Beitragsseiten

 

3.4.1.  Das System der gesetzlichen Krankenkassen

Der Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenkassen wird im wesentlichen durch die Politik bestimmt. Den einzelnen Krankenkassen kommt nur bei den sogenannten Wahlleistungen eine eng begrenzte Entscheidungskomptenz zu. Auf dieser Ebene der Makroallokation gilt im Moment als oberstes Prinzip das der Kostenbegrenzung und Beitragsstabilität, das heißt die Ausgaben können nur in dem Maße steigen, in dem die Beitragseinnahmen steigen. Da die Beiträge aber stabil bleiben müssen, können die Einnahmen und Ausgaben nur in dem Maße steigen, wie die Durchschnitts Löhne- und Gehälter steigen. Da aber dann auch die Löhne und Gehälter im Gesundheitswesen als einem relativ personalintensiven Wirtschaftssektor steigen, bleibt kaum Spielraum um auf den medizinischen Fortschritt und die „Vergreisung der Gesellschaft“ zu reagieren. Die Folge davon ist Rationierung, die allerdings immer noch verschleiert und verschwiegen wird. Die Pflichtversicherten in den gesetzlichen Krankenkassen haben trotz der Vielzahl der Krankenkassen außer über Wahlen so gut wie keinen Einfluß auf Entscheidungen in der Ebene der Makroallokation, da die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung fast vollständig durch Gesetz von der Politik bestimmte werden. Freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherte haben hingegen die Möglichkeit in den privaten Versicherungssektor zu wechseln und damit einen größeren Einfluß  auf die Makroallokation zu nehmen. Durch die Wahl zwischen verschiedenen gesetzlichen Krankenversicherungen hat der Einzelne lediglich die Möglichkeit zu bestimmen, wieviel Geld er persönlich und sein Arbeitgeber  für die Krankenversicherung aufwenden und wieviel Wahlleistungen[37] und Service der Verwaltung  sie dafür erhalten. Rationierungsentscheidungen der Politik werden kaum jemals als solche und nie konkret benannt und meist so formuliert, daß die Verantwortung dafür auf die Ebene Mikroallokation verlagert wird. Die Entscheidungsträger dieser Ebene[38] werden allerdings so unter Druck gesetzt, daß für sie Rationierung unvermeidbar ist.

Die Mikroallokation gestaltet sich im Deutschen System der gesetzlichen Krankenkassen relativ kompliziert. Da durch die Maßgabe der Beitragsstabilität ein festes Budget vorgegeben ist, ist einerseits Rationierung notwendig, die andererseits jedoch wiederum durch den Entscheidungsträger der Makroallokation, die Politik, untersagt wird. Die Kassenärzte einerseits und die Krankenhausärzte und Krankenkassen andererseits als die Entscheidungsträger der Mikroallokation befinden sich also in einem Dilemma: Sie sind auf der einen Seite verpflichtet alles medizinisch Notwendige und Sinnvolle zu tun und zu veranlassen und haben auf der anderen Seite nicht die nötigen Mittel dazu. Wie geht man nun mit diesem Dilemma um, das meiner Meinung nach ohne ein offenes Bekenntnis zur Rationierung mit klaren Regeln nicht zu lösen ist?

Zuerst die Kassenärzte: Sie haben für ihre Praxis in jedem Vierteljahr ein bestimmtes Leistungsbudget zur Verfügung das sich aus der Anzahl ihrer in diesem Quartal behandelten Patienten ergibt. Ist dieses Budget verbraucht, was in der Regel 2 bis 4 Wochen vor Quartalsende der Fall ist, so erhalten sie erbrachte Leistungen nicht mehr  vergütet , sind aber verpflichtet wie bisher weiterzuarbeiten und dürfen auch ihr Personal nicht nach Hause schicken. Welche Folgen hat das? Da das deutschen System der privaten Arztpraxen grundsätzlich darauf basiert, daß die Ärzte durch leistungsabhängige Entlohnung motiviert[39] werden, fehlt ihnen in den letzten 2-4 Wochen die Motivation, die bestenfalls eine Zeit lang durch einen gewissen Idealismus aufrecht erhalten werden kann. Der Arzt wird deshalb dazu übergehen, Behandlungen in ein neues Quartal zu verschieben, Kosten verursachende irgend vermeidbare Behandlungen zu vermeiden und seine Arbeitszeit zu reduzieren. Dabei befindet er sich in einem Konflikt, einerseits wird von ihm gefordert weiterhin Anwalt des Patienten zu sein, andererseits kollidiert dies mit einem grundlegendem Interesse, das jeder  einer Erwerbsarbeit nachgehende Mensch hat, dem Erwerb von Mitteln zum Lebensunterhalt. Die geforderte Anwaltsfunktion des Arztes ist deshalb aber nicht nur in den Wochen der fehlenden Budgetdeckung unmöglich geworden, da der Arzt so motiviert sein muß so lange als möglich mit dem Budget auszukommen, er wird als ständig rationieren. Da ihm das allerdings untersagt ist, kann er es nicht offen und nach klaren Kriterien tun, sondern ist gezwungen dies im Verborgenen nach seinen persönlichen teilweise unreflektierten Maßstäben und dem Prinzip der Unbeweisbarkeit zu tun. Dies kann zu Willkür führen. Im Bereich der Arzneimittelverordnungen in dem die Ärzte ebenfalls durch monetäre Sanktionen zu Einsparungen gezwungen werden, verhält sich die Sache ähnlich, nur treffen hier die Auswirkungen nicht einen einzelnen Arzt, sondern die gesamte Kassenärzteschaft. Dadurch wird die Situation unübersichtlich, da kein Arzt weiß wieviel er nun verordnen darf. Durch kommt es zu willkürlicher Rationierung, denn die Ärzte werden, um den Sanktionen zu entgehen, versuchen so wenig wie möglich zu verschreiben, auch wenn sie weiterhin verpflichtet sind alles Notwendige zu verschreiben. Nur die Einschätzung was notwendig ist eine Entscheidung, die zu einem gewissen Maße eine Ermessensentscheidung des Arztes und die Maßstäbe hierfür sind interpretierbar...  Um die Willkür im Bereich der Mikroallokationsentscheidung über die Verordnung von Medikamenten zu begrenzen, ist vor kurzem eine neue Medikamentenliste eingeführt wurden, mit der ein deutlicher Schritt hin zu mehr Rationierung gegangen wurde, statt einer Liste von der Verordnung ausgeschlossener Medikamente hat man es nun mit einer Liste verordenbarer Medikamente zu tun. Dies ist eigentlich eine klare Rationierung, die nur nicht als solche offen benannt wird. Von der Verordnung ausgenommen sind nämlich Medikamente für sogenannte Bagatellerkrankungen, wie Erkältungen, viele Medikamente mit Wirkstoffkombinationen oder Medikamente deren Wirksamkeit nicht wissenschaftlich nachgewiesen ist. Nun ist aber ein Medikament nicht wirkungslos, nur weil seine Wirksamkeit nicht nachgewiesen ist. Wir  haben es also mit einer Rationierung zu tun. Sie wird unter den Begriffen der Beitragsstabilisierung und Effizienzverbesserung, die eigentlich immer auch Rationierung bedeutet[40], verschleiert, was zu mehr oder minder willkürlicher Rationierung führt.

Auch in Krankenhäusern gibt es einen Effizienzdruck, der sich in Zukunft durch die Einführung von Krankenhausbudgets noch verstärken wird. Bereits heute wird dadurch rationiert, daß das medizinisch Sinnvolle und Notwendige enger ausgelegt wird. Da dabei viele Entscheidungen über den Sinn von Behandlungen nicht nur von Ärzten getroffen werden, sondern auch die Krankenkassen einen Ermessenspielraum haben, besteht die Gefahr daß sich die Verhältnisse den Amerikanischen annähern. Dies ist in einem faktisch[41] geschlossenen System fatal, da der Patient nicht den Arzt als Anwalt haben kann, da dieser ja durch das Budget ja auch anderen Patienten und in unserer Situation des Ärzteüberschusses auch in starkem Maße seinem Arbeitgeber verpflichtet ist.

Ich halte den jetzigen Zustand der verborgenen Rationierung für sowohl das Gesundheitssystem als auch das Vertrauen in die Politik schädlich. Eine offene Rationierung, die wohl unvermeidbar ist, würde nicht nur die Ärzte aus ihrem Dilemma befreien, sie würde ihnen klare verbindliche Kriterien an die Hand geben, die sie aus der Halblegalität ihrer erzwungenen Rationierung erlöst,  durch diese Kriterien und eine offene Diskussion würden auch die Entscheidungen der Ärzte für die Patienten  wieder verständlicher, zu Deutsch: Es würden wieder klare Verhältnisse einziehen.

Anhänge:
DateiBeschreibungErstellerDateigröße
Diese Datei herunterladen (Rationierung im GW2.pdf)Rationierung im GW2.pdfmit allen Anhängen und dem Referat als PDFMichael Hoffmann1114 KB