Exkurs 1: Ellen Gould White:
„Eine der Gaben des Heiligen Geistes ist die Weissagung. Diese Gabe ist ein Kennzeichen der Gemeinde der Übrigen und hat sich im Dienst von Ellen G. White erwiesen.“[32] heißt es in den Glaubensüberzeugungen der STA. Zu ihren Schriften wird jedoch auch gesagt: „Sie heben auch deutlich hervor, dass die Bibel das Maß ist, an dem alle Lehre und Erfahrung geprüft werden muss.“ Dies ist Ausdruck des Verhältnisses der STA zu einer ihrer prägendsten Gestalten und macht deutlich, daß dieses Verhältnis auch von den STA selbst nicht unproblematisch und spannungsfrei gesehen wird. Das wird auch durch eine Stellungnahme im Gespräch zwischen Adventisten und Lutheranern deutlich: „Ellen G. Whites Autorität ist eine abgeleitete Autorität. Sie hat selbst entschieden das Sola-Scriptura-Prinzip vertreten und Adventisten überprüfen ihr Schrifttum an der Heiligen Schrift.“
Wer ist also Ellen Gould White[33], geborene Harmon? Sie wurde 1827 auf einer Farm im amerikanischen Bundesstaat Maine als Tochter eines Hutmachers geboren und als Neunjährige so am Kopf verletzt, daß sie für drei Wochen ohne Bewußtsein war und anschließend nicht mehr die Schule besuchen konnte. Die Familie gehörte zur Bischöflichen Methodistenkirche und schloß sich 1840 der Adventbewegung William Millers an. Sie erlebte in dieser Zeit auch entsprechend einem verbreiteten pietistischen Bekehrungsschema nach einer Phase tiefer Hoffnungslosigkeit ihre Bekehrung und wurde 1842 durch Untertauchtaufe Mitglied der Methodistenkirche, aus der sie jedoch bereits 1843 zusammen mit ihrer Familie wieder ausgeschlossen wurde. Im Dezember 1844 hatte sie als 17jährige ihr erstes Gesicht, in dem sie die Zukunft der Adventisten sah. Dieser Vision folgten weitere, in denen sie auch aufgefordert wurde, das Gesehene anderen mitzuteilen.
Wesentlich für die Bedeutung, die sie für die STA erlangte, ist wohl, daß James White ihre charismatische Begabung erkannte und man in ihr eine Prophetin und somit Wegweiserin der Bewegung sah.
Diese Rolle füllte sie auch nach ihrer Heirat mit James White 1846 aus. Im gleichen Jahr begann das Ehepaar nach dem Kontakt mit Joseph Bates den Samstag als Sabbat zu feiern. Dies wurde ihr 1847 durch eine Vision bestätigt.
Sie übernahm mit ihren Visionen und ihrer schriftstellerischen Tätigkeit die Rolle[34] einer geistigen Führerin, während ihr Mann sich um die Organisation der einzelnen Gemeinden zu einer Gemeinschaft bzw. Kirche [35] bemühte. Durch Ellen Gould Whites Visionen wurde er dabei unterstützt. Ihm kam so auch die Veröffentlichung der Traktate und der Niederschriften der Visionen seiner Frau zu.
Auch nach der offiziellen Gründung der STA 1863 formten Ellen Gould Withes Visionen die Gemeinschaft weiter. Beispielsweise wurde durch ihre Visionen ab 1863 auch der adventistische Lebensstil mit Enthaltsamkeit, Verzicht auf Schweinefleisch und anderes geprägt. Ebenfalls auf ihre Empfehlung geht die Gründung von Schulen und Sanatorien sowie der Beginn von Mission über die ursprünglichen Verbreitungsgebiete hinaus zurück. „Das pragmatische Reagieren auf aktuelle Fragen ist [dabei] für manche Visionen Ellen G. Whites charakteristisch.“[36] Nach dem Tod ihres Mannes 1881 bereiste sie 1885 bis1887 auch Europa. Auf dieser Reise wurde sie von Ludwig Richard Conradi begleitet, der prägenden Figur der entstehenden deutschen STA, der später einer ihrer entschiedensten Kritiker wurde und 1931 die Gemeinschaft der STA verließ. 1915 starb Ellen Gould White fast 88jährig.
Sie ist, wie bereits erwähnt, jedoch auch innerhalb der STA nie unumstritten gewesen. Ihr im deutschen Raum bekanntester interner Kritiker war der Organisator der deutschen Adventisten Ludwig Richard Conradi. Über ihre Schriften urteilte bereits er, daß „das Abschreiben aus Werken anderer“[37] eine wichtige Quelle sei. Seine Haltung zu den Schriften Ellen Gould Whites und deren kritische Analyse führten 1931 zur Pensionierung wegen „Abkehr von den Grundsätzen unserer Gemeinschaft“[38] und schließlich 1932 zum Verlassen der STA. Neben Conradi wurde die bedeutendste Frau in der Geschichte der STA unter anderem auch von ehemaligen Weggefährten wie Warren Prescott oder Arthur G. Danniells sehr kritisch beurteilt[39]. In den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts wurden die Abschreibevorwürfe gegen E. G. White durch den ehemaligen Adventisten Walter T. Rea noch verstärkt und ausgeweitet. Ellen Gould White wird bei aller Ehre, die ihr nach wie vor zuteil wird, heute auch von Adventisten teilweise recht kritisch[40] gesehen. So sehen es nach einer Untersuchung nur 21%[41] junger deutscher Adventisten als notwendig an zu glauben, daß E. G. White als Prophetin gilt. Auch aus Jugendgruppen wird berichtet, daß man mit Veranstaltungen über Ellen Gould White nicht das Interesse der Jugendlichen trifft. In der deutschen Fassung der Glaubensüberzeugungen[42] wird außerdem in Zusammenhang mit E. G. White das Wort Weissagung verwendet[43] und der Begriff Prophetie oder Prophetin vermieden. Zugleich wird dort darauf hingewiesen, daß ihre Schriften an der Bibel zu prüfen sind und somit geradezu zu Kritik aufgerufen. Eine solch selbstkritische Haltung zu ihr und ihren Schriften ist wohl auch deshalb möglich, da ihre Schriften und Visionen selbst Widersprüche und Entwicklungen zeigen[44]- beispielsweise die Ein- und Wiederausführung einer Reformkleidung für Frauen zwischen 1863 und 1875 oder das Verbot des Verzehrens von Schweinefleisch, nachdem dieses bis 1858 erlaubt gewesen war.
Ellen Gould Whites Schriften sind nach Aussage von Pastor Gelke nicht der Maßstab, nach dem STA die Bibel auslegen, sondern sie versuchen, die Schrift sich durch sich selbst auslegen zu lassen. STA betonen auch immer wieder, daß E. G. White weder die Gründerin der STA sei noch ihre Schriften Offenbarungscharakter hätten. Dennoch gehen sie weiter davon aus, sie habe die Gabe der Weissagung besessen.
In den lutherischen Kirchen und in vielen anderen nichtpfingstlerischen Kirchen treten die in 1.Kor. 12 beschrieben Gaben relativ selten auf oder werden zumindest relativ selten wahrgenommen. Es hat sich eine Skepsis gegenüber Charismen herausgebildet, deren Hintergrund in Rationalismus und Aufklärung zu suchen sind. Die Erweckungsbewegungen, die mit den Wurzeln der STA verbunden sind, waren gerade gegen diese Geisteshaltung gerichtet und demzufolge weniger skeptisch. Daher dürfte es hier angebracht sein, zumindest die Möglichkeit einzuräumen, Ellen Gould White habe ein Charisma besessen, denn sie erscheint als charismatische Führerin der ersten STA nicht durch ein Amt, sondern allein durch ihr Wort, ihre Schriften und ihre Visionen. Diese „richteten sich gegen Fanatismus und bestätigten oder signalisierten vernünftige Lösungen“[45]. Ihr ist es auch zu verdanken, daß die STA trotz ihrer Sonderlehren die wichtigsten Glaubenssätze mit den Kirchen der Reformation teilen.[46] Daß sie diese charismatische Leitung der Gemeinde mit Hilfe der Gabe der Weissagung als „ein von Gott bestätigtes und bevollmächtigtes Sprechen“[47] ausgeübt haben könnte, sollte den Adventisten zugestanden werden, zumal sie selbst einräumen: „Niemals hat sie den Anspruch erhoben unfehlbar zu sein.“[48]
Gerade weil die STA im Gegensatz zu einigen Splittergruppen[49] heute auch die Fehler E.G. Whites sehen, dazu auffordern ihre Schriften durch die Bibel zu hinterfragen und betonen, daß ihre Schriften und Vision einen zur Auseinandersetzung mit der Bibel anregenden und keinen ihr gleichkommenden Offenbarungscharakter hätten, sollte die Bezeichnung Prophetin[50] für E.G. White bzw. Prophetie für ihre Schriften zumindest im Deutschen wegen der möglichen Parallelisierung zum Alten Testament vermieden werden.
Ihre Bücher sind meist mehr oder weniger gelungene Bibelkommentare zu bestimmten Themen. „Der Große Konflikt“[51], ihr am weitesten verbreitetstes Werk, kommentiert allerdings teilweise polemisch die Kirchengeschichte.
Zusammenfassend läßt sich zu Ellen Gould White sagen: Sie war eine charismatische Führerin der STA. die mit ihren Visionen die Gemeinschaft formte. Die Sonderlehren der STA sind nicht aufgrund ihrer Visionen entstanden[52], sondern durch diese nur geformt und begründet worden. Gleichzeitig haben sie jedoch auch dafür gesorgt, das die STA die wesentlichen Glaubenslehren der reformatorischen Kirchen beibehalten haben. Auch Adventisten können heute Ellen Gould White kritisch sehen und werden durch ihre Glaubensüberzeugungen zudem aufgefordert, ihre Schriften an der Bibel zu prüfen, über bzw. neben der diese keinesfalls stehen. Es könnte daher möglich sein, daß sie zumindest zeitweise tatsächlich das Charisma der Weissagung besessen hat. Mir persönlich erscheint es aber angemessener, ihr das Charisma der Gemeindeleitung zuzugestehen, das sich im nicht ausschließlich zu verstehenden[53] Charismenkatalog in 1. Kor. 12 nicht findet. E. G. White, die heute von Adventisten ungeachtet dessen, daß sie nicht die Gründerin der STA ist, als durchaus mit Wesley, Luther oder Calvin vergleichbar angesehen wird, sollte im ökumenischen Umgang mit den STA kein großes Problem darstellen und steht auch einer Sicht der STA als Freikirche nicht entgegen. Es bleibt jedoch auch zu hoffen, daß in dem gleichen Maße, wie es den großen Konfessionskirchen gelingt, mit Charismen flexibler umgehen zu können[54], auch innerhalb der STA den gegenüber E. G. White skeptischer eingestellten Kräften gelingt, sich stärker Gehör zu verschaffen, so daß Heterodoxie hier für beide fruchtbar werden kann[55].