Die Fahne weht auf Halbmast, auch vor unserem Haus und auch vor unserer Kirche. Wir stehen unter Schock. Es ist unbegreiflich, dass sich ein ein zweites Oklahoma-City sich in unserem friedlichen Land ereignet haben soll. Das bisher frei zugängliche Regierungsviertel nördlich der Domkirche in Oslo ist schwer verwüstet, doch Ersatzbüros in Oslo werden schnell gefunden sein und die Regierung wieder arbeiten.

 

Nicht zu ersetzten sind Toten und Verletzten durch die Bombe in Oslo und dass unbegreifliche Massaker auf Utøya im Tyrifjord einem der größten Binnenseen Norwegens nordwestlich von Oslo. Die Regierung hat uns bisher versprochen, dass unser freies und offenes Land auch morgen noch wiederzuerkennen sein wird. Wir hoffen, dass sie damit recht behalten wird und es es besteht zumindest eine Chance dafür, da der Täter wie es aussieht ein rechtsextremer norwegischer Einzelgänger war.

Bisher habe ich auch noch nicht ausrücken müssen. Als Pfarrer der norwegischen Volkskirche gehört es zu meinen Aufgaben Todesnachrichten im Gebiet meiner Gemeinden zu überbringen. Es gibt sogar einen eigenen Bereitschaftsdienst der Pfarrer dafür und wir sind als Pfarrer Mitglieder der kommunalen Krisenteams. Doch bisher hat die Polizei noch zum Glück noch nicht bei mir angerufen. Doch Norwegen ist zwar ein weites Land, doch es gibt nur wenige Einwohner. Auch wenn die Bevölkerung wächst, mehr als 5 Millionen sind es nicht. Jeder kennt jemanden der direkt oder indirekt berührt ist: Die Schwiegereltern der Kulturministerin kommen aus der Gemeinde, dir Frau eines Gemeindemitglieds arbeitet in einem der Ministerien in Oslo, eine Frau aus der Gemeinde wurde durch Glassplitter in Oslo verletzt, ´ich selbst wurde durch den Cousin des ehemaligen Ministerpräsidenten ordiniert… Haram und Fjørtoft meine beiden Gemeinden sind mehr als 500 km von den Schauplätzen der Tragödie entfernt, aber niemand ist wirklich verschon worden: Der Stiefbruder der Kronprinzessin starb, als er auf Utøya versuchte das Leben seines 10jährigen Sohnes zu retten. Der Sohn überlebte.

Gerade in Krisenzeiten sind die Kirchen ein Sammelpunkt für die Menschen und es ist gute Tradition sie bei lokalen und nationalen Krisen und Katastrophen zu öffnen. Viele Menschen in Oslo gehen zu Domkirche und dem Meer aus Blumen und Kerzen dort um überhaupt realisieren zu können was geschehen ist.

Norwegen versucht dem Hass zu widerstehen, niemand verlangt nach Rücktritten oder ruft nach der Todesstrafe.  Ein Zitat aus diesen Tagen: „Wenn ein Mann so viel Hass schaffen kann, kann man sich nur vorstellen wie viel Liebe wir alle gemeinsam schaffen können.“[1]

Eigentlich sollte jetzt Wahlkampf sein,  denn am 12. September werden Kommunal- und Regionalwahlen, aber auch Wahlen zu Kirchgemeinderäten und Bistumsräten sein. Doch der Wahlkampf wird auf längere Zeit ausgesetzt. Heute um 12 stand das ganze Land still: Kein Auto, kein Flugzeug, kein Rasenmäher, nichts war zu hören. Aber unser leben muss weitergehen

”Å ta vare på kvarandre” ist ein Ausdruck den wir in Norwegen oft in diesen Tagen verwenden. Er bedeutet so viel wie „einander beschützen“ und „aufeinander aufpassen“. Eine Gesellschaft ist mehr als eine Menge von Individuen und dabei haben wir als norwegische Kirche und als norwegische Pfarrer eine wichtige Aufgabe. Wir haben diese Aufgabe nicht weil unsere Gehälter vom Staat bezahlt werden, sondern weil wir Norweger sind. Auch ich bin Norweger, auch wenn ich in Deutschland geboren bin und meinen Namen immer und immer wieder buchstabieren muss. Ich bin Norweger, nicht weil ich einen norwegischen Pass habe, sondern weil ich es wie viele andre meine wenn ich die Nummer 737 aus unserem Kirchengesangbuch singe: „Ja, vi elsker dette landet“ – „Ja, wir lieben dieses Land“.

Michael Hoffmann

(Gemeindepfarrer in Haram und Fjørtoft – Norwegen)

Veröffentlicht in den Mitteldeutschen Kirchenzeitungen: http://www.mitteldeutsche-kirchenzeitungen.de 

 

 



[1] Stortingsmitglied Stine Renate Håheim (Arbeiterpartei)