2.2.2. Die Ordnungen und das Amt der Kirche(n)
Wilfried Joest erkennt auch in den Kirchen der Reformation die Notwendigkeit von Ordnungen an. Charakteristisch für deren Verständnis ist allerdings die Unterscheidung in iure humano, menschliche Gesetz, und iure divino, göttliches Gesetz. Göttliches Gesetz ist nach CA VII die Bindung der Kirche an "die Predigt des reinen Evangeliums"[20] und der "entsprechende Vollzug der Sakramente"[21]. Dies garantiert auch die Einheit der Kirche. Alle darüber hinaus für das Funktionieren von Kirche notwendigen Ordnungen sind von Menschen gemachte Gesetze, die deshalb auch von Menschen wieder geändert werden können. Deshalb können diese auch den jeweiligen Erfordernissen der Zeit angepaßt und entsprechend geändert werden. Dabei dürfen diese Ordnungen jedoch keinesfalls für göttliches Gesetz und damit heilsnotwendig erklärt werden.
Wie weit diese Gestaltungsfreiheit praktisch gehen kann, darüber bestanden nach Joest zwischen den einzelnen reformatorischen Konfessionen jedoch Differenzen. Speziell die Lutheraner bezogen sie auch auf die Frage der Kirchenverfassung und kamen so zu ihrer Ordnung mit den Landesherren als Notbischöfen, die man jedoch keinesfalls als die Ordnung schlechthin ansah. Die Reformierten sahen sich im Gegensatz dazu einer durch das Neue Testament vorgegebenen Verfassungsstruktur als der biblisch gegeben verpflichtet.
Ähnlich wie bei den Fragen der Kirchenstruktur sieht Joest auch in den Fragen des Amtes unterschiedliche Positionen in lutherischer und reformierter Theologie. Eine Übereinstimmung besteht nach seiner Darstellung in folgenden Punkten:
* Es gibt kein Amt, das eine Lehrunfehlbarkeit besitzt, jede Lehre, auch die der Bischöfe, muß sich am Evangelium messen lassen. Die Begründung dafür findet sich in CA XXVIII
* Die Auslegung der Bibel ist nicht an ein kirchliches Lehramt gebunden.
Überlieferte Lehre und Konzilsbeschlüsse gelten nicht deshalb, weil ihre Urheber eine bestimme Autorität besaßen oder besitzen, sondern weil und nur wenn sie "im Hören auf das Wort der Schrift"[22] entstanden und sich bewährt haben. Durch sein Wort steht Christus über allen kirchlichen Instanzen.
* Ein priesterlicher Amtsbegriff wird abgelehnt. Dies ist besonders dann der Fall, wenn er bedeutet, daß nur Priester wirksame Sakramente spenden können. Ebenfalls wird die apostolische Sukzession in ihrer quasi ontologischen Bedeutung abgelehnt. Man setzt der Priesterweihe das Priestertum aller Gläubigen entgegen, zudem alle Christen bereits durch ihre Taufe geweiht sind. Die Auslegung der Bibel ist daher nicht auf Amtsträger im Gottesdienst beschränkt, sondern kann durch jeden Christen auch in Gemeinschaft anderer zu Hause geschehen.
Ein besonderes Amt wird trotz dieses allgemeinen Priestertums aller Gläubigen nicht geleugnet.
In der Frage, wie dieses Amt allerdings auszusehen habe, unterscheiden sich die Positionen. Die reformierten Kirchen gingen nach dem Vorbild der neutestamentlichen Charismen von einem viergliedrigen Amt aus: sie kannten daher Pastoren, Lehrer, Diakone und Älteste.
Lutherische Kirchen kennen hingegen nur das eine Pfarramt. Dabei sind auch das Bischofsamt und alle anderen Ämter besondere Pfarrämter. Dieses eine Amt ist verantwortlich für die Wortverkündigung im Gottesdienst und die Verwaltung der Sakramente. Dies ist es jedoch nicht durch seinen Träger, sondern nur wegen der Einheit und Ordnung der Gemeinde. Für dieses Amt sieht Joest nach CA XIV nur eine Bedingung, die Ordination.
Im Verständnis der Stellung des Amtes zu Gemeinde gehen heute wie damals die Deutungen auseinander. Auch Luthers Positionen sind alles andere als einheitlich. So findet sich die Position, daß das Amt von Christus der Gemeinde geben worden ist und von dieser nur an einzelne Glieder übertragen wird. Daneben finden sich sowohl bei Luther als auch bei Melanchton Anhaltspunkte, daß sie davon ausgingen, daß das Amt an sich von Christus als Gegenüber der Gemeinde eingesetzt worden ist. Auch CA V trägt nach Joest nicht zur Klärung bei. Eindeutig ist hier nach nur, daß das Amt nicht als menschliche Ordnung eingesetzt ist.
Im ersten Teil der Darstellung fällt mir besonders der Begriff der "Einheit der Kirche" auf. Er gibt mir zu denken, inwieweit wir heute noch von einer Einheit der Kirche sprechen können. Ich meine, daß dies im Unterschied zu Luthers Zeit immer schwieriger wird. Diesen Eindruck gewinne ich durch eine kirchliche Landschaft, in der es auf der einen Seite starke Bemühungen um die Ökumene gibt, auf der anderen Seite jedoch sich aber auch viel Mißtrauen und Entwicklungen hin zu nationalen Ansprüchen und streng konfessionellen Abgrenzungen finden. Besonders hinterfragbar wurde die für mich als Ziel außer Frage stehende "Einheit der Kirche" als Begriff im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um den sogenannten "Proselytrismus"[23], die zu starken Spannungen zwischen den westlichen Kirchen und der russischen Orthodoxie führten. Charakteristisch dafür wie es um die Einheit der Kirche dort bestellt ist, ist die Debatte um das Religionsgesetz der Russischen Föderation. Für die reformatorischen Kirchen ist es dennoch durch die Lehre von der unsichtbaren Kirche und die notae ecclesiae möglich, von der einer Einheit der Kirche durch die notae trotz der Zerrissenheit in anderen Fragen zu sprechen.
Formal ist anzumerken:
Ich finde hier eine gewisse "Lutherlastigkeit" Joests. Er kann auch in diesem Abschnitt seine Lutherstudien nicht verleugnen. Die Darstellung des reformierten Amtsverständnisses geschieht im Verhältnis zum lutherischen sehr knapp. Es gibt keine Erwähnung einer Ordination im reformierten Bereich.
Die reformatorische Theologie kennt durch ihre Unterscheidung von iure humano und iure divino keine Lehrunfehlbarkeit eines Amtes. Dies macht es beispielsweise möglich, daß Positionen, die von einer evangelischen Kirche für schriftgemäß gehalten werden, von einer anderen Kirche, die sogar der gleichen z.B. lutherischen Konfession angehören kann, für der Schrift widersprechend gehalten werden kann. Dies ist beispielsweise in der Frage der Segnung homosexueller Paare der Fall. So finden sich auch innerhalb der reformatorischen Kirchen oft kontroversere Positionen, als dies beispielsweise in der römisch-katholischen Kirche der Fall ist. Dies ist auch nur deshalb möglich, weil auch Beschlüsse von Konzilien und wohl auch Synoden und anderen kirchlichen Gremien nur als iure humano, menschliche Ordnung, angesehen werden und damit auch zeitlichen und lokalen Veränderungen unterliegen. Die Anerkennung der alten Konzilsbeschlüsse ist daher nur durch ihre Bewährung unter der Voraussetzung ihrer Schriftgemäßheit gegeben.
Der Verzicht auf das Auslegungsprivileg eines kirchlichen Amtes eröffnete in den Kirchen der Reformation den Weg zu einer intensiveren Beschäftigung mit der Schrift. Die Möglichkeit, das Evangelium jenseits eines kirchlichen Amtes in den Häusern auszulegen, ermöglichte nicht nur christliche Hauskreise, wie wir sie heute noch in großer Zahl im pietistischen Bereich finden, sondern ist für mich auch ein wichtiges Merkmal, das die reformatorischen Kirchen zu evangelischen macht.
Eines der wohl am wenigsten verstandenen Merkmale reformatorischer Kirchen ist die Lehre vom Priestertum aller Gläubigen, zu dem jeder Christ bereits durch seine Taufe geweiht ist. Sie entstand als Gegenbewegung zu einer übertriebenen Heraushebung des Priesters aus der Gemeinde, die dieser durch seine Teilhabe an der institutionellen Heilsvermittlung gewann. Die apostolische Sukzession wird als Teil dieser Heraushebung von den meisten evangelischen Kirchen[24] abgelehnt. Für mich wird dies allerdings durch die Beschreibung der "Sukzession als quasi-ontologischer Bedingung bevollmächtigter Lehre und Sakramentsverwaltung"[25] kaum verständlich. Übersetzt man "quasi-ontologisch", so bedeutet es "nahezu-seinsmäßig". Sukzession wäre also eine fast wesensbestimmende Bedingung für Lehre und Sakramentsverwaltung. Eine solche wäre deshalb ohne Sukzession kaum möglich. Ich sehe deshalb eine starke Spannung zwischen dem Priestertum aller Gläubigen und einer apostolischen Sukzession in evangelischen Kirchen, denn das Priestertum aller Gläubigen schließt auch nach meinem Verständnis[26] ja jeden ontologischen Unterschied zwischen Geistlichen und Laien aus.
Durch die Beseitigung dieser starken Heraushebung des Amtes und das Priestertum aller Gläubigen wollte man den Gegensatz zwischen Klerus und Laien beseitigen. Nach reformatorischer Lehre setzt bereits die Taufe jeden Gläubigen in den Stand des Priesters, was soll dann eine Sukzession noch bewirken?
Wie es dann heute beispielsweise bei der Wahl zur sächsischen Landessynode[27] trotzdem zu einer Einteilung in Laien und "Geistliche" kommen kann, ist vielen unverständlich. Erklärbar wird dies wohl höchstens durch die Akzeptanz eines besonderen Amtes innerhalb dieses Priestertums aller Gläubigen.
Leider führt Wilfried Joest keinerlei Konsequenzen des viergliedrigen Verständnisses dieses Amtes in der reformierten Tradition aus. Auch mir fehlen hier die nötigen Einsichten, so daß ich nur annehmen kann, daß vielleicht die synodal-presbyteriale Struktur eine Konsequenz daraus ist.
Das Luthertum geht von einem Amt, dem Pfarramt, aus und sieht alle anderen Ämter als besondere Ausformungen dieses einen Amtes. So verhält es sich auch mit dem Bischofsamt. Wie allerdings war es dann möglich, den Landesherrn als Notbischof zu verstehen, der nicht Inhaber eines Pfarramtes war ? Ich kann diese Frage nicht beantworten, so bleibt mir nur anzunehmen, es hier zumindest mit einer Akzentverschiebung im Amtsverständnis zu tun zu haben. Diese Frage stellte sich mir auch, da nach CA XIV dieses eine Amt nur ausüben soll, wer "rite" dazu berufen ist. Diese Berufung wird nach Joest durch die Ordination vollzogen. Mir ist allerdings kein Fall bekannt, in dem ein König ordiniert wurde, es sei denn, man geht nach meinem Verständnis zu weit und versteht seine Krönung als solche.
In der Verantwortung des Amtes für die Wortverkündigung sehe ich auch die Tradition des Kanzelrechtes begründet, welches es Pfarrern trotz des Verzichts auf ein Auslegungsprivileg des geistlichen Amtes erlaubt, anderen Predigern den Zutritt auf die Kanzel der Kirche zu untersagen, für die sie Verantwortung tragen. Dies erlaubt ihnen, ihren Auftrag wahrzunehmen und Stellung zu beziehen.
Die einzige Erwähnung des Begriffes Ordination in Wilfried Joests Dogmatik findet sich als Verständnis des "rite" geschehenden Vollzugs der Berufung zum "Amt der öffentlichen Predigt und Sakramentsverwaltung"[28]. Ich frage mich, ob hier eine für evangelisches Amtsverständnis wirklich nicht unwichtige Handlung mit der kurzen Festlegung auf nur ein einziges Verständnis nicht zu kurz kommt. Auch wenn ich die Zwänge einer Dogmatik im Taschenbuchformat verstehe: Ein paar Aussagen mehr dazu, was Ordination beispielsweise von einer Priesterweihe unterscheidet, weshalb römische Katholiken am Pfarramt wegen der Ordination einen defectus empfinden, was das Zusammentreffen von vocatio interna und vocatio externa in der Ordination oder die Ordination in ein Amt hinein bedeutet, hätten mich an dieser Stelle sehr gefreut.
Die Beschränkung des Verständnisses von Ordination einzig und allein auf den Akt, die Handlung der Berufung in das Amt, spricht ihr für mich eine tiefere Bedeutung beispielsweise auch als Verpflichtung auf die Bekenntnisse ab. Die Ordination besitzt schon allein dadurch, daß die in ihr ausgesprochene vocatio externa, der äußere Ruf der Kirche, die nicht nachprüfbare vocatio interna, die innere Berufung, voraussetzt, eine über den von Joest erwähnten Akt hinausgehende Bedeutung. Sie beinhaltet Elemente, die an die der Sukzession erinnern.
Die verschiedenen Äußerungen Luthers spiegeln für mich wider, daß schon damals die Frage diskutiert wurde, wie weit der Amtsträger aus der Gemeinde herausgehoben sein soll. Das Verständnis eines von Christus an die Gemeinde gegebenen Amtes, das von dieser nur an einzelne Glieder übertragen wird, gewinnt in unserer Zeit wieder mehr an Bedeutung, in der man sich eine lutherische Pfarrerkirche auch finanziell nicht mehr leisten kann. So wird das Pfarramt wieder mehr als ein Dienst, als Amt verstanden. Da in der Vergangenheit der Begriff "ministerium" in CA V oft mehr als Amt verstanden wurde, ist diese Frage, wie Joest zu Recht behauptet, eine umstrittene, die nicht nur eine Übersetzungsfrage ist, sondern eine grundsätzliche des evangelischen und speziell lutherischen Amtsverständnisses.
Da die reformierte Tradition von Anfang an ein stärker am Vorbild der neutestamentlichen Charismen ausgerichtetes Amtsverständnis hat und sich so die reformierten Kirchen nicht in gleichem Maße wie die lutherischen zu einer Pfarrerkirche entwickelten, stellt sich dort diese Frage des Verständnisses von Amt primär als Dienst nicht in gleichem Maße, das Pfarramt ist so stärker in die Gemeinde und die Gemeinschaft anderer Ämter eingeordnet.