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8.2.9. Wo Casanova unterkroch

Tschechische Szene: Für die 30jährige Jorga Liskova liegt Nordböhmen nicht am Meer

So sehen sie also aus, die böhmischen Dörfer. Hingesprenkelt an die Ränder des südlichen Erzgebirges, sich in enge Täler hinaufwindend zu den spärlich bewaldeten Hochebenen, wo sie sich als – oft verlassene – Einzelgehöfte hinducken als plage sie noch in der Sommerhitze die Erinnerung an die eisig fegenden Winterwinde. Probostov, Krupka, Bohosudov, Fojtovice, auf fast achthundert Metern Habartice. Von hier führt ein Feldweg zu einem einsamen, von Vogelbeerbäumen umgebenen Haus aus schwarzbraunem Holz. Drinnen ist es kühl und selbst an diesem heißen Augusttag flackert im offenen Kamin ein Feuer. Martin, Tomas, Milan, Katarina, Petr und Jorga sitzen um einen alten Bauerntisch. Aus einem Topf langen sie sich Pellkartoffeln, aus einer Pfanne selbstgesammelte, panierte Pilze. Man isst aus der Hand, trinkt das Bier aus der Flasche und pfeift auf elektrischen Strom und fließendes Wasser. Während das Abendrot durch die kleinen Fenster dringt, greifen Petr und Tomas zu ihren Gitarren und beginnen zu spielen und zu singen.

Wie volkstümlich das einfache Leben dieser Mittzwanziger auch wirken mag, mit jungtschechischer Nationalromantik hat es nichts zu tun. Längst ist die Sache des tschechischen Nationalismus im Sinne des legendären Staatsgründers Masaryk geschlagen und – fern panslawistischer Bestrebungen – als unabhängige Republik seit zehn Jahren auf den Weg westlicher Demokratien gebracht. Was die jungen Leute in die pastorale Einsiedelei zieht, ist keine Ideologie, sondern der altmodische Charme einer Sommerfrische am Wochenende. Anders als in der Jahrhundertwende ist die Zeit der nationalen Erwecker vorbei. Heute braucht die Tschechische Republik tüchtige, unideologische Funktionseliten wie diese, lässiges Selbstbewußtsein ausstrahlenden jungen Männer und Frauen. Fast alle besuchen sie Hochschulen, studieren Jura, Pädagogik oder sind – wie der sechsundzwanzigjährige Petr Benes– schon beruftstätig. Das neu geschaffene Studienfach Kulturhistorische Regionalistik brachte dem energischen jungen Mann seinen jetzigen Arbeitsplatz ein.

Ein Zukunftsjob: in dem in Usti, dem früheren Aussig, beheimateten Hauptsitz der Euroregion Labe/Elbe koordiniert er zusammen mit sechs weiteren Mitarbeitern die technischen Umstrukturierungen der von hoher Arbeitslosigkeit gebeutelten nordböhmischen Region. Lange von Zinn- und Braunkohleabbau beherrscht, soll die ehemals schwerindustrielle Gegend auf weiche Standortfaktoren umgestellt und so der anstehende EU-Beitritt vorbereitet werden. Die deutschen Partner jenseits der Grenze an der Nordseite des Erzgebirges plagen sich mit ähnlichen Altlasten. In punkto Zukunftsentwicklung tritt die Euroregion Elbe auch als grenzüberschreitende Vermittlerin auf. Seinen Aufgabenbereich erläutert Petr Benes in hervorragendem Englisch. Das verrät nicht allein den modernen Europäer, sondern auch, dass diese Grenzregion keine Zweisprachigkeit kennt und sich Deutsch im ehemaligen Sudetenland nicht zu einer neuen mitteleuropäischen lingua franca entwickelt hat. Von einer übernationalen Identität dieses jahrhundertealten Kulturraums haben Appeasement, Krieg und Kalter Krieg nichts übriggelassen.

Fast nichts. "Heute abend fahren wir zum Mückentürmel!", hatte Jorga gesagt, als sie den Abstecher ins Erzgebirge vorschlug, und mit dem Finger nach Norden in den blauen Himmel wies. Jorga Liskova ist die Freundin von Petr Benes, vier Jahre älter als er und fließend zweisprachig. Ihre Großmutter ist Sudentendeutsche, und lebt mit ihrer, Jorgas Mutter im eineinhalb Autostunden entfernten böhmischen Städtchen Varnsdorf, unmittelbar an der deutschen Grenze. Dort sei sie aufgewachsen und zur Schule gegangen, erzählt sie, und noch immer fahre sie oft und gerne dorthin. Etwas Bemerkenswertes kann Jorga an ihrer mütterlicherseits sudetendeutschen Herkunft nicht entdecken, und Fragen danach wehrt sie skeptisch blickend ab. Nichts Besonderes, schon gar nichts Interessantes sei daran. Gleichwohl verrät das "Mückentürmel", das unvermutet aufleuchtende deutsch-böhmisch-habsburgische Idiom, ihre doch nicht ganz gewöhnliche Biographie.

Fast täglich nimmt Jorga den Bus, um von ihrem Wohnort Teplice ins wenige Kilometer entfernte, heute Duchcov genannte Kleinstädtchen Dux zu fahren. Wäre alles mit harmonischen Zeitläuften zugegangen, würde die Nennung dieses Ortsnamens kein Achselzucken hervorrufen. Der Geschichtsverlauf des 20. Jahrhunderts verwies Dux freilich in ein Abseits, in dem es bis heute darbt. Dabei hätte der 8000 Einwohner zählende Ort das Potential, sich als mitteleuropäischer Gedächtnisort Ruhm und Wohlstand zu erwerben. Dazu müsste Dux allerdings werden, was es ist: ein kleiner, aber bemerkenswerter Fleck auf der Landkarte der Weltliteratur. Schließlich kennt Giacomo Casanova jeder. Doch wer weiß schon, dass der berühmteste Verführer aller Zeiten seine letzten dreizehn Lebensjahre im Schloss von Dux als Bibliothekar verbracht hat? Dass er hier, aus seiner Heimatstadt Venedig für immer verbannt, 1798 gestorben ist, und vor allem, dass er hier seine weltberühmte Histoire de ma vie verfasst hat?

So recht niemand. Und weil das so ist, finden jährlich nicht mehr als 18000 Besucher den Weg hierher, steht das immer marodere Dux wie die steingewordene Melancholie da, die den weltgewandten Venezianer befiel, als er 1785 hier eintraf. Vergebens versucht aus öffentlichen Lautsprechern durch Gassen und über den Marktplatz plärrende Schlagermusik die postsozialistische Trübsal zu vertreiben. Das Schloss selbst hantiert noch mit realsozialistischen Methoden und fristet mit notorisch knappen Staatsgeldern, die von den immensen Instandhaltungskosten aufgefressen werden, ein kärgliches Dasein. Der die letzten Jahre amtierende und anfangs voller Elan steckende Schlossdirektor gab im April dieses Jahres entnervt auf. Seine Strategie, Casanova zum Mittelpunkt des Duxer Schlosses zu machen und in dessen Räumen ein Forschungszentrum zu gründen, ließ sich nicht verwirklichen.

Punk in Teplice

Ins Stocken geriet damit auch die berufliche Entwicklung Jorgas, die seit fünf Jahren deutschsprachige Touristen durch die verblassende Pracht des weitläufigen, ehemaligen Sitzes der Grafen Waldstein führt. Zwar wird der Seitentrakt, in dem Casanova lebte, nach und nach liebevoll wiederhergestellt; den Hauptteil der Führung bestreiten aber noch immer die ehemaligen gräflichen Herrschaftsräume. Wie hier, ist auch in den Zimmern, die Casanova einst bewohnte, kein einziges der ausgestellten Stücke beschriftet. Ein Mangel, der nicht nur den Charakter des Zufälligen prononciert, sondern auch die Chance versäumt, Casanova energisch über das Klischeebild des Verführers hinaus als Polyhistor und damit als repräsentative Gestalt des 18. Jahrhunderts zu vermitteln. Zwar ist mangels originaler Gegenstände der Versuch gemacht worden, durch entsprechende Rauminszenierungen etwas vom Zeitkolorit des Rokoko zu schaffen. Casanova aus einem vergessenen nordböhmischen Provinzort in das kulturelle Gedächtnis einer großen Öffentlichkeit zurückzuholen, ist bislang aber nicht gelungen. Davon ist das trotz allen Verfalls bezaubernde Residenzstädtchen Dux, das dank seines berühmten Sohnes ein gutes Auskommen haben könnte, weit entfernt.

Eine Lethargie, die Jorga nurmehr langweilt. Solange das Schloss keinen Aufschwung erlebt, wird Dux weiter am Boden und ihr Job so eintönig bleiben wie bisher. Eine Sackgasse. Redet Jorga vom Schloss, das ihr die gesamte Saison pausenlose Anwesenheit abverlangt, fühlt man sich an die undurchschaubare Institution aus Kafkas Roman erinnert, in der ominöse "Herren" ihr Unwesen treiben. Zwar kann Jorga im Winter ihre Überstunden abbummeln. Am Meer liegt Böhmen für sie aber nicht: ein Flugticket in ein mediterranes Touristenparadies ist ein unerfüllbarer Traum. Kein Wunder, wenn sie sich nicht gerade zu den Gewinnern der "Samtenen Revolution" zählt und stattdessen nostalgisch zurückblickt. Nicht dem alten System trauert sie jedoch nach, sondern vielmehr dem für sie bewusstseins- prägenden Systemprotest jener Jahre.

Mitte der Achtziger hatte sich in der Sozialistischen Tschechoslowakischen Republik, neben Prag und Pilsen, Teplice zum dritten wichtigen Zentrum des Punks entwickelt. Der tschechische Punk beließ es jedoch nicht beim ästhetischen Protest, sondern demonstrierte – vor allem in Teplice – seine politische Opposition ökologisch. Die von der Braunkohlegewinnung verschuldete, im Ostblock fast ihresgleichen suchende Luftverschmutzung Nordböhmens entlarvte den Bankrott des realsozialistischen Staates und seiner Fortschrittsversprechen täglich krasser. Kurzgeschoren und mit gefärbten Haaren schloss sich Jorga, die eigentlich ins beschauliche Kurbad Teplice gekommen war, um am Konservatorium Musik zu studieren, dieser Szene an.

Wenn die heute Sanftmütige von ihrer "wilden Zeit" erzählt, kontrastiert die Sinnfülle vergangenen Protests auffällig die Sinnleere der Gegenwart. Anders als ihr vier Jahre jüngerer Freund Petr gehört Jorga nicht nur einer anderen, sondern einer zwischen den Zeiten pendelnden Generation des Übergangs an. Von ihrer oppositionellen Einstellung als Jugendliche, wie gering ihr Anteil am Fall des Systems auch immer war, profitiert sie viel weniger als die um nur ein paar Jahre jüngeren, eigentlichen Kinder der "Samtenen Revolution", zu denen Petr Benes zählt. Während die jetzt 25jährigen die Chance hatten, in neue soziale Verhältnisse und Ausbildungswege hineinzuwachsen, drohen die sich um ihren Idealismus betrogen fühlenden, ehemaligen Punks zu resignieren.

Heute hängt das Schicksal Jorgas, einer sehr urban wirkenden, modernen jungen Frau, will sie das geliebte Teplice nicht verlassen, von der Entwicklung Nordböhmens ab. Gelingt es dieser Region in absehbarer Zeit, die Bedeutung zu gewinnen, die ihr als Kulturraum des sächsisch-böhmisch-österreichisch-italienischen Barock und Rokoko zusteht, wird auch Jorgas Leben Dynamik entfalten. Zwar wirkt sie momentan wie in sich selbst eingekapselt, doch zehn Jahre nach der Wende ist ihre Zweisprachigkeit kein nutzloser Anachronismus mehr. Sie ist vielmehr Symbol einer zukünftigen Vergangenheit, derer sich das nordböhmisch-sächsische Grenzland um seines gemeinsamen zivilisatorischen Erbes bewusst werden müsste. Dann hätte das kleinkariert ethnische zugunsten eines übernationalen Mitteleuropa endgültig abgedankt. Ein schöner, ein Hofmannsthalscher Traum, dessen Sinnfigur Giacomo Casanova daran erinnert, dass Venedig, Wien, Prag und Dresden auf einer gemeinsamen kulturhistorischen Achse liegen. Eine Kleinstadt namens Dux könnte darauf das Zentrum sein.

Autor: Von Thomas Medicus

Quelle: Frankfurter Rundschau vom 22.08.2000 Seite 17, Ausgabe: D; Datenbank FR..