Nachrichten und Berichte
Fallmanagement vereint Qualität und Wirtschaftlichkeit
in: Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 17 (25.04.1997), Seite A-1115
THEMEN DER ZEIT: Berichte
Die Frage der Effizienz und Effektivität belastet das deutsche Gesundheitssystem. Eine entscheidende Rolle spielt die Verzahnung von ambulanter und stationärer Behandlung. Immense Ressourcen lassen sich durch eine verbesserte Abstimmung vieler unkoordinierter Bereiche der medizinischen Versorgung erschließen.
Das Pathway-Management-System (PMS) überbrückt als Fallmanagementsystem die Kluft zwischen ambulanter und stationärer Versorgung unter Berücksichtigung von "Total Quality Management"-(TQM-) Prinzipien. Reihenfolge und Umfang von standardisierbaren, medizinischen, multidisziplinären Prozessen werden definiert und in Form von Behandlungsleitlinien dargestellt.
Neben der notwendigen Diagnostik und der richtigen Therapie müssen die erwarteten Ergebnisse und der zeitliche Ablauf prospektiv berücksichtigt werden.
Beispielhaft in Kürze der Inhalt des Pathway zur operativen Therapie der Struma durch subtotale Thyreoidektomie bds.: An erster Stelle steht die Wahl der OP-Technik und die Planung durchzuführender Untersuchungen (Röntgen-Thorax, Trachea-Zielaufnahme, HNO-Konsil, Sono, Labor), auch der zeitliche Ablauf wird geplant (Termine). In der Folge werden Pflegestatus, Medikation und weitere Kontrolluntersuchungen sowie der Entlassungszeitpunkt festgelegt.
Dies erfolgt auch heute schon, allerdings nur in den Köpfen erfahrener Ärzte, und dient nicht prospektiv als Leitlinie und Organisationsmittel. Die erwarteten Behandlungsfortschritte sind in den seltensten Fällen aufgeschrieben, wodurch auch Kontrolle und Dokumentation von Heilungsverzögerungen nur unvollständig erfolgen. Spontanentscheidungen zur weiteren Therapie sind die Regel und nicht die Ausnahme (Anordnung von Untersuchungen, Entlassung/Verlegung). Sie führen immer zu einem unkalkulierbaren und wenig planbaren Therapieverlauf und vermeidbaren Kosten.
Durch Definition und Standardisierung werden Erkrankungen und Therapieabläufe planbar, die Behandlungsqualität verbessert sich, und der Patient profitiert von einem reibungsloseren und kürzeren Ablauf. Die Erfordernisse des Einzelfalles bleiben aber der Kompetenz und Erfahrung des Behandelnden überlassen.
Alle Mitarbeiter müssen die dazu notwendigen Maßnahmen und Abläufe kennen und beachten. Eine zur richtigen Zeit, am richtigen Ort und von dem richtigen Arzt (Spezialisten) durchgeführte Behandlung ist Basis für eine wirtschaftliche und qualitativ hochwertige Patientenversorgung.
Die Bereitschaft zur Kommunikation und die Darstellung fallbezogener Behandlungsstandards schaffen Transparenz und eine verbesserte ethische und rechtliche Absicherung der Therapieentscheidung durch verbesserte Dokumentation.
Die darstellbaren Kosten fördern Transparenz und Planbarkeit zukünftiger Ressourcen. Prospektiv lassen sich so die Kosten einzelner Krankheitsbilder kalkulieren und der ökonomische und medizinische Fortschritt neuer Therapieformen darstellen.
Die positiven Effekte des Pathway-Management-Systems resultieren aus der Verknüpfung von ökonomischeffizienzorientierten und medizinisch qualitativen Zielen sowie eines interdisziplinären Patientenmanagements.
Dr. med. Hans-Peter Schlaudt
Eisenacher Straße 103
10781 Berlin
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Mehr sozialstaatliche Umverteilung im Gesundheitswesen
in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 7 (13.02.1998), Seite A-326
POLITIK: Nachrichten - Aus Bund und Ländern
KIEL. Eine dem Sozialstaatsprinzip entsprechende Umverteilung im Gesundheitswesen hat der Sozialrechtler Prof. Dr. jur. Hans F. Zacher gefordert. Zwar seien Gesundheits- und Sozialpolitik in der Vergangenheit - bei guter Finanzlage - erfolgreich gewesen, sagte der Direktor des Max-Planck-Institutes für ausländisches und internationales Sozialrecht bei der ersten Tagung des neugegründeten Kieler Universitätsinstituts für Sozialrecht und Sozialpolitik in Europa. Nunmehr müßten die sozialen Unausgewogenheiten bei Leistungserbringern wie Empfängern durch den Einbau von solidaritätsfördernden Elementen korrigiert werden. Das könne zum Beispiel eine andere Beitragsbemessungsgrenze in der GKV sein oder ein Anreizsystem für vernünftigeres Verhalten der Versicherten. Zacher sieht jedoch auch Nachholbedarf auf seiten der Leistungserbringer: "Ich denke an die extrem unterschiedlichen Bedingungen, unter denen Ärzte in diesem System verdienen: von nichts bis exorbitant."
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Leitlinien in der Medizin: Schluß mit der Inflation
in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 46 (13.11.1998), Seite A-2906
THEMEN DER ZEIT: Berichte
Zunehmend werden durch medizinisch-wissenschaftliche Fachgesellschaften medizinische Leitlinien erstellt.
Bei einer Fachtagung in Bremen kritisierte Prof. Dr. med. Friedrich-Wilhelm Kolkmann, Stuttgart, die unkoordinierte Überproduktion solcher Orientierungshilfen.
Die Diskussion um die Bedeutung von Leitlinien ist nicht ohne Grund aktuell, denn es geht um Kostendämpfung und Ausgabensenkung, um Prioritätensetzung im Gesundheitswesen vor dem Hintergrund knapper werdender Ressourcen. Anläßlich einer Tagung in Bremen setzte sich Prof. Dr. med. Friedrich-Wilhelm Kolkmann, Stuttgart, im Vorstand der Bundesärztekammer für Fragen der Qualitätssicherung zuständig, kritisch mit der Leitlinien-Inflation auseinander, mit der sich die Ärzteschaft konfrontiert sieht.
Er zeigte Einschränkungen auf, die für die Berufsausübung des Arztes entstehen können:
- Behinderungen des Fortschritts
- Beeinträchtigung des Arzt-Patienten-Verhältnisses
- die Gefahr eines immer dichter geknüpften bürokratischen Vorschriftennetzes und
- die Gefahr weiterer Förderung der Defensivmedizin.
Die Aktivitäten beurteilte Kolkmann so:
- Die aktuelle Entwicklung von Leitlinien geht weit am Bedarf vorbei. Zielrichtung, Bedarfsanalyse und Prioritätensetzung fehlen weitestgehend.
- Die ärztlichen Körperschaften haben Leitlinien und Richtlinien in der Vergangenheit bedarfsgerecht und problembezogen, aber vorsichtig eingesetzt.
- Der Einsatz von Richtlinien, Leitlinien oder Empfehlungen ist in Deutschland auf dem Gebiet der Medizin nichts Neues.
- Leitlinien ersetzen weder die externe, vergleichende Qualitätssicherung noch das interne Qualitätsmanagement.
- Effektiver als ein "flächendeckendes" Leitlinienkonzept sind funktionierende Informations- und Kommunikationssysteme.
Klare Ziele fehlen
Kolkmann verwies darauf, daß die Entwicklung von medizinischen Leitlinien, die insbesondere von
den wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften forciert wird, auch deshalb fragwürdig ist, weil es zur
Zeit keine schlüssigen Beweise dafür gebe, daß in der deutschen Medizin nicht nach der "lex artis" verfahren werde. Die Reaktion auf die von verschiedenen Seiten vorgestellten Maßnahmen ist multivalent und schwankt von vollständiger Ablehnung bis hin zu euphorischer Zustimmung. Die These, "daß die zentrale Produktion von Leitlinien die Qualität der Versorgung tatsächlich verbessert (habe)" (siehe Deutsches Ärzteblatt, Heft 33/1997), ist bis heute nicht belegt. Zutreffend ist, daß die Evaluation von Leitlinien auch heute ein weitgehend unbeackertes Feld ist, oftmals weil ihre Zielsetzung nicht definiert ist. Zu den Zielen gehöre beispielsweise auch eine klare Abgrenzung zur ökonomischen Orientierung von Leitlinien, die Vermeidung des Unnötigen beziehungsweise Überflüssigen und die Gewährleistung dessen, was in der Diagnostik und der Therapie notwendig ist. Unangemessen ist es, durch Leitlinien Fragen der Überversorgung klären zu wollen und damit auch Rationalisierungsreserven zu benennen. Klar müsse sein, daß eine ernsthafte Störung des Arzt-PatientenVerhältnisses zu befürchten wäre, wenn die klinische und ärztliche Entscheidungsfreiheit durch ökonomische Erwägungen eingeschränkt wird. Kolkmann: "Eine Normierung ärztlicher Erfahrung und individueller Patientenpräferenzen ist durch Leitlinien unmöglich." Gründe für die "Leitlinienhyperplasie": Offenbar sind die Nachteile einer inflationären Leitlinienentwicklung bisher nicht durch eine Bedarfs- und Problemanalyse möglicher gesundheitspolitischer Fehlentwicklungen geklärt worden. Dies warf Kolkmann auch der Ärzteschaft vor, die sich "in vorauseilendem Gehorsam" undifferenzierten Vorwürfen kritiklos gebeugt und sich in das Leitlinienentwicklungs-Abenteuer gestürzt habe, ohne zu bedenken, mit welchem Aufwand, Nutzen und Schwergewicht sinnvollerweise Ressourcen eingesetzt werden müssen. Wozu also Leitlinien? Um die lex artis medicinae zu definieren? Sicherlich nicht, denn dann hätte die wissenschaftliche Medizin versagt! Um Sorge zu tragen, daß die notwendigen Sorgfaltsstandards eingehalten werden? Regelwidrig sich verhaltenden Ärzten kommt man aber nicht mit Leitlinien allein bei. Dies ist Aufgabe der ordentlichen Gerichte.
Hilfsinstrumente fehlen
Es sei legitim, wurde bei der Veranstaltung betont, nach Steuerungs- und Hilfsinstrumenten zu suchen, um die Gesamtheit von Kenntnissen in der Medizin überhaupt noch überblicken zu können. Hier seien allerdings erfolgversprechende Entwicklungen im Gange. Am Beispiel der Cochrane Collaboration mit der weltweiten Sammlung von Studien und deren Aufarbeitung und Bewertung werde ein wesentlicher Beitrag zur Strukturqualität in der Medizin geleistet. Aber auch dies sei kein Allheilmittel, denn es entstehe die Frage, wie das Wissen auf den Einzelfall bezogen werden kann. Die Komplexität des Menschen, der Erkrankung ebenso wie die sich dynamisch entwickelnden Bedingungen, aber auch die Komplexität des Therapieverlaufs können nur zu einem relativ geringen Prozentsatz durch die "Modellsituation" im Rahmen von Studien aufgefangen werden. Die ärztliche Intuition, die langjährige Erfahrung und Persönlichkeit des Arztes sind entscheidend für den Heilungsprozeß. Hinzu komme, daß durch die starre Formulierung von Leitlinien auch einem wesentlichen Problem, nämlich der Aktualität des Wissens in der Entscheidungssituation, nicht Rechnung getragen werden kann, bedenkt man die rasante Entwicklung medizinischer Wissenszuwächse.
Aber auch hier gibt es Ansätze und Möglichkeiten, das durch Evidenz gestützte Wissen der praktischen Medizin zugänglich zu machen. So habe der englische Arzt David L. Sackett mit seiner Methode der evidenzgestützten Medizin einen Beitrag geleistet, um den "gewissenhaften, ausdrücklichen und vernünftigen" Gebrauch der gegenwärtigen besten wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen der medizinischen Versorgung von Patienten sicherzustellen. Voraussetzung ist allerdings eine funktionsfähige Informationsstruktur, die dem Arzt bei seiner Entscheidungsfindung nützlich sein kann. Dialog statt starrer Leitlinien
Voraussetzung ist die Interaktion, um Dialog, Erklärungskomponenten, Wissensveränderung und Wissensbasis darzulegen, um so dem Arzt eine Bewertung der Risiken des Vorschlages für die jeweilige Diagnose und Therapie zu ermöglichen. Die Informations- und Kommunikationswege und ihre Realisierung im Zuge der Vernetzung auch im Rahmen neuer Medien liefern Expertenwissen zeit- und problemgerechter als starre, globale Leitlinien. Einen gewissen Stellenwert haben Leitlinien jedoch im Rahmen der internen Qualitätssicherung, die unter Selbstverantwortung auf Verhaltensänderungen der Beteiligten zielt. Sie sollen dem Arzt im Einzelfall helfen, sein Handeln zu optimieren. Spezifische Leitlinien können das interne Qualitätsmanagement nicht ersetzen, sondern sind vielmehr dessen Bestandteil. Sie dienen der Ablauforganisation und Prozeßoptimierung, also der Sicherung der Prozeßqualität "vor Ort".
Durch Konzepte der aktuellen Wissensvermittlung, durch moderne Kommunikationsmittel werden dem Arzt Entscheidungsspielräume erhalten gegenüber dem Diktat starrer und inflexibler Leitlinien für alles und
jedes. Dem "Leitlinien-Wirrwarr" und der inflatorischen Entwicklung sowie ihrer ungezielten "Dissimination" wird man nur dadurch begegnen können, daß eine steuernde Funktion durch die Spitzenorganisationen der Ärzteschaft - Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung - erfolgt, um zu vermeiden, daß vermehrt rechtspolitische und rechts-praktische Probleme aufgeworfen werden. Erster Schritt in diese Richtung ist die Clearingstelle für Leitlinien in Köln, die von den Körperschaften der Ärzteschaft mit Unterstützung der Krankenkassen ins Leben gerufen wurde. Franz F. Stobrawa, Köln
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Kassenärzte warnen vor Rationierungschaos bei Arzneimitteln
in: Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 19 (14.05.1999), Seite A-1256
POLITIK: Nachrichten - Aus Bund und Ländern
KÖLN. Der Anstieg der Arzneimittelausgaben in der Gesetzlichen Krankenversicherung hat sich im März mit bundesweit 16,9 Prozent nochmals beschleunigt. Nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) beträgt der Ausgabenzuwachs im ersten Quartal dieses Jahres 14,2 Prozent in den alten und 14,9 Prozent in den neuen Bundesländern. Es zeige sich bereits jetzt, daß die von der neuen Bundesregierung wiedereingeführten Budgets viel zu niedrig festgesetzt worden seien, sagte der Erste Vorsitzende der KBV, Dr. med. Winfried Schorre. In der zweiten Jahreshälfte sei ein Rationierungschaos zu erwarten. Als besonders dramatisch bezeichnete er die Lage in den neuen Bundesländern. Halte der Trend an, seien die Budgets dort Ende September erschöpft.