Berichte und Reden - Ärztetage
Medizinische Hochschulen im Wandel: Hochschulmedizin vor großer Herausforderung
in: Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 25 (21.06.1996), Seite A-1680
POLITIK: Deutscher Ärztetag
Die Medizinischen Hochschulen und die Universitätskliniken als Stätten der Hochleistungsmedizin müssen sich an geänderte Rahmenbedingungen anpassen und den gewachsenen Herausforderungen offensiv stellen. Sie sind in besonderer Weise Opfer der "Fortschrittsfalle" bei weiter begrenzten Ressourcen. Die Hochschulmedizin muß den Ansprüchen der Gesellschaft und des Staates, aber auch den im Hochschulbetrieb eingeschalteten akademischen Lehrern, Klinikärzten und dem medizinischen Ausbildungsbetrieb ebenso gerecht werden wie den Bedingungen des medizinischen Fortschritts und einer mehr anwendungsbezogenen, praktischen Medizin. Damit die Fakultäten und Universitätskliniken ihre zentralen Aufgaben in Forschung, Lehre und universitärer Krankenversorgung für die Zukunft gerüstet sind, ist eine "Optimierung" und "Effizienzsteigerung" in allen Bereichen erforderlich. Dies ist die Quintessenz der Referate und Statements zum Tagesordnungspunkt III "Die Medizinischen Hochschulen im Wandel des Gesundheitswesens" und der 19 Beschlüsse zu diesem heterogenen Problemkomplex.
Bei aller Notwendigkeit, den Standort, die Funktion und die zukünftigen Schwerpunkte der Medizinischen Hochschulen und Fakultäten neu zu bestimmen und überkommene Denkschemata kritisch in Frage zu stellen, müsse die Strukturreform mit Augenmaß betrieben werden. Durch eine Neuorientierung müßten die Hochschulkliniken als öffentliche Einrichtungen zu modernen Dienstleistungsunternehmen.
Der Ärztetag und die Experten aus der Hochschulpraxis bekräftigten einige Essentials, die beachtet werden müßten. Akademische Lehre, medizinische Forschung und universitäre Krankenversorgung müßten gleichwertige Aufgaben der medizinischen Einrichtungen der Universitätskliniken bleiben. Um diesen Verbund würden wir im Ausland beneidet. Eine Trennung der Zuständigkeiten für Forschung und Lehre einerseits und die Krankenversorgung andererseits wird.
Die Medizinische Fakultät wird als die Grundeinheit für die Entscheidung über Lehre und Forschung innerhalb der Gesamtuniversität definiert. Die Fakultäten müßten sich den sich ständig ändernden Bedingungen rasch anpassen. Die Hochschulen müßten sich wieder stärker auf ihre Aufgaben - Forschung und qualitätsgesicherte Lehre - konzentrieren.
Ganz entscheidend für die medizinische Versorgung, für die Ausbildung zum Arzt (als entscheidende Voraussetzung für die Strukturqualität) sei die Leistungs- und Innovationskraft der Medizinischen Hochschulen. Auch gebe es viele Berührungspunkte, Problemhierarchien bei den Aktionsfeldern und Schnittpunkten zwischen Medizinischen Fakultäten und Ärztekammern als legitimierte Vertretung der Gesamtärzteschaft, betonte Prof. Dr. Jörg-D. Hoppe, Düren, Vizepräsident der Bundesärztekammer und Vorsitzender der Ausschüsse und Ständigen Konferenzen der Bundes-ärztekammer "Ausbildung zum Arzt und "Hochschulmedizin und Medizinische Fakultäten". Die Medizinischen Fakultäten müßten von überbordendem, unnötigem bürokratischem Ballast befreit werden, so daß sie sich verstärkt ihren zentralen Aufgaben widmen können. Die Ärzteschaft müsse daran interessiert sein und mithelfen, daß die Medizinischen Fakultäten die an sie gestellten Forderungen unabhängig und eigenverantwortlich lösen könnten, so der Appell von Prof. Dr. Horst Dieter Becker, Geschäftsführender Ärztlicher Direktor des Klinikums Schnarrenberg, Chirurgische Klinik der Universität Tübingen.
Die Ärzteschaft erwartet, daß die Medizinischen Hochschulen auch künftig ihre Aufgaben in der ärztlichen Ausbildung ernst nehmen und diese nicht im Vergleich zur Krankenversorgung und Forschung vernachlässigen. Die Medizinischen Hochschulen als ein Ort der Hochleistungsmedizin und Forschung und damit in der Rolle der Spezialistenmedizin müßten wieder ein wahrnehmbares Gegengewicht in einer auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierenden praxisorientierten Ausbildung erhalten. Das Ausbildungsziel habe sich am Arztbild der Zukunft zu orientieren. Um nicht in die "Bodenlosigkeit des Spezialistischen" zu geraten, müßten der akademische Unterricht und die Lehre sich mehr als bisher an den Erfordernissen der ärztlichen Praxis sowohl im niedergelassenen Sektor als auch im Klinikbereich orientieren. Das hohe Niveau dieser Trias dürfe nicht durch dirigistische Eingriffe und Sparmaßnahmen gesenkt werden, so ein Postulat von Prof. Dr. Christoph Fuchs, Hauptgeschäftsführer der Bundesärztekammer.
Ziel der Ausbildung zum Arzt müsse auch in Zukunft der zur Ausübung des Berufs befähigte Arzt sein, der in der Lage ist, sich nach absolviertem Studium über eine frei zu entscheidende Weiterbildung zu spezialisieren und sich lebenslang fortzubilden, denn die Halbwertzeit des medizinischen Wissens betrage zwischen drei und fünf Jahre, so ein weiteres Argument für den umfassenden Bildungsauftrag der Fakultäten, der in der wissenschaftlich-systematischen Vermittlung theoretischer und medizin-praktischer Grundlagen bestehen müsse. In diesem Punkt baut der Ärztetag auch auf die Kooperation und die Lernfähigkeit der für den Hochschulbereich maßgebenden Vertretungen und Einrichtungen, insbesondere der Kultusministerkonferenz der Länder, des Medizinischen Fakultätentages und der Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlicher Medizinischer Fachgesellschaften (AWMF).
Auf Zustimmung des Plenums stieß die Feststellung von Prof. Fuchs: Besitzstände und Bestandsschutz für die eigene Organisaton, das heißt auch für die Medizinischen Fakultäten bis hin zur "Ordinarien-Herrlichkeit" kann es nicht mehr geben. Die Bereitschaft zum Wandel muß Bestandteil von neu formulierten Führungsprinzipien sein. Die für die Universitätskliniken typischen und heute noch dominierenden dreifach versäulten berufsgruppenbezogene Führungshierarchien müssen abgeflacht und durch ein mehr auf dem Team- und Kollegialprinzip basierenden Department-System (mit Wahl in die Führungspositionen) abgelöst werden, so das Plädoyer von Prof. Dr. Gunter Lob, Leiter der Unfallchirurgie des Klinikums Großhadern der Universität München.
Um Mißverständnissen vorzubeugen, betonte Ärztetagspräsident Dr. Karsten Vilmar: An die Stelle obsolet gewordener institutioneller Hierarchien müssen funktional bezogene Hierarchien treten - ausgerichtet auf die verschiedenen Führungs-und Entscheidungsfunktionen. Der Universitätslehrer sei nicht mehr der Alleskönner und Alleinbestimmer. Eine weitere These: Die Medizinischen Fakultäten dürfen sich nicht nur als "Durchlauferhitzer" verstehen, indem sie den Nachwuchs nur bedingt und zeitlich befristet in die Krankenversorgung, Forschung und Lehre einbeziehen. Vielmehr müßten in den Universitätskliniken ebenso wie in den anderen Krankenhäusern Lebensstellungen für qualifizierte Ärzte geschaffen werden.
Lehre vernachlässigt
Eine weitere "Selbstgänger-These" vor dem Ärztetag: Die Lehre wird oftmals vernachlässigt, sie hat an den Medizinischen Fakultäten einen großen Nachholbedarf, sie rangiert in Deutschland häufig nach der Forschung. Der Sprecher der Fachtagung Medizin, Thomas Isenberg, Universität Düsseldorf, der als Gast vor dem Ärztetag sprach, behauptete sogar, die Lehre sei zu einer "Feierabend-Beschäftigung" verkommen. Die Verquickung von Professur und die Rolle des akademischen Lehrers mit dem des Chefarztes führe dazu, daß die Lehrenden sich mehr um die lukrative Patientenversorgung und um die Forschung, kaum aber um die fest bezahlte Lehre kümmerten. "Die ostdeutschen hatten einen wesentlichen Vorteil gegenüber den westdeutschen Hochschullehrern, denn sie durften nicht reisen und hatten keine Privatpatienten und daher sehr viel mehr Freizeit für die Lehre", konstatierte Prof. Dr. Heinz Diettrich, Präsident der Sächsischen Landesärztekammer, Dresden. Prof. Dr. Dr. Dieter Adam, München, ergänzte: "Wenn die These von den Lehrdefiziten und den schlechten Lehrern stimmt, müßten wir in Deutschland die am schlechtesten ausgebildeten Ärzte haben. Dies trifft aber nicht zu. Es gibt auch noch gute Lehrer."
Prof. Becker referierte eine andere These, wonach auch die Forschung zu kurz komme. Zudem sei die Verwendung der Staatszuschüsse für die Lehre und Forschung intransparent, und es gebe sich widersprechende Aussagen, wonach die Forschung und Lehre die universitäre Krankenversorgung subventionierten, wohingegen die Krankenkassen eine umgekehrte Quersubventionierung kritisieren. !
Tatsache ist: Das Ressourcen-Management an den 36 Universitätskliniken und Fakultäten muß verbessert werden. Die Gesamtaufwendungen belaufen sich auf rund 20 Milliarden DM für die Forschung, Krankenversorgung und Lehre. Ungefähr sechs Milliarden DM geben die Länder als Zuschuß für die Forschung und Lehre aus. Der Rest muß aus (vom Ärztetag als unverzichtbar bezeichneten) Drittmitteln und vor allem aus den Vergütungen aus der Krankenversorgung bestritten werden.
Was soll nun anders werden? Zunächst sollen die Fakultäten als Orte der Lehre wesentlich erweitert werden. Die Medizinische Hochschule müsse die Aufgaben der Lehre, Forschung und umfassender Krankenversorgung integriert wahrnehmen. Die Ausbildung der Studenten soll nicht mehr nur an Universitätskliniken, sondern auch in Lehrkrankenhäusern, Polikliniken und Ambulanzen, Lehrpraxen niedergelassener Ärzte und anderen Einrichtungen des Gesundheitswesens erfolgen. Grund: Weniger als 10 Prozent aller Patienten werden überhaupt in Krankenhäusern behandelt, nur 0,5 Prozent in Hochschulkliniken. Nur acht Prozent aller Krankenhausbetten stehen in Universitätskliniken, 92 Prozent außerhalb. Auf diese Reservoir sollte zurückgegriffen werden, so Prof. Hoppe, um die Medizinerausbildung mehr praxis- und anwendungsbezogen auszurichten. Prof. Hoppe beklagte, daß einige Fakultäten nur noch losen Kontakt zu außeruniversitären Einrichtungen hätten. Dies müsse geändert werden.
Kapazitäten anpassen
Strukturanpassungen sind vor allem auch bei den Ausbildungskapazitäten erforderlich, betonte Prof. Lob. Während die beiden Sprecher der Studentenschaft davor warnten, die 8. Novelle zur Änderung der Approbationsordnung für Ärzte dazu zu mißbrauchen, die Zahl der Medizinstudenten und Hochschulabsolventen drastisch zu reduzieren, war es mehrheitliche Auffassung des Ärztetages, die Hochschulkapazitäten nicht an den Klappsitzen in den Hörsälen zu orientieren, sondern auch an der Zahl der für die Forschung und Lehre geeigneten und bereiten Patienten auszurichten. Das Kapazitätsrecht müsse den Erfordernissen einer stärkeren Praxisorientierung des Studiums angepaßt werden, so Prof. Horst Dieter Becker. Die Änderung der Kapazitätsverordnung durch die Länder und die Novelle zur Approbationsordnung müßten als Junktim verstanden werden. Denn die Ausbildungsqualität wird maßgeblich von den Hochschulkapazitäten bestimmt.
Der mit großer Mehrheit angenommene Leitantrag zu TOP III plädiert für Strukturreformen und eine neue, erweiterte Medizinische Fakultät. Dies setzt eine neue Sinnbestimmung und Aufgabendefinition der Hochschullehrer voraus. Die medizinischen Einrichtungen sollten Schwerpunkte benennen, die sie im Wettbewerb zu anderen Universitäten fortentwickeln. Zugleich müsse die Leitungs- und Entscheidungsstruktur neu organisierter Fakultäten angepaßt werden. Bei einer erweiterten Fakultät müßten die Aufgaben-, Verantwortungs- und Einflußbereiche des Dekans im Bereich der Lehre ausgeweitet werden. Die ManagementFunktion des Dekans erfordert dessen hauptamtliche Tätigkeit - bei entsprechender zeitlicher Befristung (sechs Jahre?). Das in Baden-Württemberg erprobte Konzept:
! Die Zuständigkeiten zwischen Dekan und Fakultätsrat sollen insofern neu definiert werden, daß die Fakultät durch einen Fakultätsvorstand geleitet wird, dem die Leitung der Fakultät und die selbständige Führung der Geschäfte obliegen soll. Ihm sollen der Dekan, Prodekan, Studiendekan und ForschungskommissionsVorsitzende sowie der Leitende Ärztliche Direktor des Klinikums und der Verwaltungsdirektor angehören. Um zu vermeiden, daß Dekanats- und Klinikumsverwaltung getrennt werden, wird in Baden-Württemberg die Verwaltung des Dekanats als Dezernat der Verwaltung der medizinischen Einrichtungen geführt.
! Der Studienbereich wird von zwei Studiendekanen geleitet, denen mehrere wissenschaftliche Mitarbeiter zuarbeiten. Dies erfordert eine personelle Aufrüstung, denn die Dekanate dürfen nicht wie bisher in RoutineAufgaben wie etwa der Sichtung und Prüfung von Dissertationenoder Habilitationsarbeiten ersticken.
! Der universitäre Forschungsbereich soll vom Vorsitzenden der Forschungskommission geleitet werden. Ihm arbeiten mehrere Wissenschaftler zu. Die Kommission koordiniert die Forschungsförderungsprogramme der Fakultät.
! Der Gremienbereich wird von einem Fachbeamten koordiniert. Hier werden die Arbeiten des Fakultätsrates, der Habilitation, Promotion und Strukturkommission erledigt.
Verkrustete Führungsstrukturen
Prof. Lob kritisierte, daß die vertikale Führungsstruktur dazu geführt habe, daß Macht und Einfluß einzelner mit ihrer tatsächlichen Kompetenz nicht mehr übereinstimmen. Vielfach würden Klinikdirektoren, die zugleich ihre Lehrfunktion wahrnehmen müssen, ausschließlich nach ihrer wissenschaftlichen Qualifikation ausgewählt (etwa auf Grund ihrer Publikationen oder verfaßten Gutachten). Führungs- und Management-Qualitäten müßten aber heute ebenso gefordert werden wie der Nachweis, daß der akademische Lehrer und Klinikdirektor auch zur Lehre befähigt ist (pädagogische und didaktische Fähigkeiten). Auch müsse überprüft werden, ob seine Vorlesungen bei den Studenten angenommen werden und der Wissensstoff in der vorgegebenen Zeit auch vermittelt wird. Allerdings fehlen noch objektivierbare Kriterien, um die Qualität des akademischen Lehrers, die der Fakultät und des Ausbildungsbetriebes zu beurteilen, so Prof. Dr. Reinhard Papst, Rektor der Medizinischen Hochschule Hannover, Mitglied des Präsidiums des Medizinischen Fakultätentages (MFT) und der MFT-Kommission für Ausbildungs- und Qualifikationsfragen.
Der Sprecher der Fachtagung Medizin, Thomas Isenberg, sprach sich für eine Professionalisierung der Lehre aus; diese dürfe nicht länger "Abfallprodukt der klinischen oder wissenschaftlichen Betätigung" sein. Es sei eine Legende, daß gute Forscher gleichzeitig ausgezeichnete Ärztinnen und Ärzte sowie didaktisch qualifizierte Lehrer seien. Selbst Experten des Wissenschaftsrates hätten festgestellt: Kein Arzt kann im Keller einer UniKlinik intensiv forschen, in der Krankenversorgung Höchstleistungen erbringen und gleichzeitig ein begnadeter Lehrer sein. Die Fachtagung Medizin tritt für eine differenzierte Aufgabenverteilung ein: Innerhalb der Kliniken müsse es Möglichkeiten geben, diejenigen Klinikärzte und Funktionseinheiten, die eine hochwertige Krankenversorgung gewährleisten, von ihrem Lehrengagement zu entlasten. Gleichzeitig sollten qualifizierte Ausbilder angestellt werden, die sich gegenüber der Fakultät verpflichten, die Ausbildung des medizinischen Nachwuchses intensiv durchzuführen und nach Qualitätsstandards zu garantieren.
Die Wissenschaftsministerien und die Hochschulen werden in einem Beschluß aufgefordert, Mittel und Wege zu finden, um die Lehrfähigkeit gegenüber den vielfach lukrativeren Tätigkeiten in Forschung und Krankenversorgung aufzuwerten.
Im Verbund von Krankenversorgung, Forschung und Lehre muß auch die Weiterbildung an Instituten und Kliniken einen angemessenen Stellenwert erhalten. Wegen der in bestimmten Weiterbildungsgängen erforderlichen Hochspezialisierung kann es notwendig werden, Teile der Weiterbildungskenntnisse außerhalb der Fakultäten zu erwerben. In der "erweiterten Fakultät" könnte eine Rotationsweiterbildung im Rahmen der Weiterbildungsbefugnis im Verbund von mehreren zur Weiterbildung befugten Ärztinnen und Ärzten durchgeführt werden.
Um mehr Wettbewerb und Leistungstransparenz für die Hochschulmedizin zu implementieren, sollten die Budgetmittel im personellen, im Sachmittel- und im investiven Bereich getrennt für die Bereiche Lehre und Forschung erfolgen. Die Finanzierung der Krankenversorgung müsse verursachergerecht durch die Versicherungen erfolgen und kostendeckend sein. Trotz der getrennten Buchführung müßten die Bereiche und Zuständigkeiten personell aber auf das engste integriert bleiben.
Künftig müßten sich die Hochschulen und Medizinischen Fakultäten stärker auf ihre Dienstleistungsfunktion und am Gemeinwohlinteresse ausrichten. Mit Hilfe von Leistungsindikationen, eines eigenen Profils, einer ständigen Effizienzkontrolle und eines umfassenden Qualitätsmanagements müßten sich die Medizinischen Fakultäten den härter werdenden Wettbewerbsbedingungen stellen. Dazu bedarf es aber neben neuer Strukturen auch eines veränderten Leitbildes, einer neuen Unternehmenskultur für den Dienstleistungsbetrieb Hochschulmedizin. Kooperation, Motivation, eine adäquate Personalführung und gerechte Bezahlung sind gefragt - bei klar definierten Zielvorgaben. Der mit starkem Beifall bedachte Vortrag von Prof. Lob brachte ein wesentliches Reformproblem auf den Punkt: "Strukturänderungen sind notwendig, und sie werden kommen. Strukturveränderungen werden nur dann erfolgreich sein, wenn sie die enormen innovativen Personalkräfte der Medizinischen Fakultäten erschließen können." Dr. Harald Clade
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in: Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 25 (21.06.1996), Seite A-1693
POLITIK: Deutscher Ärztetag
Hohe Arbeitslosigkeit, sinkende Lohnquote und ein dadurch verändertes Beitragsaufkommen sind die maßgeblichen Determinanten in der heutigen Gesundheits- und Sozialpolitik geworden. Auch die Ärzteschaft wird sich auf die geänderten Rahmenbedingungen einzustellen haben - und sie wird ihren Beitrag leisten, sofern ihr eine politisch überzeugende Konzeption vorgelegt wird. Doch statt klarer Analysen und konstruktiver Strukturvorschläge erleben wir ein Feuerwerk öffentlicher Auseinandersetzungen um Steueraufkommen und Staatsfinanzen. Politischer Aktionismus und eine Inflation von Sparvorschlägen blockieren seit Wochen die notwendige, sachliche Diskussion um die 3. Stufe der Gesundheitsreform. Aber die Gefahr für den Sozialstaat ist zu groß, als sich jetzt in parteipolitischem Gezänk zu ergehen.
In Deutschland waren im Mai 1996 knapp vier Millionen, in den 15 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union im März 1996 insgesamt 18,3 Millionen Menschen offiziell arbeitslos gemeldet. Das entspricht europaweit einer Arbeitslosenquote von 11 Prozent, wobei Spanien mit 22,5 Prozent an der Spitze, Deutschland mit 9,1 Prozent in einem Mittelfeld liegt und Luxemburg mit drei Prozent die niedrigste Quote aufweist. Für die USA beträgt diese Quote 5,7 Prozent, für Japan 3,5 Prozent. Erhebliche Minderungen sowohl des Steueraufkommens als auch der Beiträge zu den sozialen Sicherungssystemen sind unausweichliche Folge der Arbeitslosigkeit. Zusammen mit den demografischen Veränderungen, der weiter stark zunehmenden Zahl älterer Menschen und der Tendenz zu kürzerer Lebensarbeitszeit verschärfen sich die Finanzierungsprobleme in der Renten- und Arbeitslosenversicherung sowie vor allem in der gesetzlichen Krankenversicherung erheblich.
Die Finanznot wird durch die zunehmende Multimorbidität dauerbehandlungsbedürftiger älterer Menschen noch verstärkt, ebenso wie durch den medizinisch-wissenschaftlichen und technischen Fortschritt, der vielfach vorzeitigen Tod verhindern läßt. Daraus folgt: Je leistungsfähiger die Medizin wird, um so mehr Menschen wird es geben, die erfolgreich behandelt werden könne und damit steigen unausweichlich die Kosten.
Die langjährigen, hektischen Bemühungen um Beitragssatzstabilität und jetzt sogar eine von oben verordnete Beitragssatzsenkung haben sich inzwischen als Stellvertreterauseinandersetzung sogenannter politischer Sozialprofis entpuppt. Die Finanzprobleme der gesetzlichen Krankenversicherung, ebenso wie anderer Krankenversicherungsarten, sind Teil der derzeitigen Schieflage des Sozialstaates geworden. Bei der Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland geht es auch um die Senkung der Lohnnebenkosten. Diese sind in Deutschland tatsächlich rapide angewachsen. Auf je 100 DM Entgelt wurden 1995 im Durchschnitt 80,10 DM in den westlichen Bundesländern und 69,90 DM in den östlichen Bundesländern zusätzlich an "Nebenkosten" bezahlt. Auf die gesetzlichen Lohnzusatzkosten entfallen dabei jedoch nur 36,20 DM beziehungsweise 35,90 DM, während die tariflich und betrieblich von Arbeitgebern und Arbeitnehmern oder ihren Organisationen völlig freiwillig vereinbarten Lohnnebenkosten 43,90 DM beziehungsweise 34 DM betragen. Daraus wird erkennbar, daß die Arbeitgeber es zum großen Teil selbst in der Hand hatten und haben, die von ihnen lautstark beklagten Lohnnebenkosten zu senken. !
Effizienter Einsatz von Ressourcen
In dem von der Bundesregierung vorgeschlagenen Sparpaket hat das Gesundheitswesen inzwischen nur noch eine untergeordnete Bedeutung. Bei einer derzeitigen Staatsverschuldung von 1 900 Milliarden DM und einer zu erwartenden Neuverschuldung von rund 70 Milliarden DM im Jahr 1996 ist mit einem Zuwachs der von der Solidargemeinschaft aufgebrachten Finanzmittel für das Gesundheitswesen in absehbarer Zeit nicht zu rechnen. Im Gegenteil: Durch das jetzt vom Deutschen Bundestag beschlossene Beitragsentlastungsgesetz wird eine Absenkung des Beitragssatzes um 0,4 Prozentpunkte ab 1. Januar 1997 zu einer Einnahmenminderung der gesetzlichen Krankenkassen führen. Durch das Sparpaket wird insgesamt ein Einsparvolumen von 7,5 Milliarden DM durch die verschiedenen Gesetzesänderungen angestrebt.
Für die Krankenhäuser wird die von den Arbeitgebern angestrebte BAT-Nullrunde bei gleichzeitig steigenden Kosten - auch durch viele neue Dokumentationspflichten und die Auswirkungen des zum 1. Januar 1996 dort in Kraft getretenen Arbeitszeitgesetzes (AZG) - zu Budgetsenkungen mit allen daraus für Patienten resultierenden Risiken führen müssen.
Die Ärzteschaft muß deshalb die zur Verfügung stehenden Ressourcen so effizient wie nur irgend möglich einsetzen. Das erfordert eine Konzentration auf das unbedingt Notwendige, Zweckmäßige und Ausreichende; und das bedeutet: rationale und rationelle Nutzung der Möglichkeiten in Diagnostik und Therapie sowie eine sparsame Verordnungsweise für Arzneimittel, Heil- und Hilfsmittel und andere veranlaßte Leistungen. Nur durch Rationalisierungen können vorerst Rationierungen von Gesundheitsleistungen oder gar Ausgrenzungen von Alters- oder Krankheitsgruppen aus der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung vermieden werden. "Vorerst" muß einschränkend gesagt werden, weil es bei Fortsetzung eines harten Sparkurses mittelfristig auch zu Rationierungen kommen könnte - was wir freilich nicht hoffen wollen.
Zur Rückführung der gesetzlichen Krankenversicherung auf ihre originären Aufgaben ist der Gesetzgeber aufgefordert, die sozialen Sicherungssysteme von versicherungsfremden Leistungen zu befreien. Dafür wurden im Jahre 1994 insgesamt 197 Milliarden DM ausgegeben, von denen 127 Milliarden DM von den Beitragszahlern aufgebracht worden sind. Diese auch den Krankenkassen auferlegten Fremdleistungen treiben die Beitragssätze in die Höhe und belasten somit Unternehmen und Arbeitnehmer gleichermaßen. Aus sozial- und familienpolitischer Sicht durchaus sinnvolle Leistungen von gut drei Milliarden DM für künstliche Befruchtung, Empfängsverhütung, nicht rechtswidrigen Schwangerschaftsabbruch und nicht rechtswidrige Sterilisation, Mutterschaftsgeld, Entbindungsgeld, Krankengeld bei Erkrankung eines Kindes, hauswirtschaftliche Versorgung bei häuslicher Krankenpflege und Grundpflege, Haushaltshilfe und Sterbegeld sind jedoch Gemeinschaftsaufgaben des Staates. Sie haben, so sinnvoll sie auch sein mögen, besonders in Zeiten knapper finanzieller Ressourcen in einer Versicherung gegen Krankheit nichts zu suchen.
GKV ist kein "Verschiebebahnhof"
Auch darf der Gesetzgeber nicht Ausgabensteigerungen oder Einnahmenminderungen in der gesetzlichen Krankenversicherung dadurch bewirken, daß er diese als "Verschiebebahnhof" zwischen den sozialen Sicherungssystemen mißbraucht. So führte die Neuregelung für die Krankenversicherung der Rentner (KVdR) durch das Rentenanpassungsgesetz von 1982 mit Absenkung der Krankenversicherungsbeiträge für die Rentner auf 11,7 Prozent allein im Jahr 1994 zu einem Transfer von über 40 Milliarden DM aus Beiträgen der aktiven Beitragszahler in die Krankenversicherung der Rentner. In Vergessenheit geraten ist offensichtlich auch das von Regierungskoalition und SPD-Opposition im Jahr 1989 gemeinsam verabschiedete Rentenreformgesetz mit einem erst zum 1. Januar 1995 in Kraft getretenen Konzept, durch das allein in diesem Jahr bei der Krankenversicherung ein Einnahmeausfall zwischen fünf und sechs Milliarden DM entstanden ist. Das macht etwa die Hälfte des Defizits im Jahr 1995 in der gesetzlichen Krankenversicherung aus. Diese Folgen werden allerdings oft vergessen, verdrängt oder den Leistungserbringern im Gesundheitswesen angelastet, oder sollten sie gar unter die politische Schweigepflicht fallen?
Das Problem ist komplex. Bei den für Ausgabensteigerungen im Gesundheitswesen geradezu routinemäßigen Schuldzuweisungen an Ärzte und Krankenhäuser wird ebenso gerne übersehen, daß neben Gesetz- und Verordnungsgebern auch die Tarifvertragspartner selbst für manche von ihnen beklagte Entwicklungen verantwortlich sind. Übersehen wird bei dem inzwischen ausgebrochenen Spareifer allerdings auch, daß allein im Gesundheitswesen zirka 2,5 bis drei Millionen Arbeitnehmer tätig sind. Durch ein "Kaputtsparen" würde also die Zahl der Arbeitslosen weiter steigen mit der Folge, daß noch weniger Sozialversicherungsbeiträge bezahlt werden könnten. Auch hier kann man nur Franz Volhard zitieren: "Vor die Therapie haben die Götter die Diagnose gesetzt." Bundesgesundheitsminister Seehofer hat in der Haushaltsdebatte des Deutschen Bundestages im September 1995 völlig zu Recht festgestellt: "Das deutsche Gesundheitswesen ist nicht krank - wie es gelegentlich gesagt wurde - im Gegenteil: Ich kenne kein besseres System auf dieser Erde. Was wir ändern müssen, sind nicht die Prinzipien des Gesundheitswesens, sondern die Art und Weise der Gesundheitspolitik."
Dieser Feststellung können wir uneingeschränkt zustimmen, ebenso wie seinen wiederholt öffentlich vorgetragenen Analysen, daß die im Gesundheitswesen Tätigen nicht die bisherigen Kostenentwicklungen verursacht haben. Der Minister veränderte mit seinen Aussagen nachhaltig den gesundheitspolitischen Diskurs. Offenbar haben noch nicht alle diese Zäsur bemerkt. Denn sonst ist es kaum verständlich, wenn die Bemühungen, tragende Strukturen unserer sozialen Sicherungssysteme vor Überlastung zu schützen, als "Sozialabbau" in einem "Klima der sozialen Kälte" gegeißelt werden. Sollte denn erst ein völliger Zusammenbruch bessere Einsichten ermöglichen?
Neue Definition des Leistungskatalogs
Angesichts der drängenden Probleme ist es für alle, die ihre Verantwortung wirklich ernst nehmen, geradezu unausweichlich, sich wieder auf das zu besinnen, was wirklich notwendig, zweckmäßig und ausreichend ist. Es muß deshalb unter diesem Aspekt vorbehaltslos über die Ausgliederung finanzieller Bagatellen aus der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen nachgedacht werden, ebenso wie über die Auswirkung von Kostenerstattungsregelungen in bestimmten Bereichen. Der Leistungskatalog ist nach solidarisch zu finanzierenden Leistungen und satzungsgemäßen Zusatzleistungen zu definieren. Ferner ist eine Trennung von vielem nötig, was möglicherweise angenehm, vielleicht sogar nützlich ist, aber nicht der Solidargemeinschaft der Beitragszahler aufgebürdet werden darf, sondern in den privaten Lebensbereich gehört. Das gilt z.B. für viele Kuren, Massagen oder gar Arzneimittel mit unbewiesener Wirkung. Hier wäre ein Einsparvolumen von über zehn Milliarden DM möglich. Der Einzelne könnte selbstverständlich auch in Zukunft sein Geld für ihm wichtig erscheinende Leistungen ausgeben - jedoch nicht zu Lasten der Solidargemeinschaft. Das bis zum Zerreißen gespannte soziale Netz aber darf nicht als Trampolin für Lustbarkeiten mißbraucht werden.
Dem früheren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Ernst Benda, ist uneingeschränkt zu folgen, wenn er im Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland ausführt, daß die den Gerichten, unter ihnen das Bundesverfassungsgericht, "auferlegte Pflicht zur Rechtsgewährung bedeutet, daß sie mit einem knappen, nicht beliebig vermehrbaren Gut umgehen müssen. In solcher Lage spielt schon heute die sozialstaatlich und rechtsstaatlich naheliegende Überlegung eine Rolle, daß es im Falle knapper Ressourcen nicht richtig sein kann, Güter, die den Bedürftigen zukommen sollen, an Nichtbedürftige zu verteilen." Zum Thema "Chancengleichheit und soziale Umverteilung" heißt es dort: "Es ist ein elementares Gebot des Sozialstaates, daß die begrenzten Mittel der Allgemeinheit nicht schematisch ausgestreut, sondern auf diejenigen konzentriert werden, die wirklich hilfsbedürftig sind. Sozialstaatswidrig ist es, wenn Hilfen von denen in Anspruch genommen werden können, die nicht hilfsbedürftig sind. Die als "Gießkannenprinzip" bezeichnete politische Praxis, die wegen der Chance, breite Wählerschichten zu beeindrucken, eine ständige Versuchung darstellt, widerspricht den sozialstaatlichen Geboten."
Zum Thema "Staat und Gesellschaft" führt Benda unter anderem aus: "Auch die individuelle Eigenvorsorge und die Übernahme von Verantwortung für sich selbst und seine Familie, die den Staat ganz zurücktreten läßt, ist keineswegs sozialstaatswidrig; im Gegenteil erscheint die Pflicht, unverschuldete Schäden, für die die Gemeinschaft einzustehen hat, soweit wie möglich und zumutbar, selbst zu mildern, gerade als ein Ausfluß des Prinzips der Sozialstaatlichkeit."
Lösungsvorschläge der Ärzte Aus unserer täglichen ärztlichen Arbeit und Erfahrung heraus haben wir Ärzte für viele der heute in der Öffentlichkeit beklagten Probleme bereits Lösungsvorschläge gemacht und sie auf dem 97. Deutschen Ärztetag 1994 im Gesundheitspolitischen Programm der deutschen Ärzteschaft bekräftigt. Besonderes Gewicht haben dabei die Vorschläge zur
c Intensivierung der Integration zwischen ambulantem und stationärem Behandlungsbereich
c hausärztlichen Versorgung
c Qualitätssicherung
Diese Vorstellungen wurden in den im Januar 1995 auf dem Petersberg begonnenen politischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozeß gemeinsam von Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Bundesvereinigung eingebracht. Zum Teil wurden sie in Entwürfen für die jetzt vorliegenden Reformgesetze, so insbesondere im GKV-Weiterentwicklungsgesetz (GKVWG) und im Krankenhausneuordnungsgesetz 1997 (KHNG 1997) berücksichtigt. Es bleibt jedoch abzuwarten, was davon bei den weiteren Beratungen im Bundesrat und vor allem im Vermittlungsausschuß übrig bleibt, wenn unterschiedliche, aus dem Föderalismus erwachsende oder parteipolitisch geprägte Vorstellungen aufeinandertreffen.
Deshalb pflichte ich den Ausführungen des Ersten Vorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Dr. Winfried Schorre, ausdrücklich bei, der gestern sagte: "Lassen Sie uns deswegen weiterhin gemeinsam den Mut aufbringen, die Schwierigkeiten, die sich vor uns auftürmen, mit der bisherigen Geschlossenheit zu meistern. Wenn wir jetzt getrennte Wege gehen - und Ansätze dazu gibt es ja bereits - werden wir unsere Handlungsfähigkeit verlieren und uns in die Abhängigkeit von staatlicher oder krankenkassenseitiger Bevormundung begeben." Das gilt insbesondere für die Integration von ambulanter und stationärer Versorgung. Diese muß allein schon wegen der Entwicklung der Medizin verbessert werden, vor allem zum Nutzen des Patienten. Nach unserer Vorstellung sollen dabei Krankenhausärzte personenbezogen in die ambulante Versorgung einbezogen werden, wenn hierzu deren besondere Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten gefragt sind. Die Ärzteschaft lehnt dagegen eine institutionelle Öffnung der Krankenhäuser für Leistungen der ambulanten Versorgung geschlossen ab. Sie befürwortet statt dessen verstärkt Zulassungen von Vertragsärzten im Krankenhaus für medizinisch-technische Leistungen, den Ausbau des kooperativen Belegarztwesens und personenbezogene Ermächtigung qualifizierter Krankenhausfachärzte.
Neben der Förderung des kooperativen Belegarztwesens und einer kooperativen ambulanten und stationären Nutzung von kostenaufwendigen medizinisch-technischen Einrichtungen bietet sich dabei insbesondere die persönliche Ermächtigung von Krankenhausfachärzten mit besonderen Kenntnissen und Erfahrungen zur Erbringung hochspezialisierter Leistungen aus folgenden Bereichen an:
c Interventionelle Kardiologie
c Interventionelle Gastroenterologie
c Interventionelle Radiologie
c Versorgung spezieller onkologischer Patienten
c Versorgung spezieller Formen der AIDS-Erkrankung
Eine Integration zwischen ambulantem und stationärem Versorgungsbereich wird auch für folgende Versorgungsbereiche angestrebt:
c Nachsorge von Transplantationspatienten
c Gemeinsames Betreiben von Notfallpraxen/-ambulanzen in Krankenhäusern
c Spezielle nephrologische Kooperationsformen sowie ferner für die
c Behandlung von Patienten mit komplexen Verletzungen (analog zum berufsgenossenschaftlichen Heilverfahren)
c Orthopädische Versorgung geistig und körperlich behinderter Kinder
c Versorgung schwer psychisch Behinderter
Team-Arzt-System im Krankenhaus
Eine wichtige Voraussetzung für die den Bedürfnissen der Patienten entsprechende personelle Integration zwischen ambulanter und stationärer ärztlicher Versorgung, die auch den Bedürfnissen der Patienten entspricht, ist ein Team-Arzt-System im Krankenhaus. In diesem arbeiten mehrere erfahrene Krankenhausfachärzte im Team mit einem gewählten Sprecher zusammen und können dazu auch noch freiberufliche Vertragsärzte integrieren. Die Spitzenorganisationen der verfaßten Ärzteschaft sprechen sich also dafür aus, die heute noch zu starre Trennung zwischen ambulanter und stationärer Patientenversorgung durch ein integrierendes System mit offenen Grenzen nach beiden Seiten sukzessive abzulösen.
Eine solche Zusammenführung kann allerdings nur dann gelingen, wenn die derzeitige Bedarfsplanung entweder in dieser Form beseitigt oder zumindest auf Versorgungssitze für die vertragsärztliche Versorgung umgestellt wird, um kooperative Praxisstrukturen zu ermöglichen. Für eine Verbesserung der hausärztlichen Versorgung ist eine Konzentration der Hausarztqualifikation auf den Allgemeinarzt mit entsprechender Neugestaltung der Weiterbildung zu beraten - bei gleichzeitiger Zuordnung der inneren Medizin zur fachärztlichen Versorgung. Der 99. Deutsche Ärztetag wird sich mit den dazu notwendigen Konsequenzen für die Weiterbildungsordnung eingehend befassen. Dabei ist zu bedenken, daß die im § 73 SGB V vorgesehene Gliederung von hausärztlicher und fachärztlicher Versorgung möglichst rasch und plausibel realisiert werden muß, um weitergehende Entscheidungen durch die Politik zu vermeiden. Erinnert sei an Vorstellungen aus der Gesundheitsministerkonferenz der Länder (GMK), die auf die Einführung eines Primärarztsystems zielen. In der EG-Richtlinie von 1986 wird eine mindestens zweijährige zusätzliche Ausbildung in Allgemeinmedizin vorausgesetzt, um in den Systemen der sozialen Sicherheit ärztlich tätig werden zu können. Daher dürfen Regelungen in der Weiterbildungsordnung in Deutschland nicht zu einer Inländerdiskriminierung führen.
Für die ärztliche Tätigkeit in Zukunft ist die Gestaltung der Ausbildung zum Arzt durch eine neue Approbationsordnung von ebenso großer Bedeutung wie eine Anpassung der Strukturen des ärztlichen Dienstes der Krankenhäuser und vor allem der Strukturen der Medizinischen Hochschulen und Fakultäten. Hier werden Arbeits- und Verhaltensweisen für das ganze ärztliche Berufsleben geprägt. Die sich aus der Entwicklung der Medizin ergebenden Differenzierungen und Spezialisierungen erfordern vor allem eine verstärkte und verbesserte interdisziplinäre und interprofessionelle Kooperation. Medizinische Fakultäten werden daher auch künftig die einzig legitimierten und von der Gesellschaft dafür ausgestatteten Einrichtungen ärztlicher Ausbildung - bis zu deren Abschluß - sein. Die damit einhergehenden Aufgaben in Lehre, Forschung und umfassender Krankenversorgung erfordern eine ausreichende Finanzierung mit klarer Zuordnung der Finanzmittel für Lehre und Forschung einschließlich der Drittmittelzuwendung sowie eine kostendeckende Finanzierung der Krankenversorgung durch die Versichertengemeinschaft.
Leitlinien für ärztliche Behandlung
Eine intensive Integration zwischen ambulanter und stationärer Behandlung sowie eine Verbesserung von Wirtschaftlichkeit und Sicherheit der Patientenversorgung müssen verbunden werden mit einer medizinischwissenschaftlich begründeten Qualitätssicherung, die vor allem bei der täglichen Arbeit in Klinik und Praxis anwendbar ist. Gleiche Tatbestände müssen dabei nach gleichen Kriterien und Methoden beurteilt werden, einschließlich der Indikation zu diagnostischen oder therapeutischen Verfahren sowie unabhängig davon, ob die Leistungen ambulant von einem Arzt im Krankenhaus, einem Belegarzt in einem Belegkrankenhaus oder einem Arzt in freier Praxis erbracht werden. Dafür sind heute bedauerlicherweise für GKV-Versicherte drei verschiedene Rechtsgrundlagen zu beachten, während es bei Privatpatienten diese Probleme nicht gibt. Die seit nahezu 20 Jahren zunehmenden Qualitätssicherungsbemühungen der Ärzteschaft werden so durch unklare oder gar widersprüchliche Regelungen im Sozialrecht und im ärztlichen Berufsrecht behindert.
Die Gesetzgeber in Bund und Ländern sind aufgefordert, unverzüglich die notwendigen Klarstellungen vorzunehmen. In einigen Heilberufsgesetzen der Länder ist dies bereits erfolgt, zum Beispiel im Heilberufsgesetz Bremen. Dort heißt es in Paragraph 8a: "Die Kammern haben dafür Sorge zu tragen, daß Maßnahmen der Qualitätssicherung im Tätigkeitsbereich der Kammerangehörigen entwickelt und umgesetzt werden. Sie sind an Qualitätssicherungsvorhaben Dritter zu beteiligen, soweit Belange der jeweiligen Kammerangehörigen betroffen sind."
Ärztliche Qualitätssicherungsmaßnahmen sind darauf gerichtet, bei den verschiedenen Behandlungsverfahren Abweichungen festzustellen und die Ursachen dafür zu ermitteln sowie gegebenenfalls eine Fehlersuche und analyse vornehmen zu können. So kann die medizinische Versorgung der Patienten verbessert und noch sicherer gemacht werden. Langfristig kann dies auch mehr Wirtschaftlichkeit bewirken, zum Beispiel wenn sich daraus Leitlinien für die ärztliche Behandlung entwickeln lassen. Allerdings müssen sie regelmäßig der weiterhin sprunghaften medizinisch-wissenschaftlichen und medizinisch-technischen Entwicklung angepaßt werden.
Aus solchen Leitlinien kann jedoch für die Ärzteschaft auch ein weiteres rechtliches Spannungsfeld entstehen. Es könnte zum Beispiel erkennbar werden, auf welche diagnostischen oder therapeutischen Verfahren verzichtet werden kann, weil sie zu wenig Aussagekraft haben oder die Kosten-Nutzen-Relation in einem Mißverhältnis steht insbesondere dann, wenn sich daraus keine Konsequenzen ergeben. Die Gesellschaft muß sich dann darüber klar werden, welches Restrisiko man zu tragen bereit ist, damit dem Arzt aus einem Verzicht auf bestimmte Maßnahmen bei späteren Gerichtsverfahren kein Nachteil entsteht.
Keine Zerstückelung der Selbstverwaltung
Für die Zukunft unseres freiheitlichen, beitragsfinanzierten und selbstverwalteten Gesundheitswesens ist es entscheidend, ob der Gesetzgeber künftig auf Dirigismus, Reglementierung und Paragraphendickichte verzichtet und sich statt dessen auf die Festlegung von Rahmenbestimmungen beschränkt und die Ausgestaltung der Selbstverwaltung überträgt.
Dazu ist es notwendig, die den heutigen Versorgungserfordernissen nicht mehr gerecht werdende sektorale Betrachtungsweise zu verlassen. Unter Zurückstellung von Partikular-interessen muß eine sektorübergreifende Selbstverwaltung neuer Art geschaffen werden. Nur so kann das Gegeneinander dauerhaft in ein Miteinander verwandelt und die Selbstverwaltung ihrer Aufgabe gerecht werden, eine auch wirtschaftlich effiziente Patientenversorgung zu sichern. Eine Zerstückelung dagegen - wie sie im Entwurf eines GSG II der SPD vorgesehen ist - wäre das Ende einer wirksamen Selbstverwaltung. Bei staatlich vorgegebenem Sparzwang wären Verlagerungen von einem in ein anderes Budget, Leistungsausgrenzungen und Risikoselektionen unvermeidlich. Der Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen hatte bereits 1994 in seinem Sondergutachten ausgeführt, daß "anstelle einer sektorspezifischen Betrachtung von Finanzlage und Leistungsgeschehen, wie sie in allen bisherigen Gutachten zugrunde lag, eine sektorübergreifende Sichtweise gewählt wurde", und zur Aufgabe der Selbstverwaltung heißt es dort weiter: "Die Kumulation von demographischer Entwicklung mit steigender Multimorbidität, medizinischem und medizinisch-technischem Fortschritt, steigenden Ansprüchen an die Lebensqualität bei Krankheit oder Leiden, Körperbehinderung und chronischen Krankheiten, läßt den Leistungsbedarf stärker ansteigen, als die Politik den Versicherten zur Finanzierung über Sozialversicherungsbeiträge zumuten will. Es stellt sich daher die politische Grundsatzfrage nach der zukünftigen Rolle des GKV-Systems in der Krankenversorgung und der gesundheitlichen Betreuung der Bevölkerung in Deutschland."
Mit allem Nachdruck muß allerdings auch darauf hingewiesen werden, daß Selbstverwaltung nur dort Verantwortung übernehmen kann, wo sie auch Regelungskompetenzen hat. Es kann nicht Aufgabe der Selbstverwaltung sein, die von der Politik in wirtschaftlich besseren Zeiten allzu großzügig verteilten Wohltaten gleichsam als staatliche Auftragsverwaltung wieder einzutreiben. Auch kann die Selbstverwaltung keine Probleme über Nacht lösen, zu deren Lösung der Staat sich seit Jahren oder Jahrzehnten als unfähig erwiesen hat. Die Auswirkungen etwa der demographischen Veränderungen und der faszinierenden Fortschritte in der Medizin oder die Folgen einer verfehlten Bildungspolitik mit einer viel zu hohen Zahl von Hochschulabsolventen - auch in der Medizin - entziehen sich ebenso der Regelungskompetenz der Selbstverwaltung. Die Versäumnisse der Gesetz- und Verordnungsgeber, durch Änderung der Kapazitätsverordnung der Länder die Zahl der Medizinstudenten an der Zahl qualifizierter Hochschullehrer und der Zahl der zur Ausbildung und Lehre geeigneten Patienten und deren Belastbarkeit zu orientieren und damit auch die Qualität der Ausbildung in kleinen Gruppen zu gewährleisten - all das kann nicht von der Selbstverwaltung aufgefangen werden.
Für eine sektorübergreifende Selbstverwaltung als Alternative zu staatlicher Reglementierung bleibt allerdings noch viel zu tun. Eine solche neue erweiterte Selbstverwaltung könnte zum Beispiel für die Krankenhäuser die seit langem überfällige Anpassung der Strukturen des ärztlichen Dienstes bewirken und für eine bessere Integration zwischen stationärem und ambulantem Bereich sachgerechte Lösungen je nach regionalen Gegebenheiten vereinbaren. Doppeluntersuchungen wären dann ebenso zu vermeiden wie Doppelinvestitionen. Rational begründete und nicht lediglich ideologisch geprägte Lösungen führen für den Patienten zu besserer individueller Behandlung und für das Gesamtsystem zu mehr Wirtschaftlichkeit.
Ohne Rechtsänderungen geht dies nicht. Gegenüber allen dazu geäußerten Bedenken sei mit Nachdruck gesagt: Das Recht muß sich endlich den veränderten Bedingungen und Notwendigkeiten der Patientenversorgung anpassen und nicht umgekehrt.
Vor ärztlicher Hybris hüten
Die faszinierenden Entwicklungen der modernen Medizin in den letzten Jahrzehnten mit erweiterten und verbesserten Möglichkeiten in Diagnostik und Therapie am Anfang und am Ende des menschlichen Lebens haben dazu geführt, daß vermehrt ethische Fragen ärztlichen Handelns in der Öffentlichkeit und von Politikern diskutiert werden. Ebenso führen neue Erkenntnisse aus der Molekularbiologie und der Gentechnologie, die in den nächsten Jahren und Jahrzehnten die Medizin und das Verständnis über die Entstehung und eine wirksame Behandlung von Krankheiten revolutionieren könnten, zu bislang völlig unbekannten Fragen. In der Medizin und in der Gesellschaft müssen wir deshalb einen Konsens erreichen, wie wir mit dem Wissen, den Chancen, aber auch den Risiken einer prädiktiven Medizin umgehen können
Seit 1992 hat sich die verfaßte Ärzteschaft sowohl im Weltärztebund, dem Ständigen Ausschuß der Europäischen Ärzte wie auch dem Deutschen Ärztetag für eine vernünftige Nutzung neuer Forschungsergebnisse eingesetzt, zugleich aber auch vor Mißbrauch gewarnt, wie zum Beispiel der Patentierbarkeit des menschlichen Genoms. Genetische Information ist keine patentfähige Erfindung, sondern eine Entdeckung natürlicher Gegebenheiten. Die Entdeckung genetischer Information darf nicht zu einer Kommerzialisierung führen. Genetische Information ist gemeinsames Eigentum aller Menschen.
Für die biomedizinische Forschung hat der Weltärztebund schon 1964 Empfehlungen verabschiedet, die in der Fassung von Tokio 1975 das Arzneimittelrecht in Deutschland mitgeprägt haben und die 1983 in Venedig und 1989 in Hongkong nochmals aktualisiert wurden. In der Öffentlichkeit umstritten, aber sicher notwendig, ist auch die Forschung an nicht einwilligungsfähigen Patienten, mit dem Ziel einer Verbesserung von Diagnostik und Therapie, möglicherweise sogar der Prävention, der bei solchen Menschen bestehenden oder zu erwartenden Krankheiten, wie zum Beispiel Stoffwechselstörungen, Mißbildungen oder der Alzheimerschen Erkrankung. Es ist damit zu rechnen, daß auch hier zunächst nur in Einzelfällen mögliche, erfolgreiche Vorstöße in medizinische Grenzbereiche in kurzer Zeit für eine große Zahl von Kranken zur Routine werden könnten.
Zunehmend stellt sich dennoch die Frage, ob der Arzt bei der Behandlung der Patienten in jedem Fall alles tun darf oder gar tun muß, was medizinisch-wissenschaftlich oder technisch möglich ist. Die Antwort darauf erfordert sicher keine neue Ethik, sie ist jedoch auf der Grundlage bewährter ethischer Prinzipien nicht immer leicht und nicht allgemeingültig für alle denkbaren Möglichkeiten und Herausforderungen zu geben. In jedem Einzelfall muß entschieden werden, welche angesichts des medizinischen Befundes individuell erforderliche, wirksame, unter Berücksichtigung des psychischen Befindens aber auch zumutbare Therapie - zur Anwendung kommen soll. Trotz großen wissenschaftlichen Fortschritts sollten wir Ärzte uns vor Hybris hüten und uns der Grenzen der Medizin bewußt sein.
Arzt kein Richter über Leben und Tod
Die wieder aufflammende öffentliche Diskussion um Sterbehilfe ist unter ethischen Aspekten nicht nur bedenklich, sondern geradezu erschreckend. Nicht selten wird der Vorwurf erhoben, daß Ärzte und Krankenhäuser in aussichtslosen Fällen angeblich aus Gewinnstreben "kein Ende finden könnten" - ein Vorwurf, der Unmenschlichkeit unterstellt. Abgesehen davon ist dieser Vorwurf angesichts der Vergütungsstrukturen, aber auch nach Einführung von Budgets, geradezu absurd. Nicht zuletzt die Möglichkeiten der Intensivmedizin waren für die Bundesärztekammer schon Ende der siebziger Jahre Anlaß gewesen, in Richtlinien für die Sterbehilfe darzustellen, wann weitere Behandlungsmaßnahmen sinnlos werden, weil nicht mehr das Leben, sondern nur noch das Sterben verlängert werden könnte. Aktive Beendigung eines Menschenlebens - also Tötung - darf jedoch niemals Aufgabe von Ärzten werden.
Trotz der unbestreitbaren Erfolge der modernen Intensivmedizin wurde der Vorwurf einer "inhumanen Maschinenmedizin" erhoben, lautstark sogar die gesetzliche Verankerung eines "Gnadentodes" gefordert. Dies allerdings brächte den Arzt in eine nicht nur aus ethischen Gründen unerträgliche Nähe zu der Forderung nach "Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens", die erstmals 1913 und dann zu Beginn der zwanziger Jahre von dem Leipziger Juristen Karl Binding und dem Freiburger Psychiater Alfred Hoche erhoben worden ist.
Wir weisen solche Vorstellungen mit Nachdruck zurück. Der Arzt kann und will nicht durch Gesetz ermächtigt oder sogar verpflichtet werden, Richter über Leben und Tod zu sein. Hier kann man nur Christoph Wilhelm Hufeland (1762 bis 1836) zustimmen, der schon 1800 sagte: "Wenn der Arzt sich zum Richter über Leben und Tod aufschwingt, wird er zum gefährlichsten Mann im Staat." Gerade 50 Jahre nach den Nürnberger Ärzteprozessen und auf diesem Messegelände, wo sich während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ein Sammellager für Juden, Sinti und Roma und eine Außenstelle des Konzentrationslagers Buchenwald befand, ist daran mit tiefen Ernst zu erinnern.
Forderungen nach einem sogenannten "Gnadentod" stehen im übrigen auch in einem merkwürdigen Gegensatz zu den oft von gleicher Seite geäußerten Zweifeln, daß der endgültige, vollständige und unumkehrbare Funktionsausfall des gesamten Gehirns ein sicheres Todeszeichen des Menschen ist, oder im Widerspruch zu der Vermutung, daß aus rein utilitaristischen Gründen eine andere Grenze als die naturgegebene zwischen Leben und Tod gezogen werden könnte.
Organspende ein Akt der Nächstenliebe
Die 1979 von einer Expertengruppe des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer erarbeiteten "Kriterien des Hirntodes" zur Feststellung des Todes des Menschen geben Entscheidungshilfe für die Frage, wann es aus ärztlichen, ethisch-moralischen Gründen erlaubt ist, sinnlos gewordene intensivmedizinische Maßnahmen zu beenden, weil der Tod inzwischen eingetreten ist. Sie sind also keine Definition gleichsam eines "neuen Todes". Auch für die Transplantationsmedizin ergeben sich daraus Konsequenzen. Nach eingetretenem Tod können Organe entnommen und anderen Menschen transplantiert werden, bei denen der Funktionsausfall gerade eben dieser Organe unweigerlich den Tod herbeiführen müßte. Durch Organtransplantation wird den Kranken also ein sonst verlorener Lebensabschnitt eröffnet. Organtransplantation ist deshalb eine Entscheidung für das Leben. Die Erhaltung eines Menschenlebens mit Hilfe einer Organspende von einem Toten ist ein Akt der Nächstenliebe. Organspende und Organtransplantation sind in vielen Fällen die einzige und letzte Möglichkeit, Leben zu erhalten. Der von CDU/CSU, SPD und FDP in den Bundestag eingebrachte Entwurf für ein Transplantationsgesetz sollte hier endlich Rechtsklarheit schaffen.
Folgt man dagegen dem Transplantationsgesetz-Entwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, wäre dies das Ende der Organtransplantation in Deutschland. Zu den Voraussetzungen der Organentnahme nach irreversiblem Ausfall der Hirnfunktion heißt es dort: "Die Entnahme von Organen Lebender nach irreversiblem Ausfall aller meßbaren Hirnfunktionen ist zulässig, wenn durch den vorliegenden Organspendeausweis die Einwilligung dokumentiert ist und die ärztlichen Feststellungen nach Paragraph 16 getroffen sind". Kein Chirurg wäre bereit, "Lebenden" Organe zu entnehmen. Dies käme schließlich auch bei Vorliegen einer Einwilligung zur Organentnahme einer Tötung auf Verlangen gleich. Ebenso unzulässig ist eine Organentnahme lediglich nach Herzstillstand. Zu dem Problem des "Non-heart-beating-donor" haben deshalb Bundesärztekammer und Deutsche Transplantationsgesellschaft eine Stellungnahme abgegeben, in der es unter anderem heißt: "Der Herzstillstand allein ist kein sicheres Todeszeichen, solange ungewiß ist, ob er unabänderlich ist oder bereits zum endgültigen, nicht behebbaren Ausfall der gesamten Hirnfunktion geführt hat. Daher lehnen die Bundesärztekammer und die Deutsche Transplantationsgesellschaft die Entnahme von Organen wie Niere, Leber oder Bauchspeicheldrüse unter solchen Bedingungen ab."
Forderungen zur Gesundheitsreform
Wir stehen vor großen, früher unbekannten Herausforderungen. Faszinierende wissenschaftliche und technische Entwicklungen eröffnen eine Fülle früher ungeahnter Möglichkeiten, deren Nutzen und Risiken sorgfältiger Abwägung bedürfen. Auf der anderen Seite stehen schon jetzt Mittelknappheit und eine wirtschaftliche Rezession, die den sozialen Anspruch unserer Gesellschaft nachhaltig bedrohen. In diesem Spannungsfeld bedarf es klarer Analysen und verantwortungsvoller Entscheidungen, mit denen wir auch vor der nächsten Generation bestehen können. Mit vordergründigen, durch politische und Partikularinteressen geprägte Rethorikschlachten können wir keinen Sieg für die nachwachsende Generation erringen. Eine wirklich patientengerechte Gesundheitsreform erfordert statt politischer Kurpfuscherei endlich eine wirksame Therapie - und dazu zählt insbesondere c Weiterentwicklung der medizinischen Versorgung mit dem Ziel, die sektoralen Abgrenzungen durch eine bessere Verbindung der einzelnen Versorgungsbereiche zu überwinden.
c Strukturierung nach den Versorgungserfordernissen der Patienten mit stärkerer personaler Integration von ambulanter und stationärer Versorgung, zum Beispiel durch Kooperationsmodelle zur gemeinsamen Nutzung von Krankenhausspezialeinrichtungen und Großgeräten durch niedergelassene und Krankenhausärzte, Förderung des kooperativen Belegarztwesens sowie Verbesserung der Zusammenarbeit und Kommunikation zwischen niedergelassenen und Krankenhausärzten.
c Persönliche (Regel-) Ermächtigung eines besonders qualifizierten Krankenhausfacharztes mit mehr als vierjähriger Facharzttätigkeit für die Konsiliarberatungen auf Überweisung eines niedergelassenen Arztes (nur klinische Untersuchung, Beratung und Arztbrief) oder eines Facharztes desselben Gebietes (mit festgelegtem Leistungsumfang).
c Stärkung der Selbstverwaltung und Gewährleistung von Ausgewogenheit in den Beziehungen zwischen Ärzten, Krankenkassen und Kran-kenhausträgern mit einem wirksamen Steuerungsinstrumentarium zur Sicherung von Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung in den einzelnen Leistungsbereichen.
c Beibehaltung des Sicherstellungsauftrages für die vertragsärztliche Versorgung als Voraussetzung für die Aufrechterhaltung einer flächendeckenden, guten und kostengünstigen vertragsärztlichen Versorgung mit der Möglichkeit der Vereinbarung von differenzierten Versorgungs- und Vergütungsmodellen, soweit dadurch die notwendige flächendeckende Ver-sorgung nicht tangiert und der erforderliche Versicherungsschutz nicht eingeschränkt wird.
c Sicherstellung der Finanzierung einer bedarfsgerechten Krankenhausversorgung, d.h. eines nach Leistungsfähigkeit gestuften und flächendeckend gegliederten Systems von wohnortnahen Krankenhäusern mit differenzierter medizinischer Aufgabenstellung.
c Strukturreform der Krankenhäuser und ihres ärztlichen Dienstes (Teamarzt-Modelle).
c Klarstellung der gesetzlichen Grundlagen zur Zuständigkeit der Ärztekammern für die Qualitätssicherung ärztlicher Berufsausübung.
c Erhaltung des bewährten gegliederten Krankenversicherungssystems mit Aufgabenteilung zwischen der gesetzlichen Krankenversicherung als solidarisch finanzierter Sozialversicherung und der privaten Krankenversicherung als risikoäquivalenter Privatversicherung.
c Entlastung des Leistungskataloges um krankenversicherungsfremde Leistungen.
c Differenzierung des Leistungskataloges in solidarisch zu finanzierende Leistungen und satzungsgemäße Zusatzleistungen.
c Überprüfung der Finanzierungsgrundlagen des Gesundheitswesens angesichts der rückläufigen Lohnquote.
Gesellschaftlicher Konsens nötig
Die notwendigen Reformen in den einzelnen Zweigen der Sozialversicherung werden nur dann greifen, wenn sie in einem breiten gesellschaftlichen- und parteiübergreifenden Konsens durchgeführt werden können. Die Forderung nach einer Strukturreform ist kein Selbstzweck. Sie erwächst aus Sorge um den Sozialstaat und den Wirtschaftsstandort Deutschland. Deshalb appellieren wir Ärzte an die politischen Entscheidungsträger: Haben Sie den Mut, Verantwortung und Regelungskompetenz an die tatsächlich Beteiligten und Betroffenen zu delegieren. Bleiben Sie bei dem Konzept der "Vorfahrt für die Selbstverwaltung".
Bei der Bewältigung vieler Probleme müssen wir uns aber auch darüber klar werden, daß sie durch die Erfüllung der Sehnsüchte vieler Generationen nach längerem Leben und Älterwerden, ebenso wie durch den Wunsch nach Freiheit in Deutschland und in Europa, entstanden sind. Die bedrohlichen Folgen von Diktatur und Unfreiheit sowie der Aufteilung der Welt in zwei sich feindlich gegenüberstehende Machtblöcke konnten wir in Gemeinsamkeit überwinden, aus der Stärke erwuchs. Unter Zurückstellung von mancherlei Einzelinteressen können daraus Mut und Zuversicht erwachsen, auch den sich aus einem erweiterten Wissens- und Erkenntnisstand ebenso wie aus der Freiheit ergebenden Folgen zu begegnen und Lösungen zu finden. Nutzen wir also gemeinsam die sich daraus ergebenden Chancen, um auf diese Weise der Gesundheit des Einzelnen und der gesamten Bevölkerung zu dienen.
Anschrift des Verfassers:
Dr. med. Karsten Vilmar
Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages
Herbert-Lewin-Straße 1
50931 Köln
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50. Bayerischer Ärztetag: Regelversorgung ohne Kostendruck
in: Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 43 (24.10.1997), Seite A-2789
POLITIK: Leitartikel
Die ökonomischen Zwänge, unter denen Ärzte in Klinik und Praxis heute arbeiten, sowie die Sicherung einer qualitativ hochstehenden ärztlichen Versorgung standen im Mittelpunkt des 50. Bayerischen Ärztetages. Die wenig rosige aktuelle Lage bot kaum Anlaß für eine Jubelfeier, wie sie an sich dem runden Geburtstag entsprochen hätte.
Der Präsident der Bayerischen Landesärztekammer, Dr. Hans Hege, sieht die Ärzte in einer moralischen Zwickmühle zwischen Therapie und Ökonomie. Dem Erfordernis von notwendiger Diagnostik und Therapie und den medizinischen Möglichkeiten stünden die ökonomischen Zwänge gegenüber - und die würden immer größer. Hege befürchtet, das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient könne Schaden nehmen. Bei der Eröffnung des 50. Bayerischen Ärztetages, am 10. Oktober in München, ventilierte Hege Vorschläge, um aus der Zwickmühle herauszukommen. Hege setzte sich dafür ein, die Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung notfalls auf eine Grundversorgung zurückzuführen. Vorrangig sei die Versorgung von Kranken und Leidenden ohne Kostendruck. Zumindest für eine solche "Regelversorgung" müsse das Geld dasein. Wenn darüber hinaus nicht genügend Mittel vorhanden seien, dann müsse über Einschränkungen nicht nur nachgedacht werden. Hege kam mit konkreten Vorschlägen, und er scheute dabei auch keine heißen Eisen. Die künstliche Befruchtung muß seiner Meinung nach nicht zur Grundversorgung gehören. Auch die Prävention im Sinne des großflächigen Screenings ohne akuten Anlaß steht nach Hege zur Debatte. Selbst die Psychotherapie gehört, folgt man ihm, auf den Prüfstand. Hege setzte sich jedenfalls für eine strenge Indikationsstellung ein. Laut Dr. Karsten Vilmar, dem Präsidenten der Bundesärztekammer, der bei der Eröffnung des Bayerischen Ärztetages sprach, ist die heutige Zwangslage wesentlich eine Folge verfehlter Politikansätze in den sechziger und siebziger Jahren, so der damals ausufernden Bildungspolitik. Vilmar begrüßte die jüngsten Gesundheitsreformen, wenn auch das Reformpotential noch nicht ausgeschöpft sei. Er sieht neue Chancen für die Selbstverwaltung, lehnt aber Selbstverwaltung in Form einer staatlichen Auftragsverwaltung ab. Mahnungen an die
Selbstverwaltung
Mahnungen an die Selbstverwaltung kamen von der bayerischen Staatsministerin Barbara Stamm. So lehnte Stamm Forderungen, in die innerärztlichen Verteilungsprobleme einzugreifen, kategorisch ab. Da gebe es derzeit keinen staatlichen Handlungszwang, die Selbstverwaltung solle ihren Handlungsspielraum nutzen. Angemahnt wurde von ihr ein schlüssiges Konzept für die Verzahnung von ambulantem und stationärem Sektor. Hier sei die Selbstverwaltung im Verzug.
Die Arbeitstagung des Bayerischen Ärztetages am 10. und 11. Oktober beschäftigte sich im weitesten Sinne mit der Qualität der ärztlichen Berufsausübung. Verabschiedet wurde eine neue Berufsordnung nach dem Muster der beim 100. Deutschen Ärztetag in Eisenach im Mai dieses Jahres beschlossenen Vorlage. Ein Kennzeichen dieser Berufsordnung ist Offenheit gegenüber Patientenerwartungen, ohne aber die Selbstbeschränkungen der Ärzteschaft, zum Beispiel in Sachen Werbung, allzusehr zu lockern. Immerhin, im Internet darf ein Arzt künftig seine Homepage aufmachen. Bayerns Kammer-Vize, Dr. Hans Hellmut Koch, kam mit seinem Vorschlag, ein Fortbildungszertifikat auf freiwilliger Basis (zunächst als Modell für zwei Jahre) einzuführen, durch. Auf Bundesebene war die Idee in der Vergangenheit mehrfach gescheitert. Mit Qualitätssicherung im engeren Sinne beschäftigte sich Dr. med. Klaus Ottmann; er beschrieb den bayerischen Weg. Kennzeichen sind ausgewählte Projekte, Vermeidung von Datenfriedhöfen, ausgeprägte Kooperation von Ärztekammer und Kassenärztlicher Vereinigung.
In München wurde mehrfach ein drohender Facharztmangel beschworen. Vize Koch und der Vorsitzende des ärztlichen Kreis- und Bezirksverbandes München, Dr. med. Wolf von Römer, prophezeien den in etwa zehn bis fünfzehn Jahren. Denn fertige Fachärzte blieben heute in den Krankenhäusern und verstopften vielfach die Stellen für den weiterbildungswilligen Nachwuchs. Alternativen zeichneten sich bisher nicht ab: Die niedergelassene Praxis sei zu, der Ausbau von Planstellen am Krankenhaus - obwohl sachlich und rechtlich geboten - scheitere an den Kosten. Norbert Jachertz
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Was ist los mit unserem Land? Wir brauchen einen neuen Gesellschaftsvertrag zugunsten der Zukunft
in: Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 21 (23.05.1997), Seite A-1398
THEMEN DER ZEIT: Dokumentation
Bundespräsident Roman Herzog hat am 26. April 1997 in Berlin eine vielbeachtete Rede gehalten, die sich mit dem weitverbreiteten Gefühl einer "Lähmung unserer Gesellschaft", mit der Blockierung notwendiger Reformen, vor allem aber mit den Herausforderungen unserer Gesellschaft und der Verantwortung ihrer Eliten beschäftigte. Herzog sprach ausdrücklich auch Reformen im sozialen Bereich an. Wir dokumentieren die Rede - lediglich am Anfang geringfügig gekürzt.
Der Bundespräsident wird beim 100. Deutschen Ärztetag in Eisenach erwartet - nicht nur als stumm repräsentierender Gast, sondern auch als Redner.
Ich komme gerade aus Asien zurück. In vielen Ländern dort herrscht eine unglaubliche Dynamik. Staaten, die noch vor kurzem als Entwicklungsländer galten, werden sich innerhalb einer einzigen Generation in den Kreis der führenden Industriestaaten des 21. Jahrhunderts katapultieren. Kühne Zukunftsvisionen werden dort entworfen und umgesetzt, und sie beflügeln die Menschen zu immer neuen Leistungen.
Was sehe ich dagegen in Deutschland? Hier herrscht ganz überwiegend Mutlosigkeit, Krisenszenarien werden gepflegt. Ein Gefühl der Lähmung liegt über unserer Gesellschaft.
Dabei stehen wir wirtschaftlich und gesellschaftlich vor den größten Herausforderungen seit 50 Jahren: 4,3 Millionen Arbeitslose, die Erosion der Sozialversicherung durch eine auf dem Kopf stehende Alterspyramide, die wirtschaftliche, technische und politische Herausforderung der Globalisierung. Lassen wir uns nicht täuschen: Wer immer noch glaubt, das alles gehe ihn nichts an, weil es ihm selbst noch relativ gut geht, der steckt den Kopf in den Sand.
Ich will heute abend kein Blatt vor den Mund nehmen, sondern die Probleme beim Namen nennen.
Was ist los mit unserem Land? Im Klartext: Der Verlust wirtschaftlicher Dynamik, die Erstarrung der Gesellschaft, eine unglaubliche mentale Depression - das sind die Stichworte der Krise. Sie bilden einen allgegenwärtigen Dreiklang, aber einen Dreiklang in Moll. In der Tat: Verglichen mit den Staaten in Asien oder - seit einigen Jahren wieder - auch den USA, ist das Wachstum der deutschen Wirtschaft ohne Schwung. Und: In Amerika und Asien werden die Produktzyklen immer kürzer, das Tempo der Veränderung immer größer. Es geht auch nicht nur um technische Innovation und um die Fähigkeit, Forschungsergebnisse schneller in neue Produkte umzusetzen. Es geht um nichts Geringeres als um eine neue industrielle Revolution, um die Entwicklung zu einer neuen, globalen Gesellschaft des Informationszeitalters. Der Vergleich mit Amerika und seinem leergefegten Arbeitsmarkt zeigt: Deutschland droht tatsächlich zurückzufallen.
Wer Initiative zeigt, wer vor allem neue Wege gehen will, droht unter einem Wust von wohlmeinenden Vorschriften zu ersticken. Um deutsche Regulierungswut kennenzulernen, reicht schon der Versuch, ein simples Einfamilienhaus zu bauen. Kein Wunder, daß es - trotz ähnlicher Löhne - soviel billiger ist, das gleiche Haus in Holland zu bauen.
Und dieser Bürokratismus trifft nicht nur den kleinen Häuslebauer. Er trifft auch die großen und kleinen Unternehmer, und er trifft ganz besonders den, der auf die verwegene Idee kommt, in Deutschland ein Unternehmen zu gründen. Bill Gates fing in einer Garage an und hatte als junger Mann schon ein Weltunternehmen. Manche sagen mit bitterem Spott, daß sein Garagenbetrieb bei uns schon an der Gewerbeaufsicht gescheitert wäre.
Und der Verlust der wirtschaftlichen Dynamik geht Hand in Hand mit der Erstarrung unserer Gesellschaft.
Die Menschen bei uns spüren, daß die gewohnten Zuwächse ausbleiben, und sie reagieren darauf verständlicherweise mit Verunsicherung. Zum ersten Mal werden auch diejenigen, die bisher noch nie von Arbeitslosigkeit bedroht waren, von Existenzangst für sich und ihre Familien geplagt. Das amerikanische Nachrichtenmagazin "Newsweek" sprach schon von der "deutschen Krankheit". Das ist gewiß übertrieben. Aber so viel ist doch richtig: wer heute in unsere Medien schaut, der gewinnt den Eindruck, daß Pessimismus das allgemeine Lebensgefühl bei uns geworden ist.
Das ist ungeheuer gefährlich; denn nur zu leicht verführt Angst zu dem Reflex, alles Bestehende erhalten zu wollen, koste es, was es wolle. Eine von Ängsten erfüllte Gesellschaft wird unfähig zu Reformen und damit zur Gestaltung der Zukunft. Angst lähmt den Erfindergeist, den Mut zur Selbständigkeit, die Hoffnung, mit den Problemen fertig zu werden. Unser deutsches Wort "Angst" ist bereits als Symbol unserer Befindlichkeit in den Sprachschatz der Amerikaner und Franzosen eingeflossen. "Mut" oder "Selbstvertrauen" scheinen dagegen aus der Mode gekommen zu sein.
Unser eigentliches Problem ist also ein mentales: Es ist ja nicht so, als ob wir nicht wüßten, daß wir Wirtschaft und Gesellschaft dringend modernisieren müssen. Trotzdem geht es nur mit quälender Langsamkeit voran. Uns fehlt der Schwung zur Erneuerung, die Bereitschaft, Risiken einzugehen, eingefahrene Wege zu verlassen, Neues zu wagen. Ich behaupte: Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem. Während die Auswirkungen des technischen Wandels auf dem Arbeitsmarkt und die Folgen der Demographie für die sozialen Netze auch andere Industrieländer, etwa Japan, heimsuchen, gibt es für den Modernisierungsstau in Deutschland keine mildernden Umstände. Er ist hausgemacht, und wir haben ihn uns selbst zuzurechnen.
Dabei leisten wir uns auch noch den Luxus, so zu tun, als hätten wir zur Erneuerung beliebig viel Zeit: Ob Steuern, Renten, Gesundheit, Bildung, selbst der Euro - zu hören sind vor allem die Stimmen der Interessengruppen und Bedenkenträger. Wer die großen Reformen verschiebt oder verhindern will, muß aber wissen, daß unser Volk insgesamt dafür einen hohen Preis zahlen wird. Ich warne alle, die es angeht, eine dieser Reformen aus wahltaktischen Gründen zu verzögern oder gar scheitern zu lassen. Den Preis dafür zahlen vor allem die Arbeitslosen.
Alle politischen Parteien und alle gesellschaftlichen Kräfte beklagen übereinstimmend das große Problem der hohen Arbeitslosigkeit. Wenn sie wirklich meinen, was sie sagen, erwarte ich, daß sie jetzt schnell und entschieden handeln! Ich rufe auf zu mehr Entschlossenheit! Eine Selbstblockade der politischen Institutionen können wir uns nicht leisten.
Innovationsfähigkeit fängt im Kopf an, bei unserer Einstellung zu neuen Techniken, zu neuen Arbeits- und Ausbildungsformen, bei unserer Haltung zur Veränderung schlechthin. Ich meine sogar: Die mentale und die intellektuelle Verfassung des Standorts Deutschland ist heute schon wichtiger als der Rang des Finanzstandorts oder die Höhe der Lohnnebenkosten. Die Fähigkeit zur Innovation entscheidet über unser Schicksal. 20 Jahre haben wir gebraucht, um den Ladenschluß zu reformieren. Die zentralen Herausforderungen unserer Zeit werden wir mit diesem Tempo ganz gewiß nicht bewältigen. Wer 100 Meter Anlauf nimmt, um dann zwei Meter weit zu springen, der braucht gar nicht anzutreten.
Allzuoft wird versucht, dem Zwang zu Veränderungen auszuweichen, indem man einfach nach dem Staat ruft; dieser Ruf ist schon fast zum allgemeinen Reflex geworden. Je höher aber die Erwartungen an den Staat wachsen, desto leichter werden sie auch enttäuscht; nicht nur wegen knapper Kassen. Der Staat und seine Organe sind der Komplexität des modernen Lebens - mit all seinen Grenz- und Sonderfällen - oft einfach nicht gewachsen, und sie können es auch gar nicht sein.
Der Staat leidet heute besonders unter dem Mythos der Unerschöpflichkeit seiner Ressourcen. Man könnte das auch so sagen: Die Bürger überfordern den Staat, der Staat seinerseits überfordert die Bürger. Je höher die Steuerlast, desto höher die Erwartungen an den Staat. Dem bleibt dann nichts anderes übrig, als sich weiter zu verschulden oder erneut die Steuern zu erhöhen. Bei überhöhter Verschuldung bleibt nur noch die Roßkur der Haushaltssanierung mit schmerzhaften konjunkturellen Folgen. Ein Teufelskreis!
Mit dem rituellen Ruf nach dem Staat geht ein - wie ich finde - gefährlicher Verlust am Gemeinsinn einher. Wer hohe Steuern zahlt, meint allzuleicht, damit seine Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft abschließend erfüllt zu haben. Vorteilssuche des einzelnen zu Lasten der Gemeinschaft ist geradezu ein Volkssport geworden. Wie weit sind wir gekommen, wenn derjenige als clever gilt, der das soziale Netz am besten für sich auszunutzen weiß, der Steuern am geschicktesten hinterzieht oder die Subventionen am intelligentesten abzockt? Und jeder rechtfertigt sein Verhalten mit dem Hinweis auf die anderen, die es - angeblich - ja auch so machen.
Führen wir angesichts dieser Probleme überhaupt noch die richtigen Debatten? Ich will ganz unten ansetzen: Die Welt um uns herum ist hochkompliziert geworden, der Bedarf an differenzierten Antworten wird infolgedessen immer größer. Aber gerade bei den Themen, die am heftigsten diskutiert werden, ist der Informationsstand des Bürgers erschreckend gering. Umfragen belegen, daß nur eine Minderheit weiß, um was es bei den großen Reformen derzeit eigentlich geht. Das ist ein Armutszeugnis für alle Beteiligten: die Politiker, die sich allzuleicht an Detailfragen festhaken und die großen Linien nicht aufzeigen, die Medien, denen billige Schlagzeilen oft wichtiger sind als saubere Information, die Fachleute, die sich oft zu gut dafür sind, in klaren Sätzen zu sagen, "was Sache ist".
Statt dessen gefallen wir uns in Angstszenarien. Kaum eine neue Entdeckung, bei der nicht zuerst nach den Risiken und Gefahren, keineswegs aber nach den Chancen gefragt wird. Kaum eine Anstrengung zur Reform, die nicht sofort als "Anschlag auf den Sozialstaat" unter Verdacht gerät. Ob Kernkraft, Gentechnik oder Digitalisierung: Wir leiden darunter, daß die Diskussionen bei uns bis zur Unkenntlichkeit verzerrt werden - teils ideologisiert, teils einfach "idiotisiert". Solche Debatten führen nicht mehr zu Entscheidungen, sondern sie münden in Rituale, die immer wieder nach dem gleichen Muster ablaufen, nach einer Art Sieben-StufenProgramm:
1. Am Anfang steht ein Vorschlag, der irgendeiner Interessengruppe Opfer abverlangen würde.
2. Die Medien melden eine Welle "kollektiver Empörung".
3. Spätestens jetzt springen die politischen Parteien auf das Thema auf, die einen dafür, die anderen dagegen.
4. Die nächste Phase produziert einen Wirrwarr von Alternativvorschlägen und Aktionismen aller Art, bis hin zu Massendemonstrationen, Unterschriftensammlungen und zweifelhaften Blitzumfragen.
5. Es folgt allgemeine Unübersichtlichkeit, die Bürger werden verunsichert.
6. Nunmehr erschallen von allen Seiten Appelle zur "Besonnenheit".
7. Am Ende steht meist die Vertagung des Problems. Der Status quo setzt sich durch. Alle warten auf das nächste Thema.
Diese Rituale könnten belustigend wirken, wenn sie nicht die Fähigkeit, zu Entscheidungen zu kommen, gefährlich lähmen würden. Wir streiten uns um die unwichtigen Dinge, um den wichtigen nicht ins Auge sehen zu müssen. Erinnert man sich heute noch an den Streit über die Volkszählung, der vor ein paar Jahren die ganze Nation in Wallung brachte? Scheinsachverständige mit Doktortitel äußern sich zu beliebigen Themen, Hauptsache, es wird kräftig schwarzgemalt und Angst gemacht. Wissenschaftliche und politische Scheingefechte werden so lange geführt, bis der Bürger restlos verwirrt ist; ohnehin wird die Qualität der Argumente dabei oft durch verbale Härte, durch Kampfbegriffe und "Schlagabtausche" ersetzt. Und das in einer Zeit, in der die Menschen durch die großen Umbrüche ohnehin verunsichert sind; in einer Zeit, in der der Verlust von eigenem Erfahrungswissen durch äußere Orientierung ersetzt werden müßte. Ich mahne zu mehr Zurückhaltung: Worte können verletzen und Gemeinschaft zerstören. Das können wir uns nicht auf Dauer leisten, schon gar nicht in einer Zeit, in der wir mehr denn je auf Gemeinschaft angewiesen sind.
Können unsere Eliten über die dogmatischen Schützengräben hinweg überhaupt noch Entscheidungen treffen? Wer bestimmt überhaupt noch den Gang der Gesellschaft: diejenigen, die die demokratische Legitimation dazu haben, oder jene, denen es gelingt, die Öffentlichkeit für ihr Thema am besten zu mobilisieren? Interessenvertretung ist sicher legitim. Aber erleben wir nicht immer wieder, daß einzelne Gruppen durch die kompromißlose Verteidigung ihrer Sonderinteressen längst überfäl-lige Entscheidungen blockieren können? Ich mahne zu mehr Verantwortung!
In Amerika hat man Interessengruppen, die durch die Mobilisierung der öffentlichen Meinung ihre Sonderinteressen verfechten, "Veto-Gruppen" genannt, wahrlich eine treffende Bezeichnung. Sie führen dazu, daß über Probleme nur noch geredet, aber nicht mehr gehandelt wird. Die Parole heißt dann: durchwursteln, unter angestrengter Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Folge ist der Verlust der großen Perspektive.
Ich vermisse bei unseren Eliten in Politik, Wirtschaft, Medien und gesellschaftlichen Gruppen die Fähigkeit und den Willen, das als richtig Erkannte auch durchzustehen. Es kann ja sein, daß einem einmal der Wind der öffentlichen Meinung ins Gesicht bläst. Unser Land befindet sich aber in einer Lage, in der wir es uns nicht mehr leisten können, immer nur den Weg des geringsten Widerstands zu gehen.
Ich glaube sogar: In Zeiten existentieller Herausforderung wird nur der gewinnen, der wirklich zu führen bereit ist, dem es um Überzeugung geht und nicht um politische, wirtschaftliche oder mediale Macht - ihren Erhalt oder auch ihren Gewinn. Wir sollten die Vernunft- und Einsichtsfähigkeit der Bürger nicht unterschätzen. Wenn es um die großen Fragen geht, honorieren sie einen klaren Kurs. Unsere Eliten dürfen den notwendigen Reformen nicht hinterherlaufen, sie müssen an ihrer Spitze stehen!
Eliten müssen sich durch Leistung, Entscheidungswillen und ihre Rolle als Vorbild rechtfertigen. Ich erwarte auch eine klare Sprache! Wer - wo auch immer - führt, muß den Menschen, die ihm anvertraut sind, reinen Wein einschenken, auch wenn das unangenehm ist. Ich mache den 35jährigen Kohlekumpeln, die in Bonn für den Erhalt ihres Arbeitsplatzes demonstriert haben, keinen Vorwurf. Ich weiß, daß den Bergleuten jetzt viel abverlangt wird, und ich fühle mit ihnen. Mein Vorwurf gilt aber denjenigen, die vor zwanzig Jahren die damals 15jährigen ermutigt haben, diesen Beruf zu ergreifen, indem sie ihnen wider besseres Wissen erzählt haben, er habe uneingeschränkt eine Zukunft.
Die einfache Wahrheit ist heute doch: Niemand darf sich darauf einrichten, in seinem Leben nur einen Beruf zu haben. Ich rufe auf zu mehr Flexibilität! In der Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts werden wir alle lebenslang lernen, neue Techniken und Fertigkeiten erwerben und uns an den Gedanken gewöhnen müssen, später einmal in zwei, drei oder sogar vier verschiedenen Berufen zu arbeiten.
Das Problempanorama ließe sich beliebig vervollständigen. Aber ich habe vorhin gesagt, es fehlt uns nicht an Analysen, sondern am Handeln. Deshalb will ich mich jetzt der Frage zuwenden: Was muß geschehen?
Ich meine, wir brauchen einen neuen Gesellschaftsvertrag zugunsten der Zukunft. Alle, wirklich alle, Besitzstände müssen auf den Prüfstand. Alle müssen sich bewegen. Wer nur etwas vom anderen fordert - je nach Standort von den Arbeitgebern, den Gewerkschaften, dem Staat, den Parteien, der Regierung, der Opposition -, der bewegt gar nichts.
Zuerst müssen wir uns darüber klarwerden, in welcher Gesellschaft wir im 21. Jahrhundert leben wollen. Wir brauchen wieder eine Vision. Visionen sind nicht anderes als Strategien des Handelns. Das ist es, was sie von Utopien unterscheidet.
Visionen können ungeahnte Kräfte mobilisieren: Ich erinnere nur an die Vitalität des "American Dream", an die Vision der Perestroika, an die Kraft der Freiheitsidee im Herbst 1989 in Deutschland.
Auch die Westdeutschen hatten einmal eine Vision, die sie aus den Trümmern des Zweiten Weltkrieges emporführte: die Vision der sozialen Marktwirtschaft, die Wohlstand für alle versprach und dieses Versprechen gehalten hat. Die Vision, das im Krieg geschlagene und moralisch diskreditierte Deutschland in die Gemeinschaft demokratischer Staaten und nach Europa zurückzuführen. Und schließlich die Vision der Vereinigung des geteilten Deutschlands.
Niemand darf von mir Patentrezepte erwarten. Aber wenn ich versuche, mir Deutschland im Jahre 2020 vorzustellen, dann denke ich an ein Land, das sich von dem heutigen doch wesentlich unterscheidet.
Erstens: Wäre es nicht ein Ziel, eine Gesellschaft der Selbständigkeit anzustreben, in der der einzelne mehr Verantwortung für sich und andere trägt und in der er das nicht als Last, sondern als Chance begreift? Eine Gesellschaft, in der nicht alles vorgegeben ist, die Spielräume öffnet, in der auch dem, der Fehler macht, eine zweite Chance eingeräumt wird. Eine Gesellschaft, in der Freiheit der zentrale Wert ist und in der Freiheit sich nicht nur durch die Chance auf materielle Zuwächse begründet.
Zweitens: Wäre es nicht ein Ziel, eine Gesellschaft anzustreben, die nicht mehr wie heute strikt in ArbeitsplatzBesitzer und Menschen ohne Arbeit geteilt ist? Arbeit wird in Zukunft anders sein als heute: Neue, wissensgestützte Berufe werden unqualifizierte Jobs verdrängen, und es wird mehr Dienstleistungen als industrielle Arbeit geben. Statt Lebens-Arbeitsplätzen wird es mehr Mobilität und mehr Flexibilität geben, auch zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Arbeit dient nicht nur dem Lebensunterhalt, Arbeit kann und soll auch Freude machen und Stolz vermitteln. Niemandem, der sich mit voller Kraft engagiert, darf deswegen ein schlechtes Gewissen eingeredet werden.
Drittens: Wäre es nicht ein Ziel, eine Gesellschaft der Solidarität anzustreben - nicht im Sinne der Maximierung von Sozialtransfers, sondern im Vertrauen auf das verantwortliche Handeln jedes einzelnen für sich selbst und die Gemeinschaft? Solidarität ist Hilfe für den, dem die Kraft fehlt, für sich selbst einzustehen. Solidarität heißt aber auch Rücksicht auf die kommenden Generationen.
Viertens: Ich erwarte eine Informations- und Wissensgesellschaft. Das ist die Vision einer Gesellschaft, die jedem die Chance einräumt, an der Wissensrevolution unserer Zeit teilzuhaben. Das heißt: bereit zum lebenslangen Lernen zu sein, den Willen zu haben, im weltweiten Wettbewerb um Wissen in der ersten Liga mitzuspielen. Dazu gehört vor allem auch ein aufgeklärter Umgang mit Technik.
Fünftens: Ich wünsche mir eine Gesellschaft, die die europäische Einigung nicht als Technik des Zusammenlebens versteht, sondern die Europa als Teil ihrer politischen und kulturellen Identität empfindet und bereit ist, diese in der bunter werdenden Welt zu bewahren und zu bewähren.
Sechstens: Ich wünsche mir deshalb eine Gesellschaft, die die internationale Verantwortung Deutschlands annimmt und sich für eine Weltordnung einsetzt, in der die Unterschiedlichkeit der Kulturen nicht neue Konflikt- und Kampflinien schafft. Auch im Inneren muß eine offene Gesellschaft entstehen, eine Gesellschaft der Toleranz, die das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Kulturen möglich macht.
Wir brauchen aber nicht nur den Mut zu solchen Visionen, wir brauchen auch die Kraft und die Bereitschaft, sie zu verwirklichen. Ich rufe auf zur inneren Erneuerung! Vor uns liegt ein langer Weg der Reformen. Wir müssen heute mit dem ersten Schritt beginnen. Da sind zunächst die Reformen, über die wir schon viel zu lange reden:
- Beispiel Lohnnebenkosten: Daß die Lohnnebenkosten zu hoch sind, weiß mittlerweile wirklich jeder. Wann endlich werden die Kosten der Arbeit von versicherungsfremden Leistungen befreit?
- Beispiel Arbeitsmarkt: Wann finden Arbeitgeber und Gewerkschaften endlich die Kraft zu Abschlüssen, die Neueinstellungen möglich machen?
- Beispiel Subventionen: Statt Subventionen mutig zu kürzen, fallen uns immer wieder neue Vorschläge für staatliche Leistungen ein. Dabei hat manches Förderprogramm längst seinen guten Sinn verloren.
- Beispiel öffentliche Verwaltung: Ich frage mich manchmal, ob mancherorts bei öffentlichen Baumaßnahmen ein Wettlauf zwischen Ausbau und Rückbau stattfindet. Und überall gilt: die vielen kleinen Fälle öffentlicher Verschwendung ergeben zusammen Milliardensummen. Wo bleibt ein modernes Haushaltsrecht, das Sparen belohnt und Verschwendung bestraft?
- Beispiel Deregulierung: Ist es wirklich ein Naturgesetz, daß man in Deutschland bis zu 19 Behörden fragen muß, wenn man einen Produktionsbetrieb errichten will, obwohl der neue Arbeitsplätze schafft?
- Beispiel Arbeitslosigkeit bei den Niedriglohngruppen: Alle wissen heute, daß Löhne und Sozialhilfeleistungen so weit auseinanderliegen müssen, daß es sich für den einzelnen auch lohnt zu arbeiten. Dabei geht es mir nicht um die vielzitierte Mutter mit vier oder fünf Kindern. Aber warum ist es so schwierig, das Lohnabstandsgebot für die durchzusetzen, die wirklich arbeiten könnten? Und sei es auch um den Preis öffentlicher Lohnzuschüsse, die immer noch billiger wären als die vollen Sozialhilfeleistungen?
- Beispiel Krankenversicherung: Warum finanzieren die Krankenkassen immer noch Erholungskuren, während auf der anderen Seite das Geld für lebenserhaltende Operationen knapp wird? Ständig steigende Beiträge sind hier gewiß kein Ausweg, denn sie gefährden Arbeitsplätze.
- Und schließlich Beispiel Steuerreform: Dazu fällt mir nach der Entwicklung der letzten Tage überhaupt nichts mehr ein.
Der Weg in die von mir skizzierte Gesellschaft beginnt mit dem Nachholen all der Reformen, die bislang liegengeblieben sind. Wir müssen endlich die Reform-Hausaufgaben machen, über die wir schon so lange reden. Wir müssen aber ebenso schon heute den Blick darüber hinaus richten. Die angesprochenen Reformen werden für sich allein genommen nicht ausreichen, die Zukunft zu gewinnen.
Ich möchte dazu etwas grundsätzlicher werden. Wir erleben heute, daß dem Menschen ein Zuwachs an Sicherheit durch staatliche Vorsorge oft wichtiger ist als der damit einhergehende Verlust an Freiheit. Wir fordern Freiheit - aber was ist, wenn die Bürger ihre Freiheit als kalt empfinden und statt dessen auf die Geborgenheit staatlicher Für- und Vorsorge setzen?
Diese Frage läßt sich nicht mit dem Federstrich eines Gesetzestextes beantworten. Wir müssen also tiefer ansetzen: bei unserer Jugend, bei dem, was wir mit unserem Erziehungs- und Bildungssystem vermitteln. Wir müssen unsere Jugend auf die Freiheit vorbereiten, sie fähig machen, mit ihr umzugehen. Ich ermutige zur Selbstverantwortung, damit unsere jungen Menschen Freiheit als Gewinn und nicht als Last empfinden. Freiheit ist das Schwungrad für Dynamik und Veränderung. Wenn es uns gelingt, das zu vermitteln, haben wir den Schlüssel der Zukunft in der Hand. Ich bin überzeugt, daß die Idee der Freiheit die Kraftquelle ist, nach der wir suchen, und die uns helfen wird, den Modernisierungsstau zu überwinden und unsere Wirtschaft und Gesellschaft zu dynamisieren. Deswegen gebe ich der Reform unseres Bildungssystems so hohe Priorität: Bildung muß das Mega-Thema unserer Gesellschaft werden. Wir brauchen einen neuen Aufbruch in der Bildungspolitik, um in der kommenden Wissensgesellschaft bestehen zu können.
Das ist nicht primär eine Frage des Geldes. Zuerst brauchen wir weniger Selbstgefälligkeit: Wie kommt es, daß die leistungsfähigsten Nationen in der Welt es schaffen, ihre Kinder die Schulen mit 17 und die Hochschulen mit 24 abschließen zu lassen? Es sind - wohlgemerkt - gerade diese Länder, die auf dem Weltmarkt der Bildung am attraktivsten sind. Warum soll nicht auch in Deutschland ein Abitur in zwölf Jahren zu machen sein? Für mich persönlich sind die Jahre, die unseren jungen Leuten bisher verlorengehen, gestohlene Lebenszeit.
Auch die Ausbildungsinhalte gehören auf den Prüfstand. Es geht in Zukunft noch weniger als bisher nur um die Vermittlung von Wissen. Mit dem Tempo der Informationsexplosion kann der einzelne sowieso nicht mehr Schritt halten. Also müssen wir die Menschen lehren, mit diesem Wissen umzugehen. Wissen vermehrt sich immer schneller, zugleich veraltet es in noch nie dagewesenem Tempo. Wir kommen gar nicht darum herum, lebenslang zu lernen. Es kann nicht das Ziel universitärer Bildung sein, mit dreißig einen Doktortitel zu haben, dabei aber keine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt. Unsere Hochschulen brauchen deshalb mehr Selbstverwaltung. Ich ermutige zu mehr Wettbewerb und zu mehr Spitzenleistungen. Ich weiß, daß solche Vorschläge schon lange auf dem Tisch liegen. Auch hier ist das Tempo der Umsetzung das Problem. Wir dürfen nicht so tun, als könnten wir die Schul- und Hochschulreform den Spezialisten überlassen. Es geht um eine zentrale Aufgabe. Sie betrifft die Zukunft unserer Gesellschaft insgesamt.
Wenn ich von der Zukunft unserer Gesellschaft rede, spreche ich - wie schon gesagt - zwangsläufig von der Jugend. Unsere Jugend ist das größte Kapital, das wir haben. Wir müssen ihr nur Perspektiven geben. Dazu gehört nicht nur, daß wir keine Schuldenpolitik zu ihren Lasten betreiben, mit der wir ihr alle Spielräume verbauen.
Ich frage weiter: Warum gibt es so wenige Angebote für Jugendliche zu einem freiwilligen sozialen Engagement? Es gibt sie doch wieder, die Jugendlichen, die dazu bereit sind. Ich erlebe es in persönlichen Begegnungen, und ich sehe durch die Umfragen bestätigt, daß wir längst eine Trendwende in diesem Land haben: Die Pflichtwerte gewinnen wieder an Bedeutung gegenüber dem, was die Soziologen so schön die "Selbstverwirklichungswerte" nennen. Man könnte vermutlich auch einfach sagen: Egoismus allein ist nicht mehr "in", gerade unsere Jugend ist wieder bereit, sich für die Gemeinschaft einzusetzen. Wir müssen sie dann aber auch gewähren lassen, ihr Spielräume geben, Erfahrungen jenseits der materiellen Werte zu gewinnen. Wir müssen unserer Jugend zu mehr Selbständigkeit, zu mehr Bindungsfähigkeit, zu mehr Unternehmensgeist und mehr Verantwortungsbereitschaft Mut machen. Wir sollten ihr sagen: Ihr müßt etwas leisten, sonst fallt ihr zurück. Aber: Ihr könnt auch etwas leisten. Es gibt genug Aufgaben in unserer Gesellschaft, an denen junge Menschen ihre Verantwortung für sich und das Ganze beweisen können.
Wir Älteren aber müssen uns die Frage stellen: Was leben wir den jungen Menschen vor? Welche Leitbilder geben wir ihnen? Das Leitbild des ewig irritierten, ewig verzweifelten Versorgungsbürgers kann es doch wahrhaftig nicht sein! Die Jungen beobachten uns Alte sehr genau. Wirklich überzeugen werden wir sie nur, wenn wir ihnen unsere eigene Verantwortung glaubhaft vorleben.
Und schließlich: Wir müssen von dem hohen Roß herunter, daß Lösungen für unsere Probleme nur in Deutschland gefunden werden können. Der Blick auf den eigenen Bauchnabel verrät nur wenig Neues. Jeder weiß, daß wir eine lernende Gesellschaft sein müssen. Also müssen wir Teil einer lernenden Weltgesellschaft werden, einer Gesellschaft, die rund um den Globus nach den besten Ideen, den besten Lösungen sucht. Die Globalisierung hat nicht nur einen Weltmarkt für Güter und Kapital, sondern auch einen Weltmarkt der Ideen geschaffen, und dieser Markt steht auch uns offen. Die meisten traditionellen Industriestaaten standen oder stehen vor ähnlichen Problemen wie wir. Eine ganze Reihe von ihnen hat aber bewiesen, daß diese Probleme lösbar sind. - In Neuseeland hat man aus alten, ineffizienten Strukturen eine moderne Kommunalverwaltung aufgebaut. - In Schweden hat man den überbordenden Sozialstaat erfolgreich modernisiert. - In Holland hat man im Konsens mit den Tarifpartnern die Arbeitsbeziehungen flexibler gemacht. Folge: die Arbeitslosigkeit ist in Holland drastisch gesunken. - In den USA hat eine gezielte Strategie neuartiges Wachstum ausgelöst, das Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen hat. Ich weiß, hier kommt gleich das Argument, daß nicht alles, was in Amerika geschieht, auf uns übertragbar ist und daß wir amerikanische Verhältnisse bei uns auch gar nicht wollen.
Das ist sicher richtig, aber es darf uns nicht hindern, einmal genauer hinzuschauen. Ich fordere auf, von anderen zu lernen, nicht sie zu kopieren! Tatsache ist doch: die Mehrheit dieser Arbeitsplätze ist in Zukunftsindustrien und Zukunftsdienstleistungen wie Telekommunikation, Computer, Software, Finanzdienstleistungen entstanden. Das sind keine Billigjobs. Die Amerikaner haben nicht versucht, den Wandel aufzuhalten, sondern sie haben sich an die Spitze des Wandels gesetzt: durch Förderung von Forschung und Technologie, durch Deregulierung, durch den Aufbau einer Infrastruktur für das Informationszeitalter. Sie haben das Potential der Durchbrüche in Mikroelektronik und Biotechnologie zur Schaffung neuer Produkte genutzt, aus denen ganz neue Industrien entstanden sind. Ein neues, wissensgestütztes Wachstum wurde zur Quelle für Millionen neuer Arbeitsplätze.
Auch wir müssen rein in die Zukunftstechnologien, rein in die Biotechnik, die Informationstechnologie. Ein großes, globales Rennen hat begonnen: die Weltmärkte werden neu verteilt, ebenso die Chancen auf Wohlstand im 21. Jahrhundert. Wir müssen jetzt eine Aufholjagd starten, bei der wir uns Technologie- und Leistungsfeindlichkeit einfach nicht leisten können.
Die Aufgaben, vor denen wir stehen, sind gewaltig. Die Menschen fühlen sich durch die Fülle der gleichzeitig notwendigen Veränderungen überlastet. Das ist verständlich, denn der Nachholbedarf an Reformen hat sich bei uns geradezu aufgestaut. Es wird Kraft und Anstrengung kosten, die Erneuerung voranzutreiben, und es ist bereits viel Zeit verlorengegangen. Niemand darf aber vergessen: In hochtechnisierten Gesellschaften ist permanente Innovation eine Daueraufgabe! Die Welt ist im Aufbruch, sie wartet nicht auf Deutschland. Aber es ist auch noch nicht zu spät. Durch Deutschland muß ein Ruck gehen. Wir müssen Abschied nehmen von liebgewordenen Besitzständen. Alle sind angesprochen, alle müssen Opfer bringen, alle müssen mitmachen: - die Arbeitgeber, indem sie Kosten nicht nur durch Entlassungen senken, - die Arbeitnehmer, indem sie Arbeitszeit und -löhne mit der Lage ihrer Betriebe in Einklang bringen, - die Gewerkschaften, indem sie betriebsnahe Tarifabschlüsse und flexiblere Arbeitsbeziehungen ermöglichen, - Bundestag und Bundesrat, indem sie die großen Reformprojekte jetzt rasch voranbringen, - die Interessengruppen in unserem Land, indem sie nicht zu Lasten des Gemeininteresses wirken.
Die Bürger erwarten, daß jetzt gehandelt wird. Wenn alle die vor uns liegenden Aufgaben als große, gemeinschaftliche Herausforderung begreifen, werden wir es schaffen. Am Ende profitieren wir alle davon. Gewiß: Vor uns liegen einige schwere Jahre. Aber wir haben auch gewaltige Chancen: Wir haben mit die beste Infrastruktur in der Welt, wir haben gut ausgebildete Menschen. Wir haben Know-how, wir haben Kapital, wir haben einen großen Markt. Wir haben im weltweiten Vergleich immer noch ein nahezu einmaliges Maß an sozialer Sicherheit, an Freiheit und Gerechtigkeit. Unsere Rechtsordnung, unsere soziale Marktwirtschaft haben sich andere Länder als "Modell Deutschland" zum Vorbild genommen. Und vor allem: Überall in der Welt - nur nicht bei uns selbst - ist man überzeugt, daß "die Deutschen" es schaffen werden.
John F. Kennedy hat einmal gesagt: Unsere Probleme sind von Menschen gemacht, darum können sie auch von Menschen gelöst werden. Ich sage: Das gilt auch für uns Deutsche. Und ich glaube daran, daß die Deutschen ihre Probleme werden lösen können. Ich glaube an ihre Tatkraft, ihren Gemeinschaftsgeist, ihre Fähigkeit, Visionen zu verwirklichen. Wir haben es in unserer Geschichte immer wieder gesehen: Die Deutschen haben die Kraft und den Leistungswillen, sich am eigenen Schopf aus der Krise herauszuziehen - wenn sie es sich nur zutrauen.
Und wieder glaube ich an die jungen Leute. Natürlich kenne auch ich die Umfragen, die uns sagen, daß Teile unserer Jugend beginnen, an der Lebens- und Reformfähigkeit unseres "Systems" zu zweifeln. Ich sage ihnen aber: wenn ihr schon "dem System" nicht mehr traut, dann traut euch doch wenigstens selbst etwas zu!
Ich bin überzeugt: Wir können wieder eine Spitzenposition einnehmen, in Wissenschaft und Technik, bei der Erschließung neuer Märkte. Wir können eine Welle neuen Wachstums auslösen, das neue Arbeitsplätze schafft.
Das Ergebnis dieser Anstrengung wird eine Gesellschaft im Aufbruch sein, voller Zuversicht und Lebensfreude, eine Gesellschaft der Toleranz und des Engagements. Wenn wir alle Fesseln abstreifen, wenn wir unser Potential voll zum Einsatz bringen, dann können wir am Ende nicht nur die Arbeitslosigkeit halbieren, dann können wir sogar die Vollbeschäftigung zurückgewinnen. Warum sollte bei uns nicht möglich sein, was in Amerika und anderswo längst gelungen ist? Wir müssen jetzt an die Arbeit gehen. Ich rufe auf zu mehr Selbstverantwortung. Ich setze auf erneuerten Mut. Und ich vertraue auf unsere Gestaltungskraft. Glauben wir wieder an uns selber. Die besten Jahre liegen noch vor uns.