Auli, erster Sonntag im Advent, den 30. November 2014

Die neuen Inselnachrichten No. 2

Das Haus ist fertig geschmückt und heute Nachmittag wird die Festbeleuchtung feierlich eingeschaltet. Im Haus lassen sich die Erzgebirgler kaum verstecken: Pyramiden, Rachermann’l, Schwibbögen, Lichter und vieles mehr haben dank Janas unermüdlichem Einsatz und ein paar freien Tagen ihren Weg vom Boden in die gute Stube gefunden. Draußen liegt noch kein Schnee, aber es gibt jede Menge Reif und kalt ist es auch. Es passt also gut den Kamin anzufeuern und es sich gemütlich zu machen: Endlich Zeit sich den Inselnachrichten zuzuwenden. 

 

Mit zwei Vollzeit arbeitenden Elternteilen und drei Schulkindern muss unser Alltag gut durchgeplant sein. Dies erfordert eine gute „Familienplanung“ besonders wenn das eine „Elter“ in Schichten arbeitet und das andre „Elter“ täglich 2 ½ Stunden zu seinem Arbeitsplatz pendelt. Doch dann gibt es ja neben der Schule noch verschiedene Aktivitäten der Kinder: Schulorchester, Musikunterricht, Junioren (Christenlehre), Kinderchor und Jugendklub. Den Versuch mit den Pfadfindern mussten wir leider vorerst wieder aufgeben, denn dafür war im Plan nun wirklich kein Platz mehr, den irgendwo muss man ja auch noch Klassenfeste, Vorstandssitzungen, Elternabende oder Kultur unterbringen.

In Norwegen gibt es auch keine Schulspeisung so dass jeden Nachmittag zu Hause gekocht wird. Da einem da schnell die Ideen ausgehen haben wir auch noch einen zweiwöchigen Essensplan. Jeden Mittwoch ist auf diesem zum Beispiel „Pauls Pastadag“ fest eingeplant und wenn die Eltern heimkommen steht das Essen auf dem Tisch, damit es danach gleich weiter gehen kann. Auch am Brotbacken versucht sich Paul seit Neuestem. Marianne versucht die Verantwortung für die Pannekaker (Palatschinken/Eierpfannkuchen) oder Waffeln am Dienstag zu übernehmen. Auch sonst müssen alle mit anpacken und so haben sie alle ihre Aufgaben: Müll runterbringen, Staubsaugen des eigenen Zimmers und eines Gemeinschaftszimmers und Putzen je eines Bades. Nicht immer geht das ganz ohne Proteste, aber ohne dass alle mit anpacken geht es einfach nicht. Doch es macht ja auch Spaß. Schon Micha bekam als Kind von seiner Mutter gesagt: „Du musst nicht alles machen, aber du solltest alles können.“ So lernt Paul jetzt Bügeln. :)

Micha hat Verantwortung für Arbeit im ganzen Land und reist immer noch recht viel. Doch seit dem Frühjahr sind zumindest die Studienwochen Trondheim weggefallen. Er hat es nun endlich schwarz auf weiß: er sollte die norwegische Gebärdensprache beherrschen. Doch auch nach zwei Jahren im Dienst der „Taubenkirche“ hat er immer noch das Gefühl, dass sie eher ihn beherrscht. Zwar kann er sich meist ganz gut begreiflich machen, doch mit dem Begreifen hapert es manchmal noch. Gehörlose sind gewohnt sich in der hörenden Welt zurechtzufinden, doch bis er sich wirklich sicher auf Gebärdensprache bewegen kann, wird es sicher noch dauern; nicht zuletzt weil Gebärdensprachen keine Schriftsprache haben und es auch kein brauchbares Gebärdensprachwörterbuch gibt.

Die Norwegische Gebärdensprache ist eine von etwa 140 Gebärdensprachen weltweit, die sich in mehrere Familien gliedern. Dabei gehören z.B. die französische, die amerikanische und die österreichische zu einer, die belgisch-französische aber wiederum zu einer anderen. Die deutsche und die polnische zu einer, die dänische, die norwegische und die madagassische wiederum zu einer eigenen. Klingt komisch, ist aber so.

Die Gehörlosenseelsorge ist in Norwegen in der Døvekirken, der „Taubenkirche“ als eigener landesdeckender Kirchenkreis unter dem Bistum Oslo mit 6 Gemeinden und 2 Tochtergemeinden organisiert. Dabei ist man immer zugleich Mitglied in seiner lokalen Heimatgemeinde und in der Gehörlosengemeinde.

Es gibt etwa 5.000 Gehörlose in Norwegen, dazu kommen etwa 20.000 Menschen, die täglich Gebärdensprache benutzen um mit ihnen zu kommunizieren. Sie ist damit die größte norwegische Minoritätssprache. 80% ihrer Benutzer, also etwa 20.000 insgesamt, sind Mitglied der norwegischen Volkskirche und gehören zur Døvekirken. Bestimmte biblische Texte können dabei eine besondere Herausforderung darstellen, wie z.B. Mark 7,31-37 von der Heilung des Taubstummen. Gehörlose sind nicht taub, sie haben ihre Gebärdensprache die sie lieben und nicht missen wollen. Für sie wäre es besser wenn Jesus Gebärden könnte (youtu.be/3uJEhAUgHJs) und zu Pfingsten benutzen die Apostel selbstverständlich auch Gebärdensprachen. :)

In der Døvekirken ist Norwegische Gebärdensprache die Kommunikationssprache. Alle hörenden Angestellten erhalten deshalb eine Sprachausbildung, die sich über 2 Jahre erstreckt und mit 60 ECTS dem ersten Jahr der 3jährigen Gebärdendolmetscherausbildung entspricht. Gehörlose erhalten dementsprechend die Möglichkeit kirchliche Fächer zu studieren.

Nun hat er also sein Examen bestanden, doch wir wissen dass es sicher noch drei bis vier Jahre dauern wird, bis er wirklich sicher kommunizieren kann. Auch wenn das Studium in Trondheim jetzt abgeschlossen ist, heißt es deshalb: Üben, üben und nochmals üben. Zu dieser Erkenntnis hat auch der Besuch von Josephine im Frühjahr beigetragen. Sie ist selbst gehörlos, studiert Theologie in Leipzig und absolvierte in der Døvekirken in Oslo ein Gemeindepraktikum. Während dieser Zeit bezog sie in unserer Kellerstube Quartier. Ihre Muttersprache ist Deutsche Gebärdensprache, aber auch die norwegische Gebärdensprache und die norwegische Schriftsprache hat sie sich schnell angeeignet. Es ist einfach phantastisch die Ausdrucksfähigkeit einer gebärdensprachlichen Muttersprachlerin zu beobachten und besonders die Kinder werden ihre Beschreibung einer Schildkröte (übrigens ganz ohne Hände) so schnell nicht vergessen. Oder wie sie einen Tischtennisball beim Match mimt…. unglaublich komisch!

Doch auch Jana hatte auf Arbeit die Verantwortung für Studenten und besonders die Begleitung einer Studentin. Die norwegische Krankenschwesternausbildung ist ein Fachhochschulstudium und hat dadurch zwar einen höheren Status aber auch mehr Theorie- und weniger Praxisanteile. Diese sind dann auch noch in einigen wenigen Praktika gesammelt. Nicht wenige Studenten erleiden so einen Praxisschock oder scheitern dort sogar an der Wirklichkeit des Berufes. Eine gute Lehrschwester spielt so eine wichtige Rolle, damit der Schock nicht zu stark wird, aber auch damit niemand der dies nicht bewältigt alleine auf die Patienten losgelassen wird.

Am ersten Februar nächsten Jahres wird Jana übrigens die Stelle wechseln: Sie beginnt in einem Pflegeheim in der Nachbarkommune. Dort muss sie nicht mehr jedes dritte sondern nur noch jedes vierte Wochenende arbeiten, es gibt ein besseres Weiterbildungsangebot, mehr Lohn, einen etwas kürzeren Arbeitsweg und hoffentlich etwas weniger Stress.

Ja, wir müssen es zugeben: Wenn wir keinen Stress haben, dann machen wir uns welchen. Was braucht eine Erzgebirglerin um ein richtiges Heim zu haben? Richtig: ein Vorhäusel! Der Gang unseres Hauses ist klein und vom Eingang bis zur Stubentür waren es nur 1 ½ Meter und das wird bei minus 25 Grad im Winter schnell etwas eng. Außerdem haben wir die letzten Lagerräume des Hauses bei unserem Einzug zu einem Kinderzimmer für Karl umgearbeitet. Doch wohin nun mit allen Sachen und Vorräten? Die Garage ist keine gute Wahl- wenn dort im Winter bis zu minus 10 Grad herrschen? Also musste ein Vorhäusel her. Da es nicht möglich war mit einem Bagger an die Baustelle zu fahren und das Einfliegen per Hubschrauber das Budget gesprengt hätte, wurde kurzerhand „das Pappa“ zum Bagger umfunktioniert und bewegte so einige Kubikmeter Erde und Steine. Getreu dem Motto „Schuster, bleib bei deinen Leisten“ überließen wir das Fundament und den Rohbau einer Firma. Sowohl die Eigentümer als auch die Arbeiter dieser Firma waren übrigens Litauer und arbeiteten wesentlich zügiger, sauberer und genauer als wir es leider von vielen norwegischen Handwerkern gewohnt sind. Den Innenausbau übernahmen wir allerdings wieder selbst.

So langsam gewinnen wir auch einen Überblick über die verzwickten Leitungsinstallationen unseres Hauses. Dabei haben wir schon mehrere hundert Meter Kabel entfernt.

Als Ausgleichsport zu diesen eher physischen Aktivitäten verdingt sich Micha noch als Hobbyjournalist und schreibt gelegentlich für die mitteldeutschen Kirchenzeitungen, also „Der Sonntag“ in Sachsen und „Glaube und Heimat“ in Thüringen und Sachsen-Anhalt oder Chrismon. Nebenher administriert er inzwischen auch noch sechs Homepages. Eine davon, www.tegnliturgi.no beschäftigt sich mit Gottesdienst auf norwegischer Gebärdensprache, während www.spoleketf.org über den Verein der Freunde der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Karls-Universität in Prag oder www.FASK.no über das Schulorchester informiert. All das funktioniert normalerweise wunderbar, so lange diese nicht kurz vor einer Konferenz gehackt und dann vom Provider gesperrt werden. Dann bricht Panik aus und dann muss es schon mal ein Wochenende ohne Schlaf gehen.

Integration und Engagement sind erste Bürgerpflicht, deswegen sind wir neben unserer Arbeit, der lokalen Gemeinde und der Schule auch noch im Schulorchester aktiv. Durch eine Unvorsichtigkeit seiner Frau wurde Micha dort Kassierer und Mitglied des Vorstandes. Nun hat er die Verantwortung für ein Budget von einer halben Million Kronen, mehr als sein brutto Jahreslohn. Das Orchester heißt „Framtun og Auli skolekorps“, kurz FASK. Neben einem Hauptkorps gibt es die Junioren und die Aspiranten. Marianne wurde im Sommer vom Aspiranten zum Junioren „befördert“. Im Sommer feierte das Orchester sein 50jähriges Bestehen mit neuen Uniformen und einer Reise. Das Ziel der Reise war Rumänien, das Lieblingsurlaubsland des damaligen Dirigenten. Die Haupteinnahmequelle ist übrigens ein Flohmarkt, den wir zweimal im Jahr veranstalten und den die Bewohner der Umgebung zum Ausmisten nutzen. Anfangs war es schon etwas anstrengend, aber inzwischen ist es für die Kinder ein echter Höhepunkt. Marianne macht an den 2 Tagen ein „Schmuckgeschäft“ auf und verkauft billige Klunker teuer oder auch mal was Wertvolles „fürn Appel und n Ei“. Die Möglichkeit ein richtiges Schnäppchen zu machen ist der Charme beim Flohmarkt. Paul betreibt Waffelbacken als Hochleistungssport, für den Cafebetrieb. Die Versteigerung mit Micha als „Auktionarius“ ganz ohne Mikrofon ist dabei ein kleiner Höhepunkt :) Und der Chef vom Schulorchester geht rum, schüttelt mit den Kopf und wundert sich wie man mit „Müll“ so viel Geld verdienen kann. Und gut für die Umwelt ist es auch noch.

Ansonsten sind wir in den Sommerferien wieder auf dem Wasser gewesen. Beim Paddeln können wir richtig Urlaub machen. Also haben wir auch 2014 unsere beiden Paddelboote aus Taucha, Marke Pouch RZ-85, eingepackt und den Wohnwagen angespannt. Das Ziel war dieses Jahr wieder Jütland in Dänemark. Auf ausdrücklichen Wunsch der Kinder ging es wie schon vor drei Jahren nach Ry zu Holmens Camping an dem Fluss Gudenaa. Man sollte dem flachen Land einen solchen Paddelfluss gar nicht zutrauen, aber die Gewässer sind meistens hinter Wald und Ortschaften versteckt. Ist man mit dem Auto unterwegs fährt man selten an Flüssen entlang. Unsere Kinder fühlen sich jedenfalls pudelwohl dort. Die beiden Großen schwimmen und springen und nutzen das Wasser, während Karli noch mit Schwimmflügeln übt. Paddeltouren von 22 Kilometern sind inzwischen kein Problem mehr. Und seit wir entdeckt haben, dass man auch auf dem Wasser Geocaching betreiben kann, haben wir immer ein interessantes Ziel. Geocaching ist einen Art Schatzsuche mit Navigationsgerät.

Seit August haben wir nun drei Schulkinder und noch bis 2016 werden sie alle gemeinsam die Grundschule in Auli besuchen. Unser Schulsystem kennt zwar auch Leistungskontrollen und nationale Tests, aber bis einschließlich der 7. Klasse gibt es keine Noten. Natürlich versuchen unserer Kinder ihre wöchentlichen Tests fehlerfrei nach Hause zu bringen, aber es gibt eben keine Noten. Die Kinder erhalten Aufgaben im Unterricht und Hausaufgaben, aber eben auch Tests nach ihren Fähigkeiten. In Englisch werden sie z.B. in 3 Gruppen eingeteilt, je nach Lernstand. So messen die Tests sie an ihren Fähigkeiten und nicht an einem abstrakten Maßstab und in einigen Fächern wie Sport wird auch mal nur der „Einsatz“ gewertet.

Karl ist immer noch sehr zufrieden mit der Schule und seinen Lehrern. Jeden Morgen zockelt er mit den Geschwistern und etlichen Nachbarskindern in Richtung Schule los. Er hat ausgerechnet daß er jetzt schon 15 Buchstaben gelernt hat. Am Nachmittag ist er beleidigt, wenn er etwas zu früh abgeholt wird, weil er dann beim Hort was verpassen könnte.

Jetzt gehen in der Schule die Heimlichkeiten los und die Geschenkeproduktion ist angelaufen. Wir gehen in den Advent und es wird für die Weihnachtsfeiern geübt. Auf den Feiern für die Erwachsenen gibt es fast überall das klassische ostnorwegische Weihnachtsessen: Geschmorte Schweinerippe, Medisterpølse (eine Art Weißwurst) und Kjøttboller genannte Fleischklopse. Dazu gibt es Kartoffeln und Preiselbeermarmelade. In anderen Teilen des Landes sind frischer Dorsch, Lammbraten oder ein Lutefisk, Laugenfisch, genanntes Gericht populärer. Letzteres haben wir im heroischen Selbstversuch für euch getestet: Es sieht aus wie Fischgelee und schmeckt nach rein gar nix mit einem Hauch von Fisch. Wirklich zu gebrauchen ist es nur als Unterlage für guten Senf und Vorspeise für mehrere Aquavit. Bei uns wird es am Heiligen Abend Bratwurst und am ersten Feiertag Kaninchen mit Klößen oder Knödeln geben. Doch bis dahin übt das Schulorchester (Paul und Marianne) noch Weihnachtsmelodien und hat noch ein paar Aufträge und Konzerte, ehe sie am 24.12. in der Kirche die heilige Nacht einläuten.

Wir versuchen die Adventszeit so gut und ruhig wie nur möglich zu genießen und wünschen dies auch Euch allen. Eine gesegnete, lichterfüllte Adventszeit und ein frohes Weihnachtsfest wünschen

 

 

Karl, Marianne, Paul, Jana und Michael Hoffmann

 

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