und erfordert von dieser zur Erhaltung ihrer Identität als Reaktion eine neue Lehre. Da neue Erkenntnis als veränderte Erkenntnis von Wahrheit jedoch eine Veränderung der Lehre fordert, einzelne Lehren an sich jedoch ohne die Identität und somit den Bestand der Gemeinschaft zu gefährden nicht veränderbar sind, haben verschiedene Religionsgemeinschaften verschiedene Methoden entwickelt, ihre Lehre anzupassen. Zu diesen Methoden gehören die Neubewertung von Lehren[210], die Neuinterpretation von Lehren[211] oder die Ergänzung von Lehren. Gerade die letzte Methode zeigt auch, wie fließend der Übergang von an sich neuer Erkenntnis als neue Anfrage und neuer Erkenntnis als veränderte Anfrage ist. Bei der Neuinterpretation ist zudem zwischen einer offenen, bei der die neue Erkenntnis offen eingeräumt wird, und einer verdeckten zu unterscheiden, die schlicht behauptet, man habe schon immer so gelehrt und die sich besonders in autoritär geführten Gemeinschaften findet.

Gerade bei der Bewertung von Sonderlehren ist deshalb nicht nur nach den Lehren an sich, sondern auch nach den Anfragen und Erkenntnissen, die sie entstehen ließen, nach ihrer aktuellen Bewertung und Interpretation durch die Gemeinschaft und nach ihren Perspektiven zu fragen. Dies bedeutet für die STA, ihre Entstehung und Verwurzelung in den USA, ihre Herausforderung durch die Situation heute in Deutschland, ihr Bedürfnis nach Identität als Gemeinschaft und mögliche Perspektiven der Entwicklung ihrer Sonderlehren mit einzubeziehen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die STA als „Minderheitskirche“ bzw. „Minderheitsgemeinschaft“ und vor ihrem Entstehungshorizont ein starkes Bedürfnis nach konfessioneller Identität haben und sich allein mit einer religiösen Identität nicht zufrieden geben können.

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