Beitragsseiten

 

 

2.2.4.  Aufgliederung des Kirchenbegriffs in der altprotestantischen Orthodoxie

Diesen Abschnitt hat Wilfried Joest ausschließlich der Erklärung verschiedener Begriffe im protestantischen Kirchenverständnis gewidmet.

Man unterscheidet zunächst die "sichtbare Kirche", " ecclesia visibilis", als die Gesamtheit der Getauften, der als ein anderer Aspekt  von Kirche die "unsichtbare Kirche", "ecclesia invisibilis", als die Gemeinschaft der Glaubenden gegenüber steht. Innerhalb der sichtbaren Kirche wird unter der "ecclesia vera", der "wahren Kirche", deren Lehre der Schrift entspricht, und der "ecclesia falsa", der "falschen Kirche" unterschieden, deren Lehren nicht voll der Bibel entsprechen und somit Irrlehren enthalten.

Joest warnt hier vor einer Tendenz zur Gleichsetzung von wahrer und unsichtbarer Kirche, da auch dort, wo die richtige Lehre verkündigt wird, ungläubige Getaufte daran teilnehmen können.

In der späten lutherischen Orthodoxie findet sich zusätzlich zu dieser Unterscheidung noch die Einteilung der sichtbaren Kirche in ecclesia repraesentativa,  der Menge aller Amtsinhaber und Lehrender, und ecclesia synthetica, die sowohl die Amtsträger als auch die Gemeinde umfaßt.

Innerhalb der unsichtbaren Kirche finden sich nach Joest, die ecclesia militans, die angefochtene Gemeinschaft der Glaubenden, und die ecclesia triumphans, die Gemeinschaft zusammen mit Christus im Reich Gottes.

Die Attribute des Credos beziehen sich nach Joest auf die unsichtbare Kirche: Sie ist durch Christus und den Heiligen Geist einig und heilig, sie ist apostolisch, da sie in der Tradition der Apostel steht und sie ist "katholisch", da sie in einem durch Gottes Wort für alle begründeten Glauben lebt.

 

Mit der Warnung vor der Gleichsetzung von unsichtbarer Kirche und wahrer Kirche trifft Joest nach meinem Empfinden ein wichtiges Problem evangelischer Kirchen: Oft haben Menschen mit besonderen Glaubenserfahrungen sich als die unsichtbare Kirche empfunden, trat dann noch ein exklusiver Anspruch hinzu, wahre Kirche zu sein, so führte dies meist zur Entstehung  von Sekten.

Die "ecclesia invisibilis", als Gemeinschaft der Glaubenden, ist die Kirche, bei der ich am ehesten noch von einer Einheit der Kirche sprechen kann. Folge ich der Darstellung Joests, sie "nur" als Gemeinschaft der  Glaubenden zu verstehen, so ist in ihr keine Trennung nach Konfessionsschranken möglich.

Bei der sichtbaren Kirche kann sich durch ihr Verständnis als die Gesamtheit der Getauften und Gottesdienstbesucher schon anders darstellen: Verweigerte Kirchengemeinschaft sowie Gottesdienstliturgien und -ordnungen dienen auch der Abgrenzung verschiedener Kirchen untereinander. Erinnert sei hier nur an die Frage der Kindstaufe oder der Wiedertäufer bzw. "Wieder-Und-Wiedertäufer".

Problematisch wird es auf jeden Fall immer dort, wo eine Kirche exklusiv für sich beansprucht, ecclesia vera zu sein, denn damit bezeichnet sie zugleich alle anderen als ecclesia falsa und bezichtigt sie damit der Irrlehre, was die Möglichkeit eines Dialogs fast gänzlich verstellt. Deshalb verstehen sich die reformatorischen Kirchen heute als ein Teil der "ecclesia vera", statt als diese an sich.

Das im Gottesdienst gesprochene Glaubensbekenntnis bekommt einen Teil seiner Bedeutung daher, daß sich durch den Akt des Sprechens die ecclesia visibilis des Gottesdienstes zu den Attributen der ecclesia invisibilis bekennt und sich somit in diese stellt.

Die Lehre von "ecclesia vera" und "ecclesia falsa" läßt aber auch eine Ausgrenzung von Getauften möglich sein, die besonders in Verbindung mit einer restriktiven Kirchenzucht wiederum leicht zur Bildung einer Kirche in der Kirche und von Sondergemeinschaften und Sekten führen kann.

 

2.3. Neuere Entwicklungen

Die größte Herausforderung für die Kirche besteht für Joest in der Auseinandersetzung mit den Veränderungen in denen sich die Bindungen der Menschen seit dem 18. Jahrhundert speziell zur Kirche befinden.  Joest spricht in diesem Zusammenhang von "überkommenen institutionellen Bindungen"[32] und einem Wandel des Verhältnisses zu Kirche ins Indifferente bis Negative.

 

2.3.1. Die Entwicklungen durch die Aufklärungsfrömmigkeit

In der Zeit der Aufklärung beginnt die Individualisierung  der Menschen, die Frömmigkeit nur noch als individuelle Frömmigkeit bestehen bleiben läßt. Nach Joest gab es in der Aufklärung einen Trend zu einem Vernunftglauben als Ausdruck einer weiterentwickelten Religiosität, der den "Kirchenglauben" lediglich als eine Vorstufe ansah.

Ein erster Erklärungsversuch dieses Phänomens geschieht nach Joest darin, das Ende der Kirche als Institution im Zuge einer Verchristlichung der Gesellschaft kommen zu sehen. Ähnlich ist die Darstellung von Hegels Position, der christliches Gottesverständnis und christliche Ethik in einem allgemeinen Kulturbewußtsein aufgehen und dieses dadurch prägen sieht. Dies soll die Kirche überflüssig machen.

Doch dies blieb Theorie, obwohl sie äußerlich an ihrer Kirchenmitgliedschaft festhielten, verließen zuerst das Bildungsbürgertum und dann die Arbeiter die Kirche. Frömmigkeit und Glauben wurden so mehr und mehr zur Privatsache. Da auch das Bedürfnis nach Gottesdienst und anderen Gemeindeaktivitäten abnahm, lehnt Joest hierfür den Ausdruck der Verchristlichung der Gesellschaft ab. Die Kirche wird seit dieser Zeit häufig nur noch für die rituelle Begleitung an wichtigen Lebensstationen in Anspruch genommen. Aus dieser Entwicklung heraus forderten Theologen unter Führung von Niklas Luhmann die Kirche sollte sich von ihrem alten Bild der Gottesdienstgemeinde verabschieden und sich künftig nur noch auf die religiösen Bedürfnisse der Zeit hin orientieren und so ihre Rolle als "Kasualbegleiterin .. bei besonderen Anlässen des persönlichen Lebens"[33] sehen.

 

Die von Joest beschriebene Individualisierung zeigt sich mit ihren längerfristigen Folgen unter unseren ostdeutschen Verhältnissen, nach 40 Jahren fast absoluter Macht eines ziemlich kirchenfeindlichen Systems und einer anschließen Einbindung der Kirchen in ein staatliches Steuersystem: Der überwiegende Teil der Menschen hat neben der inneren nun auch die äußere Kirchenmitgliedschaft aufgekündigt. Dadurch wird das volle Ausmaß der bis heute andauernden Auswanderung sichtbar. In der Kirche verbleiben nach meinem Empfinden in der Regel die, die noch über eine relativ ausgeprägt Frömmigkeit gleich welcher Art verfügen und die Kirche als institutionelle Größe nicht grundsätzlich ablehnen, sondern gerade heute auch als Aufgabe verstehen.

In diesem Abschnitt stellt sich für mich die Frage: Warum verließen die Menschen die Kirche?

Bei Joest findet sich an Erklärungen nur eine Ablehnung von institutionellen Bindungen und die zunehmende Individualisierung. Ich sehe daneben noch weitere:

Zur Zeit der Aufklärung, besonders im 18. Jahrhundert, entstanden neue Weltbilder und Ideologien[34], die breiteren Schichten zugänglich wurden, so daß die Kirche hier erst ihr Monopol und später auch ihre vorherrschende Stellung in diesem Bereich verlor.

Daneben entstanden in dieser Zeit viele Parteien und Vereine, erinnert sei hier nur an die Frankfurter Paulskirche oder die Arbeiterbewegung. So verlor die Kirche auch als Gemeinschaft stiftende Institution an Bedeutung.

Dieser Prozeß der Pluralisierung und Angebotserweiterung besonders im weltanschaulichen Bereich hat sich bis heute fortgesetzt. Als Ergebnis kann man heute oft von einer persönlichen "Patchworkweltanschauung" sprechen, die neu zusammengesetzte Elemente aus verschiedenen Modellen enthält.

Auch dies halte ich für Komponenten, die zu einem Bindungsverlust zu Kirche beitrugen, und weil sie zuerst das Bildungsbürgertum und die Arbeiter betrafen, verließen diese zuerst die Kirche.

Die Frage, ob sich Kirche auf ihre exklusiven Angebote beschränken soll, ist eine andere, die mir Joests Text aufgibt. Kirche steht in der Zeit, sie besteht aus Menschen, die in einer sich ständig verändernden Welt leben. So verändert sich auch Kirche. Sie hat jedoch einen Auftrag, der sie bindet und eine Tradition, aus der sie kommt. Der Auftrag von Kirche ist, das Evangelium zu verkündigen und die Sakramente zu verwalten. Ihre Kennzeichen sind Wort und Sakrament. An sie ist sie gebunden, wenn sie Kirche bleiben will. Eine "Nischenrolle" von Kirche nur als Kasualbegleiterin ist daher für Kirche undenkbar, wenn sie weiter Kirche sein will, denn anders würde sie ihre Identität aufgeben. Daß die Rolle als Kasualbegleiterin ebenfalls nicht so exklusiv für die Kirche reserviert ist, zeigen besonders in Ostdeutschland die Jugendweihevereine. Daher hat Kirche nicht die Möglichkeit sich auf diesen Bereich zurückzuziehen, sondern bleibt an Wort und Sakrament, den Gottesdienst, der sich der Zeit entsprechend verändern kann, gebunden.

 

Anhänge:
DateiBeschreibungErstellerDateigröße
Diese Datei herunterladen (HSASYP99.pdf)HSASYP99.pdfals PDFMichael Hoffmann174 KB