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Der Blick ins Ausland

Doppelfeld, Prof. Dr. med. Elmar

Weltärztebund: Einsatz für Menschenrechte

in: Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 21 (24.05.1996), Seite A-1396
THEMEN DER ZEIT: Blick ins Ausland

Bei den Verhandlungen der 144. Sitzung des "Council" der World Medical Association (WMA, Weltärztebund) in Genf (20. bis 22. April 1996) bildeten Erörterungen über den Einsatz einzelner Ärzte sowie nationaler und internationaler Ärzteorganisationen zur Wahrung der Menschenrechte unbestritten einen Schwerpunkt der ansonsten überwiegend Routinefragen gewidmeten Tagesordnung.


Als Gastredner bei der jüngsten Sitzung des Vorstands ("Council") des Weltärztebundes führte Dr. J. Welsh, Koordinator des medizinischen Programms von Amnesty International, Gesichtspunkte an, die aus seiner Sicht den Arzt daran hindern, Verletzungen der Menschenrechte entgegenzutreten. So nannte er fehlende Unabhängigkeit, unzureichende Ausbildung für die Erkennung physischer und/oder psychischer Folgen zum Beispiel von Folterungen, mangelhaftes ethisches Problembewußtsein, ökonomische, physische oder psychologische Pres-sionen sowie die Erfahrung, daß Länderregierungen ärztliche Berichte über Menschenrechtsverletzungen nicht zur Kenntnis nehmen. Erwähnt wurde auch, daß Bestimmungen einzelner Länder Ärzte zur Mitwirkung an Maßnahmen verpflichten, die als Verletzung der Menschenrechte gewertet werden. Die Offenbarung solcher Verletzungen durch Ärzte kann nach Auffassung von Dr. Welsh eine präventive Rolle spielen und zu mehr Gerechtigkeit für die Opfer beitragen. Die Rolle nationaler und internationaler ärztlicher Organisationen auf diesem Gebiet ist nach Auffassung des Redners weitgehend unbekannt, da sie, jedenfalls für die breitere Öffentlichkeit, nicht ersichtlich wird. Einzelne ärztliche Organisationen nehmen einen "neutralen" Standpunkt ein, da Menschenrechte außerhalb ihres Interesses liegen, sie sich möglicherweise entsprechend den einschlägigen Bestimmungen des jeweiligen Landes auch damit nicht zu befassen haben. Vielfach macht auch eine strenge Kontrolle durch Länderregierungen ein als in der Sache notwendig erkanntes Engagement unmöglich. Schließlich nannte der Redner auch die enge Zusammenarbeit zwischen Staatsregierungen und ärztlichen Organisationen, deren vorrangiges Ziel es sei, Staat und Wirtschaft ihres Landes zu unterstützen.
Welsh regte an, daß die nationalen Ärzteorganisationen den möglichen Beitrag des einzelnen Arztes zur Wahrung der Menschenrechte herausstellen und ihn ermutigen sollten, ihre Verletzungen zu offenbaren. Sie sollten zu seinen Gunsten intervenieren, wenn er in Schwierigkeiten gerät. Auf internationaler Ebene sollte die Zusammenarbeit verbessert und nach Möglichkeit ein "Notmeldesystem" eingerichtet werden, damit der Weltärztebund in Zusammenarbeit mit anderen internationalen Organisationen, die sich der Wahrung der Menschenrechte widmen, intervenieren kann. Schließlich sollte die Ärzteschaft die Grundsätze von Amnesty International zur medizinischen Untersuchung der Folter unterstützen.
Das Council hat den Generalsekretär beauftragt, einen Vorschlag zur Verwirklichung der von Dr. Welsh vorgetragenen Anregungen zu erarbeiten. Die in diesem Zusammenhang zu erwartenden Schwierigkeiten traten zutage bei der Diskussion über einen Antrag der British Medical Association, jede nationale Ärzteorganisation solle in einem Zwei-Jahres-Rhythmus über ihren Einsatz zur Wahrung der Menschenrechte berichten. So wurde eingewandt, die Formulierung dieser Rechte sei bewußt allgemein gehalten, ihre Interpretation sei entsprechend internationaler Übereinkunft regionalen Institutionen vorbehalten. Zu bedenken gegeben wurde ferner, daß gesetzliche Bestimmungen auch demokratischer Länder mit untadeliger Rechtspflege dem Engagement ärztlicher Organisationen außerhalb des engeren Berufsfeldes entgegenstehen könnten. Unbestrittene Auffassung war indessen, daß für den einzelnen Arzt ebenso wie für ärztliche Organisationen die Wahrung der Menschenrechte als Verpflichtung anzusehen ist.


Geplant: Novellierung der Deklaration von Helsinki
Aus den weiteren Beratungen sei erwähnt, daß ein Text "Ethische Aspekte der Ressourcenverteilung" als Diskussionsgrundlage verabschiedet wurde. Seine Annahme als Resolution scheiterte an der Auffassung einiger Delegationen, der Arzt habe sich vorrangig um die bestmögliche Versorgung seines Patienten, nicht jedoch um die Ressourcenallokation auf medizinischem Gebiet zu kümmern. An Entwürfen auf den Gebieten "Prädiktive Medizin", "Waffen", "Wiederbelebungsmaßnahmen" sowie "Rechte des kranken Kindes" feilen entsprechende Arbeitsgruppen. Dies gilt auch für eine von der American Medical Association vorgelegte Zusammenfassung der Erwartungen, die Ärzte an ihre Patienten richten. Schließlich soll durch eine Novellierung der Deklaration von Helsinki klargestellt werden, daß placebokontrollierte Studien - wenn wissenschaftlich, ethisch und rechtlich vertretbar - nicht ausgeschlossen sind.
Einer Anregung der früheren Präsidentin des Weltärztebundes, Prof. Dr. Priscilla Kincaid-Smith (Australien), folgend, sollen die nationalen Ärzteorganisationen dem Thema "Gesundheit der Frau" besondere Aufmerksamkeit widmen. In diesem Zusammenhang zu erwähnen ist die verabschiedete Resolution "Familienplanung und Recht der Frau auf Kontrazeption".
Mit der Entschließung "Antibiotika-Resistenz" hat das Council ein besonders drängendes medizinisches Problem berücksichtigt. Aus der Fülle sonstiger Beratungsgegenstände seien noch genannt ein Resolutionsentwurf "Gesundheitliche Versorgung älterer Menschen", dessen Verabschiedung bevorsteht, sowie die Bildung einer Arbeitsgruppe, die sich mit der Zirkumzision von Knaben befaßt, die routinemäßig, also nicht aufgrund religiöser Vorschriften, vorgenommen wird. Über die Häufigkeit dieses Eingriffs wurden in der Debatte recht diskrepante Auffassungen erkennbar.


Verlegung des WMA-Sekretariates?
Über Sitz und Struktur des Sekretariates der WMA wird in den nächsten Monaten zu beraten und zu beschließen sein. Der erst vor wenigen Jahren angestellte hauptamtliche Generalsekretär hat seinen Entschluß mitgeteilt, sich Ende 1996 nach London zurückzuziehen und allenfalls für eine Übergangsfrist zur Verfügung zu stehen. Überlegungen gehen dahin, den Sitz des Sekretariates von Ferney-Voltaire in der unmittelbaren Nähe von Genf, dem traditionellen Sitz internationaler Organisationen, zu verlegen, da die räumliche Nähe zu diesen Organisationen, insbesondere zur WHO, für die tägliche Arbeit nicht die erwartete Bedeutung erlangt habe. Erwogen wird, das Sekretariat bei völliger Wahrung der Unabhängigkeit der WMA in der Nähe einer nationalen Ärzteorganisation anzusiedeln, deren Infrastruktur es gegebenenfalls zur Steigerung seiner Effektivität nutzen könnte. Sitz und Struktur des Sekretariates mögen bedeutende Gesichtspunkte sein; für die Zukunft entscheidend wird die Strategie sein, die der Weltärztebund einschlägt, um die Notwendigkeit dieser Organisation, deren Haushalt ganz überwiegend von den Beiträgen ärztlicher Organisationen aus Industrieländern gespeist wird, im Bewußtsein der Ärztinnen und Ärzte dieser Welt zu verankern. E. D.


Erklärungen, Dokumente etc. des Weltärztebundes können in Urfassung und/oder deutscher Übersetzung bei der Bundesärztekammer, Auslandsdienst, Herbert-Lewin-Straße 1, 50931 Köln, angefordert werden.

 

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Stephan, Dr.

Großbritannien: Rationierung ist unvermeidbar

in: Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 33 (15.08.1997), Seite A-2115
THEMEN DER ZEIT: Blick ins Ausland

Prekäre Finanzsituation zwingt zur Revision von Versorgungskonzepten.
Motiviert durch die finanziell angespannte und lückenhafte Gesundheitsversorgung sowie die Aufbruchsstimmung, die mit der Machtübernahme der neuen Labour-Regierung einhergeht, diskutierten Delegierte der British Medical Association (BMA), ob und wie im staatlichen Gesundheitssystem Großbritanniens rationiert werden sollte. Die Konferenz mit dem Titel "Rationing in the NHS: time to get real" veranstaltete die BMA am 11. Juli in London.
Die Frage der Rationierung medizinischer Ressourcen wird in der in Deutschland stattfindenden Diskussion über Reformierung des Gesundheitswesens im Gegensatz zu Großbritannien eher zurückhaltend behandelt. Angesichts eines seit Jahren defizitären Gesundheitswesens mit einem massiven Sanierungsbedarf und großen Versorgungsengpässen scheint die britische Ärzteschaft Rationierungskonzepte zu akzeptieren.
Bei einer Podiumsdiskussion anläßlich einer Konferenz der BMA zu dem Thema verglich der Abgeordnete Simon Hughes von den Liberaldemokraten das britische Gesundheitssystem mit seinen zahlreichen Wartelisten und Beschränkungen mit einer "Gesundheitslotterie" und forderte eine Umstrukturierung. Die Regierung solle ein Rationierungskonzept vorlegen, um ein Ungleichgewicht der Verteilung von Ressourcen zu vermeiden. Hierauf entgegnete Phyllis Starkey von der Labour-Partei, daß Behandlungskosten durch die demographische und medizinische Entwicklung auch in Zukunft steigen würden und Gelder besser auf lokaler Ebene verwaltet werden sollten. Ferner muß, so Starkey, zwischen dem Aufstellen von Prioritäten einerseits und der - ihrer Meinung nach nicht anzustrebenden - Rationierung andererseits unterschieden werden.
Dr. David Eddy (USA), der sich seit Jahren mit dem Gesundheitssystem in Südkalifornien beschäftigt, stellte auf der Konferenz die These auf, daß Rationierung unvermeidbar sei, in jedem Gesundheitssystem angewendet werde und es daher darauf ankomme, eine möglichst effiziente und auf medizinischen Erkenntnissen basierende Rationierung zu schaffen. So gebe es bei gegebenen Grenzwerten immer Patienten, die in die Gruppe der nicht zu behandelnden Personen fallen würden, obwohl sie von einer Behandlung profitieren würden. Grenzwerte sind willkürlich
Als Beispiel führte Eddy die Grenzwerte für Cholesterin an, die in den USA gelten. Anhand solcher Richtlinien werde lediglich ein Kollektiv behandelt, das einen bestimmten Grenzwert überschreite. Personen, die nur etwas darunter liegen, erhielten keine Behandlung, auch wenn ihr Herzinfarktrisiko um ein Vielfaches erhöht sein könne, wenn neben den Cholesterinwerten noch andere Risikofaktoren wie Rauchen oder Bluthochdruck vorliegen. Eddy fuhr fort, daß die Entscheidung zur Behandlung durch den Grenzwert bestimmt werde. Dieses Kriterium sei aber nicht medizinisch indiziert, da wichtige Parameter ignoriert würden. Eine rationelle Behandlung hingegen müsse zusätzliche Risikofaktoren mit berücksichtigen. Mit dieser Strategie könnten möglicherweise Ressourcen eingespart werden, weil unnötige Behandlungen vermieden und so Kapazitäten für wichtigere Maßnahmen freigesetzt werden könnten. Durch ständige Evaluierung von Therapien und Vorsorgemaßnahmen in bezug auf deren Kosten-Nutzen-Relation würden Bedingungen geschaffen, unter denen der maximale Nutzen bei einem gegebenen Budget erreicht werden kann. Dazu ergänzte Prof. Albert Weale von der Universität Essex vom Fachbereich Verwaltung und Staatswesen, daß ein solches Konzept nur durchgeführt werden könne, wenn die Bevölkerung übereinstimmend eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Rationierung akzeptiere oder bereit sei, die entsprechenden Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Nach Ansicht der Delegierten ist hier die Regierung gefordert. Sie müsse Richtlinien erlassen, die für die Versorgung des gesamten Landes bindend seien. Zur Zeit werden die Finanzbudgets lokal verwaltet. Dies bedeutet, daß es zu starken Unterschieden in der Versorgung kommt. Ein Beispiel: Der 33jährige Kenneth Fisher war an Multipler Sklerose erkrankt und bekam von zwei Neurologen im Sheffield’s Royal Halmshire Hospital Interferon-Beta verschrieben. Die Krankenhausapotheke verweigerte die Herausgabe des Medikaments, weil die für Fisher zuständige Gesundheitsbehörde die Behandlungskosten von 10 000 Pfund pro Jahr nicht bezahlen wollte. Nach 18 Monaten hat Fisher jetzt vor dem High Court recht bekommen: sein Zustand hat sich derweil zunehmend verschlechtert. Um solche Mißstände zu beseitigen, forderten die Delegierten in einem "offenen Brief" die Regierung auf, ihrer Verantwortung gerecht zu werden und ein landesweit gültiges Konzept zur Reformierung des National Health Service vorzulegen. In ihrem Brief bekannten sich die Konferenzteilnehmer ausdrücklich zum Konzept der Rationierung. Diese sollte medizinisch indiziert sein, Kosten-NutzenSchätzungen berücksichtigen und für die Bevölkerung fair und nachvollziehbar sein. Dr. Stephan Mertens

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Doppelfeld, Prof. Dr. med. Elmar

Ärzte in Europa Zusammenarbeit unverzichtbar

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 40 (02.10.1998), Seite A-2460
THEMEN DER ZEIT: Blick ins Ausland

Die 44. Konsultativtagung deutschsprachiger Ärzteorganisationen befaßte sich (unter anderem) mit dem Rationalisierungsdruck im Gesundheitswesen. Das Zusammenwachsen europäischer Staaten, sei es innerhalb oder außerhalb von Verbänden wie der EU oder dem EWR, wirkt sich immer nachhaltiger auf die ärztliche Tätigkeit aus. Während die Medizin als Wissenschaft von jeher den internationalen Erfahrungs- und Wissensaustausch pflegt, werden in jüngster Zeit zunehmend staatliche Bemühungen erkennbar, für das gesamte Berufsfeld des Arztes staatenübergreifend Bedingungen zu formulieren. Beispiele hierfür sind das "Menschenrechts-übereinkommen zur Biomedizin" (die sogenannte Bioethikkonvention) oder die Erörterungen der Gesundheitsminister der Länder der Europäischen Union zum Thema "Medizinische Qualitätssicherung" vor wenigen Wochen in Bad Tatzmannsdorf/Österreich. Die Organisationen der Ärzteschaft können sich kaum auf die Beobachtung dieser Vorgänge beschränken, aktives Handeln erscheint geboten. Dieser Gedanke stand auch im Mittelpunkt der 44. Konsultativtagung der deutschsprachigen Ärzteorganisationen, die auf Einladung des Schweizer Ärzteverbandes (FMH) vom 2. bis 4. Juli 1998 auf dem Bürgenstock (Nidwalden) stattfand. Das Fazit könnte lauten: "Von der Konsultation zur Kooperation."
Beispiele der Zusammenarbeit
Erste Versuche einer solchen Zusammenarbeit wurden bereits vor einigen Jahren mit der Gründung der Arbeitsgruppe "Gesundheit und Umwelt" unternommen. Diese hat sich bei ihrer diesjährigen Sitzung erneut mit Verkehrsproblemen im Alpenraum befaßt und Infektionsgefahren erörtert, die sich aus der Massentierhaltung und den Tiertransporten unter anderem in den vertretenen Ländern ergeben. Erstmalig berichteten Arbeitsgruppen, die auf Grund einer Vereinbarung bei der 43. Konsultativtagung 1997 in Warnemünde gebildet wurden. Die Gruppe "Fort- und Weiterbildung" wird sich bemühen, die zu diesem Komplex gehörenden Maßnahmen zu harmonisieren mit dem Ziel der gegenseitigen Anerkennung erworbener Diplome und Zertifikate. Gemeinsame Bemühungen um Qualitätssicherung
Der Ausschuß "Qualitätssicherung in der Medizin" will durch seine Tätigkeit eine vergleichbare Basis aller Qualitätssicherungsmaßnahmen in den beteiligten Ländern erreichen. Damit wird auch die Absicht verfolgt, die entscheidende Rolle des Arztes in der medizinischen Qualitätssicherung zu wahren. Seine Verantwortung soll nachdrücklich unterstrichen werden durch einen für den 17. und 18. September 1999 in Basel geplanten Kongreß "Medizinische Qualitätssicherung". Bei dieser Gelegenheit will man den Versuch unternehmen, eine internationale Charta für ärztliches Qualitätsmanagement zu verabschieden sowie gegebenenfalls eine internationale Gesellschaft "Medizinische Qualitätssicherung" zu gründen, deren Mitgliedschaft zunächst auf Angehörige deutschsprachiger Länder begrenzt sein soll. Eingehend befaßten sich die Delegierten erneut mit den Folgen staatlicher Änderungen des Gesundheitssystems. So fand ein Beitrag über neue Versorgungsstrukturen in der Bundesrepublik Deutschland hohes Interesse. Die Auswirkungen der leistungsorientierten Krankenhausfinanzierung (LKF), seit dem 1. Januar 1997 in Österreich gültig, lassen sich derzeit schwer abschätzen. Schon vor Erlaß dieser Bestimmung war eine Begrenzung der Kostensteigerung, war ein Bettenabbau zu beobachten. Der Rationalisierungsdruck hat erheblich zugenommen, das Verlangen der Krankenhausträger und der zu ihrer Finanzierung eingerichteten Fonds auf Länderebene, an der Qualitätssicherung maßgeblich beteiligt zu werden, wächst ständig.
Für die Schweiz wird angesichts der auch dort knappen Ressourcen eine Wendung vom regulierten zum marktorientierten System der ärztlichen Versorgung erwartet. Bei allen Lösungsansätzen sind die kaum beeinflußbaren Faktoren "Demographie", "wissenschaftliche Entwicklung", "Erwartung der Patienten" ebenso zu beachten wie ökonomische und fachtechnische Spannungen in der Ärzteschaft. Sogenannte Leistungseinkäufer und sogenannte Leistungserbringer müssen in einem marktorientierten System zusammenarbeiten, wobei die Ärzteschaft die Verantwortung für die entstehenden Kosten übernehmen muß. Dieser Aufgabe kann sie nur auf der Grundlage einer angemessenen Datenbasis gerecht werden, die noch geschaffen werden muß. Während "Managed Care" bislang nur ökonomische Gesichtspunkte verfolgte, werden jetzt zusätzlich Fragen der Qualitätssicherung einbezogen.
Entscheidet der Arzt über Rationierung?
In Zeiten knapper Ressourcen stellt sich die Frage nach der Verantwortung, die der Arzt bei der Behandlung von Versicherten der Krankenversicherungen trägt. Auch wenn ärztliche Leistungen nicht aus dem Leistungskatalog einer Versicherung herausgenommen wurden, vielmehr ein Budget zur Verfügung steht, ergibt sich de facto eine Rationierung, das heißt, der Arzt muß individuell entscheiden, welchem Patienten er unter Berücksichtigung der gegebenen Mittel notwendige Gesundheitsleistungen vorenthält. Hierbei kann er unter Umständen gegen medizinische Standards verstoßen, die bei einer haftungsrechtlichen Beurteilung seines Tuns herangezogen werden. In dem Spannungsfeld zwischen versicherungsrechtlichen Vorgaben und haftungsrechtlicher Verpflichtung kommt der Formulierung medizinischer Standards erhöhte Bedeutung zu; sie erfolgt in aller Regel auf der Grundlage des aktuellen Standes von Wissenschaft und Forschung. Bisher wurde dem wissenschaftlichen Standard der Vorrang vor ökonomischen Überlegungen eingeräumt, eine Situation, die kaum andauern wird. Wenn wirtschaftlichen Gesichtspunkten gegenüber diesem Standard der Vorzug gegeben werden muß, ist zu fragen, ob der Arzt seinen Patienten gegebenenfalls über Defizite der vorgesehenen Behandlung aufklären muß, um ein Übernahmeverschulden zu vermeiden, um dem Patienten das sogenannte Restrisiko aufzubürden. Schließlich ist zu prüfen, ob und in welchem Ausmaße das in vielen Verfassungen verbürgte Recht auf Gesundheit in den skizzierten Konflikt eingreift. Initiative "Privatmedizin" in Österreich
Das auch in Österreich geltende Gebot wirtschaftlicher Behandlung wird dazu führen, daß die Versorgungsansprüche der wachsenden Bevölkerung kaum noch durch Mittel der Gesetzlichen Krankenversicherung gedeckt werden können. Die Österreichische Ärztekammer versucht daher, mit ihrer Initiative "Privatmedizin" Versorgungswünsche der Patienten zu definieren, die auch aus der Sicht des Arztes berechtigt sind, aber nicht unbedingt zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung erfüllt werden sollten, zum Beispiel Sporttauglichkeitsuntersuchungen, Tropentauglichkeitsuntersuchungen und so weiter. Es soll für diese "Privatmedizin" ein besonderer Leistungskatalog entwickelt werden mit einem entsprechenden Fortbildungsangebot für jene Ärzte, die hier tätig werden möchten. Die österreichischen Vertreter haben darauf hingewiesen, dieser Katalog solle keine Anleitung zur Gewinnoptimierung sein. Im übrigen sei es Aufgabe der Politiker, die Versorgungsgebiete zu benennen, auf denen Rationalisierungsmaßnahmen durchzuführen seien. Unter den Länderberichten, mit denen Konsultativtagungen abgeschlossen werden, fanden Entwicklungen in Österreich besondere Aufmerksamkeit. So blockiert der Hauptverband der österreichischen Sozialversicherer trotz eines günstigen Urteils des Verfassungsgerichtes weiterhin die Bildung von Gruppenpraxen; entsprechende Verträge scheiterten, weil die beteiligten Ärzte nicht bereit waren, den geforderten Verzicht auf "Privatmedizin" zu akzeptieren. Ärzte, insbesondere in ländlichen Gebieten, dürften eine erhebliche Einkommenseinbuße zu befürchten haben, da die Bauernversicherung in den Verband der übrigen gesetzlichen Kassen eingegliedert wurde, was zu einer erheblichen Tarifreduktion führte. Die Österreichische Ärztekammer wird weiterhin bemüht sein, mit politischen Mitteln diese Entscheidung rückgängig zu machen. Weitere Einbußen drohen Ärzten, die bisher, überwiegend auf dem Lande, ein Dispensierrecht hatten. Nach einer neueren Entscheidung des österreichischen Verfassungsgerichtes gilt nun auch in Österreich für Apotheker Niederlassungsfreiheit. Läßt sich ein Apotheker im Umkreis von zwei Kilometern und weniger eines Arztes mit Dispensierrecht nieder, so verliert dieser ohne jede Übergangsfrist dieses Recht. Schließlich haben die Kassen verfügt, daß künftig in ihren Ambulatorien auch Kronenersatz angeboten wird (der Österreichischen Ärztekammer gehören Zahnärzte als besondere Sektion an). Die skizzierten Vorgänge haben die Österreichische Ärztekammer zu einer offensiveren Gesundheitspolitik veranlaßt; erstmals wurde ein Delegiertentag, vergleichbar dem Deutschen Ärztetag, den es in dieser Form in Österreich nicht gibt, abgehalten; an einem "Aktionstag" blieben fast alle Praxen geschlossen. Strittig: Kostenerstattung für EU-Bürger
Im Anschluß an den Bericht aus Luxemburg entspann sich eine lebhafte Debatte über die Folgewirkungen des vom Europäischen Gerichtshof erlassenen Urteils über den Ersatz der Kosten, die einem EU-Bürger in einem anderen Mitgliedsstaat in der Union entstanden sind. Mehrheitlich sah man hier eine Gefahr für die Gesundheits- und Sozialbudgets insbesondere kleinerer EU-Länder, wenn zum Beispiel ihre Bürger Leistungen in einem anderen Lande erhalten, für die man im Heimatland keine Indikation sieht. Dennoch muß die Krankenkasse des Heimatlandes in diesem Falle bis zur inländischen Obergrenze Kostenersatz leisten. Dieser Kritik wurde der Gesichtspunkt entgegengehalten, daß die Luxemburger Richter mit ihrer Entscheidung die Freiheit der Dienstleistungen, einen allen übrigen Überlegungen übergeordneten Gesichtspunkt, fördern wollten. E. D.

 

 

Leitartikel und Seite eins - Kommentare

 

Weinhold, Prof. Dr. med. Ernst-Eberhard

Gesundheitspolitik: Honorierung und Krisenmanagement

in: Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 3 (17.01.1997), Seite A-79
POLITIK: Leitartikel

Mit der Einführung von Obergrenzen für die Summe der Vergütung aller Vertragsärzte ist ein wesentliches Ziel der Honorarverträge zwischen Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) - die angemessene Vergütung der ärztlichen Leistungen - noch schwieriger als früher zu erreichen.


Die "Angemessenheit" war stets ein unbestimmter Rechtsbegriff, wie er im Sozialgesetzbuch (SGB) oft vorkommt. Während sonst die Sozialgerichte bei der Klärung von Rechtsauslegungen meistens hilfreich gewesen sind - wenn auch nicht immer zur Freude der zahlungspflichtigen Krankenkassen -, haben sie sich bei der Definition des Begriffs der "Angemessenheit" der Vergütung der ärztlichen Leistungen hinter dem Vertragsgegenstand "Gesamtvergütung" in Sicherheit gebracht. Bezieht sich aber die "Angemessenheit" auf die Gesamtvergütung, sind es die Elemente, aus denen die Bewertung der ärztlichen Leistung abgeleitet wird - der Bewertungsmaßstab und die Honorarverteilungsmaßstäbe (HVM) -, die zur Manövriermasse einer Angemessenheit der Leistungsvergütung im einzelnen werden.
Zur Zeit gibt es keine stabilen Leistungspreise für die ärztliche Behandlung von Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen (GKV). Die "Honorargerechtigkeit", die von den Ärzten gefordert und die von den Patienten erwartet wird, ist nicht einmal in den Durchschnittsbewertungen zu garantieren, in denen sich der PreisLeistungs-Bezug in der Vergütung vertragsärztlicher Behandlungen ohnehin aufgelöst hat. Der "Wirtschaftsbereich Gesundheit" mit leistungsbezogenen Bewertungen der ärztlichen Arbeit ist zugunsten anderer Bereiche der Marktwirtschaft in einen "Sondermarkt" mit zugeteilten Ressourcen verwandelt worden. An die Stelle von Marktregeln, in denen sich soziale Unterschiede auswirken können, tritt in einem künstlich begrenzten, sozial finanzierten Anteil der Gesamtwirtschaft die Verteilung mit der immanenten Forderung nach "Verteilungsgerechtigkeit". Diese Variante einer Gerechtigkeit ist für den einen gerecht, für den anderen ungerecht, weil Leistung subjektiv besetzt ist und ihr Erfolg zumindest in der Patientenbehandlung nur selten vergleichbar ist. Es ist ähnlich wie mit dem politischen Begriff einer "sozialen Gerechtigkeit", der "Gerechtigkeit" als ordnenden Rechtsbegriff unbrauchbar gemacht hat. Jeder kann ihn zum eigenen Vorteil drehen und wenden.


Krankenversicherung auf Markt getrimmt?
Zur Zeit läuft in der Gesetzgebung der Versuch, aus dem GKV-System einen sozial finanzierten, geschützten Marktbereich zu formen. Im Rahmen von Selbstverwaltungsvereinbarungen sollen sich Wettbewerbselemente ordnend und qualitätsfördernd auswirken und dabei die Vorteile einer pluralistischen Wirtschaftsstruktur nutzen: mit Freiberuflern, selbständigen Gesundheitsberufen, Handwerkern und mit im eigenen wie im Patienten-Interesse sparsam arbeitenden Krankenhäusern.
Da aber der politische Machtkampf nicht entschieden ist zwischen denen, die ein sozialistisches Gesundheitswesen in seiner Funktion als Herrschaftsinstrument in einem entscheidenden Lebensbereich der Bürger unbedingt erhalten wollen, und denen, die überall in der Gesellschaft soviel Freiheit und Verantwortung wie möglich wirksam werden lassen wollen, ist es Sache der Ärzte, ihre Option für eine qualifizierte, persönliche und humane Krankenversorgung offenzuhalten. Unter so instabilen politischen Verhältnissen gerät die Vorstellung von einer Honorargerechtigkeit für den Arzt zur Utopie. Für die gesamte Berufsgruppe müssen an die Stelle des Kampfes aller gegen alle um die zu geringen Ressourcen gemeinsame Überlebensstrategien treten. Die Konzepte dafür müssen in erster Linie die dem Patienten verantwortliche Arztrolle festschreiben.
Einheitliche Bewertungsmaßstäbe und HVM sind Versuche, eine hochentwickelte und effiziente ambulante Krankenversorgung durch unruhige und finanziell magere Jahre zu steuern. Mehr sollte von ihnen nicht erwartet werden. In ihrem Rahmen bleibt den Ärzten nur übrig, für die Krankenversorgung das Beste daraus zu machen. Dafür wird ein Krisenmanagement benötigt. Denn trotz der Finanzierungsdefizite gebietet es der ärztliche Auftrag, die leistungsfähigen Versorgungsstrukturen zu erhalten. Dazu haben die Kassenärztlichen Vereinigungen einen gesetzlichen Sicherstellungsauftrag. Sie müssen möglich machen, was weder der einzelne Arzt noch eine Gruppe von Ärzten zustande bringen kann.
Die Kassenärztlichen Vereinigungen sind eben nicht nur Honorarverteilungs- und Verwaltungsbehörden. Sie sind auch nicht nur dazu da, mit den Krankenkassenverbänden Verträge zu schließen. Sie sind in erster Linie eine Genossenschaft von Ärzten, eine ärztliche Organisation, die ermöglichen soll, was ein Vertragsarzt auch in finanziell bedrängten Zeiten an qualifizierter Krankenversorgung, unter Einsatz seiner und seiner Kollegen persönlichen und medizinisch-technischen Möglichkeiten, für seine Patienten leisten kann.
Die Ärzte in der Krankenversorgung dürfen in solchen Zeiten nicht gegeneinander streiten. So hervorragend ist keiner, daß er durch kollegiale Zusammenarbeit nicht noch besser werden könnte. Mit ihren Genossenschaften, den Kassenärztlichen Vereinigungen, dienen die Ärzte ebenso der Patientenversorgung wie mit ihrer eigenen Arbeit. Organisation, Kommunikation und Qualitätssicherung sind Gemeinschaftsaufgaben, die nicht jeder für sich aufbauen kann. Die "Monopolstellung", die von den volkswirtschaftlichen Dogmatikern lediglich als Marktprivileg beurteilt wird, ist unverzichtbarer Teil einer modernen Arbeitsteilung in der praktizierten Medizin. Sie steht deshalb nicht als beliebig austauschbare Vertragsvariante zur Disposition.
Es ist notwendig, daß der Gesellschaft wieder klar wird, daß die persönliche Krankenversorgung nicht im Dienste von Krankenkassen oder, von Ausnahmen abgesehen, auch nicht im Dienste des Staates erfolgt, sondern im Dienste der Gesundheit des einzelnen Menschen. Daran ändert auch der soziale Ausgleich nichts, der durch die Krankenkassenbeiträge oder durch eine Steuerfinanzierung erfolgt. Nicht wer zahlt, schafft an, sondern es ist der Auftrag des Arztes in hippokratischer Tradition, der sich auch in der deutschen Gesetzgebung wiederfindet. Insbesondere die Krankenkassen als privilegierte Kassierer von BeitragsMilliarden scheinen sich nicht immer darüber bewußt zu sein, daß sie dieses Geld verwalten, um in Anspruch genommene Leistungen zugunsten ihrer Versicherten bezahlen zu können, und nicht dafür, die Versicherten als Nutznießer von Dumping-Preisen einer fragwürdigen Situation auszusetzen. Auch das könnte einmal Anlaß zum Wechsel einer Krankenkasse werden.
Nach ihrem beruflichen Selbstverständnis können sich die Ärzte nicht ökonomisch fremdbestimmen lassen. Sie müssen jeweils tun, was sie können, nach bestem Wissen und Gewissen. Eine Gesellschaft, die dies erhalten will, muß wissen, daß sie dafür Spielräume offenhalten muß. Die Menschen und ihre Schicksale sind verschieden, und aus dieser Verschiedenheit resultiert ein unterschiedlicher Bedarf an Ressourcen für ihre Heilbehandlung. Das verbietet auch bei Nutzung statistischer Durchschnitte eine Budgetierung. Ebenso verbietet sich unter Ärzten ein vorrangiger Wettbewerb um hohe Gewinne aus ihrer Berufstätigkeit. Wer darauf nicht verzichten will, sollte einen anderen Beruf wählen. Die hohe Zahl an Interessenten am Arztberuf läßt vermuten, daß dieses Merkmal des Arztberufes nicht allen gegenwärtig ist.
Die finanzielle und strukturelle Krise in der Krankenversorgung ist mit motivierten und kollegial eingestellten Ärztinnen und Ärzten jedenfalls eher zu überwinden als mit einem Wettbewerb, bei dem der Arztberuf unter die Räder gerät.


Prof. Dr. med. Ernst-Eberhard Weinhold
Dorfstraße 140
27637 Nordholz

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Clade, Dr. Harald

Gesundheitsreform/Koalitionspapier: Kassenärzte wollen nicht Konkursverwalter werden

in: Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 10 (12.03.1999), Seite A-591
POLITIK: Leitartikel

Verbände der Leistungsträger befürchten Entsolidarisierung und Amerikanisierung des deutschen Gesundheitswesens.
Die Resonanz der Spitzenverbände der Leistungserbringer im Gesundheitswesen auf das Koalitionspapier zur "Strukturreform 2000" ist fast einhellig negativ: Die Bundesärztekammer, die Kassenärztliche Bundesvereinigung, die meisten Ärzteverbände, die Zahnärzteschaft, die Apotheker und die Pharmaindustrie lehnen die Reformoptionen der Koalition als unannehmbar ab, weil sie zu einer völligen Umstülpung des Systems führen und die Leistungsträger erneut zum Lastesel der Kostendämpfung machen würden. Anders der BDA Berufsverband der Allgemeinärzte Deutschlands - Hausärzteverband - e.V.: Er kann sich mit wesentlichen Elementen der beabsichtigten Strukturänderungen anfreunden, weil er darin hausärztliche Partikularinteressen erfüllt sieht. Auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft e.V. (DKG) gewinnt dem Bonner Szenario Gutes ab; die DKG bezeichnet die beabsichtigte institutionelle Öffnung der Krankenhäuser als einen "zukunftsweisenden Schritt". Die Krankenhausträger lehnen jedoch das Einkaufsmodell ebenso ab wie die reine "Finanzierungsmonistik".
Die Spitzenverbände der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) "glänzen" mit beredsamer Zustimmung oder "hektischem" Schweigen, lassen doch die Bonner Vorstellungen erkennen, daß die Krankenkassen bei der Formulierung des Koalitionspapiers mit die Feder geführt haben.
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung sieht sich bereits vor vollendete Tatsachen gestellt: Der Ärzteschaft wurde nicht einmal die Chance geboten, ihre Vorschläge einzubringen. Mit den Eckpunkten zur Gesundheitsreform droht die Gefahr, daß das gewachsene, gegliederte System der gesundheitlichen Sicherung in Deutschland zu anderen Ufern driftet, indem starke zentralverwaltungswirtschaftliche Strukturelemente mit pseudowettbewerblichen Regulativen amerikanischer Prägung verbunden werden. Flickenteppich
Dies führt in ein zersplittertes bis chaotisches Versorgungsangebot, wobei die gemeinsame Selbstverwaltung von Vertragsärzten und Krankenkassen zerschlagen wird. Zudem sollen den Krankenkassen so viel Macht- und Gestaltungsbefugnisse zugeschanzt werden, daß sie künftig, ohne das Versicherungsrisiko voll zu übernehmen, die Definitions- und Gestaltungsmacht hätten. Die Kassenärztlichen Vereinigungen würden weitgehend des Sicherstellungsauftrages entledigt.
Dr. med. Winfried Schorre, Vorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), kündigte an: "Den Ausverkauf des Solidarsystems und eine Amerikanisierung des Gesundheitswesens wird die Ärzteschaft mit allen Mitteln bekämpfen. Die Kassenärztlichen Vereinigungen werden nicht als Konkursverwalter des bisherigen Systems zur Verfügung stehen und damit die Wettbewerbspolitik der Krankenkassen finanzieren."
Die KBV wirft der Koalition Wortbruch vor, weil sie das auf ein Jahr befristete sektorale Budget unter anderem Vorzeichen (Globalbudget) für die vertragsärztlichen Leistungen, die Arznei- und Heilmittel auf Dauer fortsetze. Die Mindestforderung der KBV: Unterhalb des Globalbudgets muß es für alle Leistungsbereiche gleiche Vergütungssysteme geben. Schon jetzt gibt es zwischen ambulantem und stationärem Sektor und an den Schnittstellen ambulant/stationär schieflastige Finanzierungssysteme, zumeist zugunsten des stationären Bereichs.
Die Kassenärzte befürchten zudem, daß über den jetzt beabsichtigten forcierten Wettbewerb der Krankenkassen untereinander eine flächendeckende, bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung mit qualitativ hochstehenden Leistungen gefährdet wird. Die strikte Bindung des höchst zulässigen Ausgabenanstiegs in der Gesetzlichen Krankenversicherung an die Entwicklung der Grundlohnsumme legitimiere die Krankenkassen als eigentliche Kostenträger, das Morbiditätsrisiko weitgehend auf die Leistungserbringer zu verlagern und diese als Rückversicherer zu mißbrauchen. Die Regierungskoalition macht keinen Hehl daraus, die Leistungserbringer als eigentliche Lastträger der Kostendämpfungspolitik weiter einzuspannen.
Eine fatale Entwicklung bahnt sich auch insofern an, als alle Regulative dazu beitragen, die Budgets in den einzelnen Sektoren zu verfestigen und durch die strenge Abschottung zu verhindern, daß die finanziellen Zuflüsse tatsächlich der Leistung folgen. Hinzu kommt die künftig einseitig verstärkte Befugnis der Krankenkassen zur Definition des Leistungsgeschehens, der Versorgungsstrukturen und der Abläufe. Dadurch wird die gemeinsame Selbstverwaltung faktisch abgeschafft, denn die ärztliche Selbstverwaltung wird ihrer wichtigsten Funktionen weitgehend enthoben.
Die Schieflage sieht die KBV vor allem darin begründet, daß die Krankenkassen alles und jedes bestimmen dürfen, ohne zugleich die Last der Verantwortung der Ergebnisse des Handelns (und Unterlassens) und der durch die Politik und die Kassen verursachten Strukturverwerfungen zu übernehmen. Die Vertragsärzte sehen einen zukunftsweisenden Weg in der Weiterentwicklung bewährter Strukturen, der Durchführung der ambulanten Versorgung nach qualitativ einheitlichen Kriterien und KV-verbindlichen Vertragsbedingungen. Dabei ließen sich auch auf dem Fundament des SGB V Offensiven für die gemeinsame und sektorenübergreifende Berufsausübung in kooperativen Praxisstrukturen, vernetzten Praxen und Verbünden auch mit dem Kliniksektor bei gutem Willen verwirklichen, so Schorre.
Einkaufsmodell
KBV-Hauptgeschäftsführer Dr. jur. Rainer Hess warnte vor der Presse in der letzten Woche in Bonn die Politik davor, die Kassen zu ermächtigen, über das Einkaufsmodell die medizinisch notwendige Regelversorgung zu gefährden. Den Krankenkassen dürfe nicht zugestanden werden, im Rahmen von Einzelverträgen mit Vertragsärzten oder Gruppen von Ärzten nach der Art des "billigen Jakobs" Leistungsanbieter zu verdingen, je nach Gusto und Kassenlage und nach den Angebotsbedingungen (Stichwort: "Ärzteschwemme"). Es besteht zudem die Gefahr, daß sich die Krankenkassen dabei in erster Linie am Interesse des (gesunden) Versicherten, nicht aber an dem des (kranken) Patienten orientieren.
Selektive Verträge und eine Zerstörung des regionalen Gleichgewichts können dazu führen, daß die Krankenkassen die Gelder je nach Ressourcenlage und ohne Zustimmung der Kassenärztlichen Vereinigungen nach Belieben regional unterschiedlich und auf eine bevorzugte Versorgung bestimmter Patientengruppen verteilen. Die Einheitlichkeit und Ausgewogenheit der Versorgung auch chronisch Kranker ginge dadurch verloren. Bei einer Sektionierung der Budgets käme der einzelne Arzt unter die Räder, denn auf Dauer kann er den wachsenden Wettbewerbsdruck (auch im Vergleich zum Kliniksektor) und das Kassendiktat nicht aushalten.
Die Kassenärztlichen Vereinigungen wollen nicht die Rolle des Lückenbüßers übernehmen und für das geradestehen, was die Krankenkassen und "Netz-Verbündeten" nicht selbst erledigen wollen oder können. Eine reine Notariatsfunktion der KVen im Zusammenhang mit Modellvorhaben und Strukturverträgen führe nicht nur zu einer Sinnentleerung der kassenärztlichen Selbstverwaltung, sondern bedeute auch das Ende des Sicherstellungsauftrags.
Gefahren von Sonderverträgen etwa bei der Versorgung von chronisch Kranken und atomisierten Strukturverträgen bestehen auch für die Patienten. Sie wären die Verlierer, wenn die verbleibende Regelversorgung unter den Deckel eines schrumpfenden Restbudgets gezwängt würde. Gift für die Versorgung ist auch die von der Koalition befürwortete Umstellung der Vergütung auf mehr qualitätsorientierte BonusMalus-Regelungen. Dies könnte zu offenen oder verdeckten Rationierungsmaßnahmen führen - begleitet von der rascher fortschreitenden Entsolidarisierung der Krankenkassen. Die Kassenärztlichen Vereinigungen könnten diesem Negativtrend nichts entgegensetzen. Eine stagnierende Gesamtvergütung könnte zu unkoordinierten, politisch nicht gewollten Rationierungsprozessen führen.
Positivliste
Nach dem Vereinbarungspapier sollen die derzeitigen Zuzahlungen bei Arzneimitteln in Höhe von acht, neun und zehn DM, je nach Packungsgröße (N1, N2, N3), vorerst erhalten bleiben. Es werde aber noch geprüft, ob sich die Direktbeteiligungen künftig nach medizinischen Kategorien oder Indikationen staffeln ließen. Geplant ist die Auflage einer Positivliste, die all jene Präparate aufnehmen soll, deren Kosten von den Krankenkassen übernommen oder erstattet werden. Geplant ist die Errichtung eines unabhängigen Arzneimittelinstituts, das die Liste mit Experten zusammenstellen soll. Nach Schätzungen beläuft sich das Volumen der Präparate "von zweifelhaftem Nutzen" auf sechs bis sieben Milliarden DM. In der zahnärztlichen Versorgung soll durch eine veränderte Vergütung der Zahnärzte die Prophylaxe gestärkt werden. Dr. Harald Clade

 

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Maus, Josef

Strukturreform: Kalte Rationierung von Gesundheitsleistungen

in: Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 20 (21.05.1999), Seite A-1319
POLITIK: Leitartikel

Der Arbeitsentwurf aus dem Hause Fischer stößt auf breite Ablehnung. Die Ärzte befürchten eine massive Beeinträchtigung der Versorgung.
Einen Vorwurf mag die neue Bundesgesundheitsministerin nun wirklich nicht mehr hören: Ihre Ankündigungen und Aussagen zur Gesundheitsreform 2000 blieben im Unverbindlichen. Seit Ende April verweist Andrea Fischer deshalb wiederholt auf den Arbeitsentwurf ihres Ministeriums zum Gesetz über die anstehende Reform. Geholfen hat ihr das jedoch wenig. Kaum lag das mehr als 100 Seiten umfassende Papier vor, wird ihm nämlich schon in "Bonner Kreisen" ein wenig schmeichelhaftes Etikett angeheftet: "Privatentwurf aus dem Hause Fischer", heißt es vielsagend. Alleingang innerhalb
der Koalition
Daß dieser Entwurf (dazu DÄ, Heft 19/1999) auch dem großen Koalitionspartner der grünen Ministerin fertig formuliert (quasi als Paket) zugestellt worden ist, spricht einerseits für den Willen Fischers, der Reform den eigenen Stempel aufzudrücken. Andererseits deutet dies nicht gerade auf einen engen Schulterschluß mit der SPD-Fraktion hin. Andrea Fischer - seit ihrer Amtsübernahme in ständige Querelen mit dem SPDGesundheitsexperten Rudolf Dreßler MdB verstrickt - läuft Gefahr, sich zu isolieren. Auf Freunde und Förderer unter den Betroffenen kann sie (wie auch ihre Vorgänger) ohnehin nicht hoffen. Dafür sind die geplanten Einschnitte zu gravierend, die Kerngedanken der Reform, die fortgesetzte Budgetierung und eine deutliche Machtverschiebung zugunsten der Krankenkassen, zumindest in der Ärzteschaft zu verpönt. Entsprechend fielen die ersten Reaktionen auf den Arbeitsentwurf aus: Ablehnung allenthalben, lediglich der Berufsverband der Allgemeinärzte Deutschlands (BDA) hält sich momentan zurück, weil er für die Hausärzte einige positive Ansätze sieht und wohl auch noch auf weitere Verbesserungen hofft.
Demgegenüber weist die Kassenärztliche Bundesvereinigung den Entwurf in toto zurück. Der Vorsitzende der KBV, Dr. med. Winfried Schorre, befürchtet, "daß viele Ärzte nicht mehr bereit sein werden, unter diesen Bedingungen an der kassenärztlichen Versorgung teilzunehmen". Ebenso fraglich sei, ob die KVen überhaupt noch in der Lage seien, die ambulante Versorgung sicherzustellen, wenn zugleich die Krankenkassen in einem Globalbudget direkt mit einzelnen Ärzten Verträge schließen können.
Im Hinblick auf die Arzneimittelversorgung riskiere die Bundesregierung mutwillig sogar einen "Zusammenbruch in weiten Teilen des Landes". Fischers Entwurf sieht bei der Festsetzung der Budgets die Orientierung an den drei Regionen mit den geringsten Ausgaben vor und verkennt damit auch nach Auffassung der pharmazeutischen Industrie die (zumeist strukturell bedingten) unterschiedlichen Gegebenheiten vor Ort.
Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) geht nicht weniger hart mit der Fischer-Vorlage ins Gericht. "Wenn die Vorstellungen zur Ausgestaltung des Globalbudgets Wirklichkeit werden, kommt die kalte Rationierung von Gesundheitsleistungen", prophezeite Wolfgang Pföhler. Beim Übergang zur monistischen Krankenhausfinanzierung, so der DKG-Präsident, gebe es kein Konzept für die Gegenfinanzierung. Die Folge sei, daß die Kliniken die Instandhaltung letztlich selbst bezahlen müßten. Ein massiver Stellenabbau und Lücken in der Patientenversorgung wären bei solchen Rahmenbedingungen unvermeidbar.
Nur drei Wochen bis zum nächsten Entwurf
Ist das nun alles bloßes "Kriegsgeschrei" oder doch Ausdruck ernsthafter Sorgen um die Zukunft des Gesundheitswesens? Die Bundesgesundheitsministerin hat nur wenig Zeit, diese Frage zu beantworten. Bereits am 25. Mai soll der Referentenentwurf zur Gesundheitsreform vorliegen. Das ist dann die Grundlage für den Kabinettsbeschluß, dem die Entscheidung des Bundestages und Bundesrates über das Gesetz folgen werden.
Im Augenblick deutet die allgemeine Stimmungslage (auch die politische) eher auf das Scheitern der Reform hin. Gut möglich aber auch, daß am Ende nur noch ein Reförmchen übrigbleibt. Josef Maus

 

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Glöser, Dr. Sabine

Kassenärzte: Budgetkoller

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 46 (13.11.1998), Seite A-2869
Seite eins

Mit Erstaunen, Beunruhigung, Protest haben die Vertragsärzte auf die von der neuen Regierungskoalition angekündigte "vorläufige Ausgabenbegrenzung" im Gesundheitswesen reagiert. Sie warnen vor einer Rückkehr zur reinen Kostendämpfungspolitik mit starren Budgets. Die gehören für den Vorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Dr. med. Winfried Schorre, nicht zu den akzeptablen Rahmenbedingungen der Gesetzlichen Krankenversicherung.
Der KBV-Vorsitzende befürchtet, daß die Begrenzung der Kassenausgaben zu Lasten der ambulanten Versorgung geht. Es könne nicht sein, sagte er bei einem Symposium der KBV in Königswinter, daß die ungebrochene Ausgabendynamik der Kassen für das Krankenhaus den ambulanten Sektor unter den starren Grenzen eines Budgets erdrückt - aufgrund der Unfähigkeit der Politik, die Macht der Krankenhausträger zu reduzieren. Hinzu kommt: Die Koalition will die finanziellen Belastungen der Versicherten zum Teil zurücknehmen, die Gegenfinanzierung ist jedoch noch offen. Falls diese nicht vorgesehen oder möglich sei, mutmaßt Schorre, werde sie zu Lasten der Leistungserbringer und deren Budgets erfolgen. Er warnte zugleich vor den Folgen einer strikten Ausgabendeckelung. Unter einem Budget müsse die Leistungsmenge an die Menge des zur Verfügung stehenden Geldes angepaßt werden. Die Konsequenz wäre, "mit einem Bein im Fettnäpfchen der Rationierung zu stehen".
Als richtigen Weg bezeichnete der KBV-Vorsitzende indes die "mühsame Entwicklung" eines Flexibilisierungsprozesses in der vergangenen Legislaturperiode. Dazu zählten die Einführung von ArzneimittelRichtgrößen und Regelleistungsvolumina. Schorre hält die Konzentration auf das medizinisch Notwendige für unabdingbar, um den knappen finanziellen Ressourcen der Gesetzlichen Krankenversicherung Rechnung zu tragen. Und dazu würden sich die Vertragsärzte bekennen, betonte er. Dieses Umdenken erkenne man an der geplanten Neugestaltung des Laborbereichs und der Umstrukturierung des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs zu einer Gebührenordnung mit Leistungskomplexen und sinnvoller Mengensteuerung.
Eines steht für den KBV-Vorsitzenden fest: Die Leistungserbringung und auch die Finanzierung müssen sich am Versorgungsbedarf des Patienten orientieren. Aufgabe der Selbstverwaltung - und nicht der Politik - sei es nun, den Versorgungsbedarf zu definieren. Dr. Sabine Glöser

 

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Jachertz, Norbert

Gesundheitspolitik: Der Grund-Konflikt

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 47 (20.11.1998), Seite A-2941
Seite eins

Andrea Fischer, die neue Bundesgesundheitsministerin, wird derzeit von aller-lei Kommentatoren darauf eingestimmt, was ihr blühe, wenn sie im Gesundheitswesen reformieren wolle. Sie werde es mit starken Lobby-Gruppen zu tun haben, an denen schon ihre Vorgängerinnen und Vorgänger gescheitert seien. Genannt werden "die mächtige Pharmaindustrie" und "die Ärzte"; unterschlagen werden zumeist die Krankenkassen. Interessenpolitik funktioniert im Gesundheitswesen nicht besser und nicht schlechter als etwa in der Wirtschaftspolitik oder in der Agrarpolitik. Die Wirtschaftsminister hatten immer - egal unter welcher Regierung - ein offenes Ohr für die Interessenverbände, insbesondere der Großindustrie. Die brauchten in den letzten Jahren nur mit den Keulen Arbeitsplatzabbau und Standortverlagerung zu winken, schon knickte die Regierung ein. Die Landwirtschaft wurde sogar direkt am Kabinettstisch durch einen der Ihren repräsentiert.
In der Gesundheitspolitik war es ein wenig anders. Hier hat sich der für die Krankenversicherung zuständige Minister überwiegend als Gegenpart der vermeintlich mächtigen Gruppen verstanden und sich in der Regel eher den Krankenkassen verbunden gefühlt. Erst Horst Seehofer hat hier gewechselt: In der einen Legislaturperiode kamen die Krankenkassen dran, in der nächsten die Leistungserbringer. Zur Zeit scheinen die Krankenkassen wieder am Zuge zu sein. Jedenfalls sieht das Vorschaltgesetz, das mit Hochdruck innerhalb eines Monats durch das Parlament gedrückt werden soll, ohne daß die Beteiligten groß dagegen auffahren könnten, über weite Strecken so aus, als käme es aus dem AOK-Bundesverband. Die Erfahrungen der früheren Bundesgesundheitsminister lehren, daß es nicht der Sache dient, allzusehr eine Seite zu bedienen. In der Gesundheitspolitik müssen vielmehr eigene Akzente gesetzt werden, unter Berücksichtigung der (gegenläufigen) Interessen, aber nicht unter einseitigem Nachgeben gegenüber dem einen oder anderen.
Maßstab für einen Gesundheitsminister kann eigentlich nur die humane Krankenversorgung sein, nicht einmal stabile Beitragssätze, obwohl die öffentliche Diskussion seit Jahren offenbar die als den eigentlichen Gegenstand von Gesundheitspolitik ansieht. Blüm oder Seehofer sind nicht an den Interessengruppen gescheitert, wenn sie denn gescheitert sind (das wäre noch eine Untersuchung wert), sondern an dem Grund-Konflikt der Gesundheitspolitik, mit dem sich auch Frau Fischer herumschlagen muß: Die Erwartungen an die medizinische, ärztliche und pflegerische Versorgung sind hoch, steigen, der objektive Behandlungsbedarf nimmt zu, während die Finanzmittel in diesem Ausmaß nicht nachkommen. Hier hilft keine Gesundbeterei. Darunter fällt auch der beliebte Hinweis auf die Rationalisierungsreserven. Kanzler Schröder hat diese alte Gebetsmühle gerade während der Regierungserklärung wieder gedreht. Es gibt sicher Rationalisierungsreserven. In einem Markt, in dem über 500 Milliarden Mark umgesetzt werden, kann das gar nicht anders sein. Aber bisher fehlen überzeugende Nachweise, daß mit Rationalisierung der steigende Leistungsbedarf tatsächlich bewältigt werden kann. Es gibt allerdings Heilslehren (und die sollten als solche erkannt werden), als da sind: strikte Budgetierung, reiner Wettbewerb oder neuerdings Primärarztsystem, Vernetzung, Einkaufsmodell. Das mag alles etwas bringen. Letzten Endes bleibt der Grund-Konflikt: Zu wenig Geld für zu (?) hohe Ansprüche. Die Schlußfolgerung für die Gesundheitspolitik heißt schlicht und dramatisch: Verbesserung der "Einnahmeseite" oder Leistungsabbau bis hin zur Rationierung. Wenn letztere unausweichlich erscheint, muß es offen ausgesprochen werden - und zwar von Gesundheitspolitik und Krankenkassen. Es wäre unredlich, von den Leistungserbringern zu erwarten, das Rationieren gleichsam stillschweigend zu besorgen. Das mag noch angehen, solange es um Firlefanz geht, nicht aber, wenn echte medizinische Leistungen betroffen sind. Eine Anfrage des Deutschen Ärzteblattes an seine Leser hat in dieser Hinsicht einiges zutage gefördert: Von 450 Lesern sind dreiviertel der Meinung, es werde bereits rationiert; sie haben aufgelistet, wo das heute schon der Fall ist. Die Befragung wird zur Zeit ausgewertet, das Ergebnis wird in einem der nächsten Hefte veröffentlicht. Norbert Jachertz

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Jachertz, Norbert

Vilmar: Tabubruch

in: Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 1-2 (08.01.1999), Seite A-1
Seite eins

Mit einer provozierenden, mißverständlichen und prompt auch mißverstandenen Kommentierung der Kostendämpfungspolitik hat Bundesärztekammerpräsident Karsten Vilmar für Aufregung, ja öffentliche Empörung gesorgt. Zunächst jedenfalls. In einem Rundfunkinterview (mit dem NDR) hatte er auf den Widerspruch zwischen stagnierenden Finanzmitteln für das Gesundheitswesen einerseits und der steigenden Lebenserwartung andererseits hingewiesen, und dann kam der ominöse Satz: Angesichts dessen müsse sich die Gesellschaft überlegen, "ob wir das sozialverträgliche Frühableben fördern müssen". Die Irritation war groß. Politiker, Verbandsfunktionäre, einzelne Ärzte legten Vilmar den Rücktritt nahe. Manch einer wollte freilich ein paar Tage später das alles gar nicht so gemeint haben.
Denn inzwischen war die Diskussion in anderes Fahrwasser geraten. Vilmar hatte seine "ironisch überzogenen Äußerungen" in einem weiteren Interview (mit dem Kölner Stadt-Anzeiger) zurechtgerückt. Und angefügt: "Wenn dadurch die Bevölkerung oder gar Patienten irregeführt wurden, dann tut mir das aufrichtig leid."
Damit war der Weg frei zu einer offenen Auseinandersetzung über das Problem. Über Rationierung als technokratische Chiffre läßt sich abstrakt trefflich diskutieren. Den Mann oder die Frau von der Straße berührt das wenig, solange das Tabu gewahrt bleibt, das da heißt, über die harte Konsequenz von Rationierung zu schweigen. Erst der Tabubruch stört.
Wenn in diesem Jahr 1999 über eine erneute Strukturreform im Gesundheitswesen befunden wird, dann sollte ihr eine vorbehaltlose und ehrliche Debatte vorausgehen. Norbert Jachertz

 

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Rieser, Sabine

Diskussion mit Andrea Fischer: Mehr Geld gibt es nicht

in: Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 20 (21.05.1999), Seite A-1305
Seite eins

M inister(innen) rauschen zu sogenannten Diskussionsveranstaltungen meist gehetzt heran, überziehen ihre Redezeit und verkürzen damit die 15 Minütchen, die noch zur Debatte bleiben. Eine Ausnahme machte in der vergangenen Woche die Bundesgesundheitsministerin: Andrea Fischer nahm sich mehr als zwei Stunden Zeit, um während des Berliner Hauptstadtkongresses "Medizin und Gesundheit" mit Ärzten, Logopäden, Altenpflegern und anderen im Gesundheitswesen Tätigen über die Gesundheitsreform 2000 zu diskutieren.
Fischer verteidigte vor aufgebrachten Zuhörern ihre Pläne und machte unmißverständlich klar: egal wie die Argumente lauten, mehr Geld wird es für das Gesundheitswesen nicht geben. Es sei Teil des Staatswesens und könne nicht stetig mehr finanzielle Ressourcen beanspruchen. Außerdem, gab sie zu verstehen, werde das Geld sowieso nie reichen, weil die Nachfrage im Gesundheitswesen nun einmal unbegrenzt sei.
Die Anwesenden hatten solche Argumente jedoch hörbar satt, und das ist aus ihrer Sicht verständlich. Zwar klingt es stets nach viel Geld, wenn Politiker anführen, wieviel "die" ambulante Versorgung oder "das" Gesundheitswesen kosten. Doch Deutschland ist auch kein Zwergstaat, sondern ein Land, in dem rund 80 Millionen Einwohner ärztlich und pflegerisch betreut werden müssen. Zudem sehen all die üppigen Zahlen, heruntergerechnet auf einzelne Ärzte oder Leistungen, ganz anders aus. "Das ist Mangelverwaltung, wenn ich pro Quartal und Patient gerade neun DM für Heilmittel zur Verfügung habe", schimpfte ein Arzt. Ein anderer ergänzte, neue HIV-Medikamente verschlängen Tausende von Mark. Da könne man doch nicht allen Ernstes behaupten, die ließen sich locker durch ein paar Einsparungen bei älteren Medikamenten hereinholen.
Fischer bekam jedoch nicht nur wütende Statements zu hören, sondern hier und da auch Beifall. Damit gaben die Ärzte zu verstehen, daß sie manches Verhalten ihres Berufsstandes durchaus kritikwürdig finden. Außerdem kann man Sätzen wie "Im Gesundheitswesen heißt innovativ sein mehr als nur überlegen, wie neue Mittel ins System kommen" wohl auch nur zustimmen. Sabine Rieser

 

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Porzsolt, Prof. Dr. med. Franz; Hart, Prof. Dr. jur. Dieter

Zwischen Recht und Ökonomie

in: Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 19 (09.05.1997), Seite A-1242
POLITIK: Kommentar

Lieber eine Untersuchung zu viel als eine zu wenig, ist die von den meisten Ärztinnen und Ärzten akzeptierte Strategie, um Konflikte zwischen Recht und Medizin zu vermeiden. Diese Strategie führt aber zwangsläufig zum Konflikt zwischen Medizin und Ökonomie.
Jeder Arzt kennt Untersuchungen, deren Streichung keinen Einfluß auf die Quantität und Qualität des Lebens der Leistungsnehmer (Patienten) hätte. Die Streichung hätte aber sehr wohl Einfluß auf die wirtschaftlichen Überlebenschancen der Leistungserbringer. Im Klartext: Das im Gesundheitssystem erbrachte Leistungsspektrum orientiert sich primär - völlig zu Recht - an den wirtschaftlichen Überlebenschancen der Leistungserbringer und nicht an den Bedürfnissen der Leistungsnehmer.
Ein Beispiel: Um durch die präoperative Röntgenuntersuchung des Thorax einen einzigen Todesfall zu verhindern, waren im Jahr 1991 Thoraxuntersuchungen im Wert von etwa 2,5 Millionen DM notwendig. Dabei muß geprüft werden, ob mit diesen Ressourcen nicht mehr als nur ein Todesfall verhindert werden könnte, wenn die Radiologen das Geld für andere Leistungen ihres Fachgebiets verwenden würden.
Kein Jurist würde den Finger heben, wenn diese Entscheidung von den Fachgesellschaften käme. Ein Arzt jedoch, der auf eigene Faust auf den präoperativen Thorax verzichtet, hätte sicher schlechte Karten.
Fünf Dinge sind daraus zu lernen:
Erstens: Es gibt eine politische Entscheidung, die von Fachgesellschaften oder Verbänden getroffen wird, die der individuellen Entscheidung des einzelnen Arztes übergeordnet ist. Um die politische Entscheidung zu rechtfertigen, sind Ergebnisse vorzuweisen, die belegen, daß durch den Verzicht kein Schaden für die Patienten entsteht. Aufgabe der Wissenschaftler ist, die Basisergebnisse für diese Entscheidung zur Verfügung zu stellen.
Zweitens: Die Reihenfolge der Entscheidungen ist nicht unerheblich. Ein an logischen Gesichtspunkten orientiertes, konsekutives Ordnungsprinzip ist grundsätzlich einzuhalten: Forschungsergebnis, dann berufspolitische Entscheidung, dann individuelle Arztentscheidung.
Drittens: Die Ärzte selbst müssen den medizinischen Fachgesellschaften Vorschläge zu notwendigen Änderungen im Gesundheitssystem unterbreiten und sollten nicht auf die Vorschläge der Politiker warten.
Viertens: Der Jurist setzt keine Norm, sondern entscheidet, ob die fachlich begründete Norm vom behandelnden Arzt eingehalten wurde. Wenn ökonomische Überlegungen erst im (besonders haftungsrechtlichen) Entscheidungsfeld des Juristen angestellt werden, kommen sie zu spät.
Fünftens: Zwischen Ökonomie und Recht braucht es in der Medizin keine Reibungsflächen zu geben, wenn das konsekutive Ordnungsprinzip eingehalten wird.
Quintessenz: Anstatt am Ende der Entscheidungskette hinterherzulaufen, sollten die Ärzte den Fachgesellschaften/Verbänden die Mängel des Systems benennen. Die Fachgesellschaften definieren die Norm, und die Juristen beurteilen die Einhaltung der Norm. Dieses Ordnungsprinzip wäre sinnvoller und für die Ärzte angenehmer als die unbequeme Enge zwischen Recht und Ökonomie.


Prof. Dr. med. Franz Porzsolt
Klinische Ökonomik
Abt. Psychotherapie und
Psychosomatische Medizin
Klinikum der Universität Ulm


Prof. Dr. jur. Dieter Hart
Graduiertenkolleg
Fachbereich Rechtswissenschaft
Universität Bremen