3.4. Von der neuen Kirche und ersten Blüte in Mariaschein bis zur Spätblüte im 20. Jahrhundert
Bereits in der Zunahme der Bedeutung Mariascheins seit der Mitte des 17. Jahrhunderts deutet sich die Blüte an, die es im 18. Jahrhundert erreichen sollte. Die Wallfahrten nahmen zu und die Kirche aus dem Jahre 1515 war dem Ansturm nicht mehr gewachsen, außerdem „verfiel [sie] immer mehr und eine bloße Restauration hätte nicht mehr hingereicht, alle Schäden zu verbessern.“[85] So begann man mit dem „Jubiläum des Jahres 1696“[86] mit der Sammlung für eine neue Kirche in Mariaschein. Der Bau dieser Kirche, der 1701 begann, markiert den Beginn einer Blütezeit Mariascheins, die bis zu den verheerenden Folgen des Siebenjährigen Krieges und darüber hinaus andauern sollte. Ein Ende ist wohl erst mit dem langsamen Aussterben und Wegzug der Ex-Jesuiten nach der Aufhebung des Ordens 1773 anzunehmen, läßt sich aber nicht genau datieren. Ich selbst würde das Verbot der Prozessionen zu den „sogenannten Gnadenorten“[87] durch Joseph II. ansetzen. Denn es bedeutete mit Sicherheit einen Bruch in der Tradition, wenn auch danach die Wallfahrten noch weitergingen.
Nachdem die Schwierigkeiten[88] in bezug auf das Geld und das Baumaterial überwunden und der Bau 1701 nach den Plänen des Prager Architekten Paul Peyer begonnen worden war, ging es zügig voran: 1704 wurde der Rohbau der Kirche und 1705 die zwei Türme durch den Baumeister Julius Broggio vollendet. 1706, nachdem die Ausgestaltung der Kirche begonnen hatte, konnte das Gnadenbild in die neue Kirche einziehen, das sich seit dem Abschluß der Arbeiten an den Fundamenten und dem Abriß der alten Kirche in der Litomericer Kapelle befunden hatte. Noch bevor der Altar mit dem 1709 zum Schutz mit Goldblech überzogenen Gnadenbild 1714 und die Kanzel 1719 fertiggestellt wurden, begann ein ungeheurer Wallfahrtsstrom nach Mariaschein. Allein im September mit den beiden Hauptfesten in Mariaschein, Mariä Geburt am 8. und dem Fest der sieben Schmerzen Mariä am 15. des Monats, zählte man 1709 bereits 29 000[89] Kommunikanten. Insgesamt waren es in diesem Jahr 68 700. 1720 hatte diese Zahl bereits die 100 000 überschritten. Im 18. Jahrhundert nahmen jährlich bis zu 145000[90] Menschen jährlich in Mariaschein an Kommunionen teil, die in bis zu 64 Wallfahrten die Kirche besuchten und mit denen bis zu 9580 Messen gefeiert worden. Mariaschein hatte eine Bedeutung erreicht, die heute kaum mehr vorstellbar ist, allein die Barockkirche und der Kreuzgang mit seinen vielen Beichtstühlen geben uns heute noch Zeugnis davon.
Zwei Ereignisse scheinen wesentlich zum Ende der Blüte Mariascheins beigetragen zu haben: Die Aufhebung des Jesuitenordens scheint der Wallfahrtsort noch verhältnismäßig gut überstanden zu haben, jedenfalls ist neben einer Abnahme der gefeierten Messen kein Rückgang in der Wallfahrt zu beobachten. Dies dürfte daran gelegen haben, daß die meisten Ex-Jesuiten nach dem vorläufigen Ende der Gesellschaft Jesu in Mariaschein blieben. Das Verbot der Prozession zu den „sogenannten Gnadenorten“[91] durch Joseph II. , der mit seinem Toleranzedikt 1780 gerade den Evangelischen in Böhmen viel Gutes getan hatte, wird Mariaschein wesentlich stärker getroffen haben. Damals mußten alle Votivgeschenke an den staatlichen Religionsfond nach Prag abgeliefert werden. Anfangs versuchte man in Mariaschein noch die Wallfahrtstradition unter Verzicht auf bestimmte Formen fortzusetzen, aber schließlich setzte das Konsistorium in Litomerice unter dem von 1760 bis 1789[92] amtierenden Bischof Emanuel Ernst Graf von Waldstein[93] die kaiserliche Religionspolitik durch. Auch der nächste von 1790 bis 1801[94] amtierende Bischof Ferdinand Kindermann von Schulstein konnte daran nichts ändern. Dennoch hat gerade er viel für die Wallfahrtskirche erreicht: Als Mitglied der Aufhebungskommission[95] hatte er bereits 1773 die Herrschaft Sobechleby aus dem Erbe der Frau von Bleileben für die Kirche gesichert. 1779 wurde er dann zum Rektor des Wallfahrtsortes berufen und die Leitung desselben übertragen. In dieser Eigenschaft gelang es ihm später auch den Abriß der Wallfahrtskirche zu verhindern, als ein neues kaiserliches Dekret die Schließung aller mehr als eine halbe Stunde von der nächsten Pfarrkirche entfernten Dorfkirchen forderte. Durch sein Engagement wurde Mariaschein zu einer Localie erhoben und der Ex-Jesuit Pater Andree konnte die Verwaltung des Wallfahrtsortes übernehmen, nachdem Kindermann sein Amt als Rektor niedergelegt hatte. In seiner Amtszeit als Bischof von Litomerice erreichte Kindermann 1798 bei Kaiser Franz die Erhebung Mariascheins zur Probstei und die Ernennung des Ex-Jesuiten Pater Maternus Schäfer zum ersten Probst. Kindermann muß Mariaschein nach Kräften gefördert und Verletzungen des kaiserlichen Dekretes von 1782 wohl geflissentlich übersehen haben, jedenfalls erreichten die mir bekannten Zahlen der Kommunikanten[96] in seiner Amtszeit als Bischof 1795 mit 145000 einen Höhepunkt. Sein Nachfolger scheint Mariaschein weniger freundlich gesinnt gewesen zu sein, denn bereits am 23. Oktober 1802 etwas mehr als 100 Tage nach der Amtseinführung Bischof Wenzel Leopold Chlumczanskys von Przestawlk und Chlumczan am 30. Juni wurde per Konsistorialdekret „die Einführung von Processionen in die Gnadenkirche“ untersagt. Daß der Strom der Wallfahrer trotzdem noch einige Zeit etwas anhielt, kann mit der Vorliebe des sächsischen Kurfürstenhauses und besonders Kurfürstin Maria Theresias für Mariaschein in Verbindung gebracht werden.
Zu dem Schaden den später die Kämpfe auf den Nollendorfer Höhen und die damit einher gehenden Besetzungen, Plünderungen etc. hatte Mariaschein Anfang des 19. Jahrhunderts noch mit dem Schaden zu kämpfen, den bereits zuvor ein untreuer Verwalter angerichtet hatte. Spätestens mit den Kämpfen von 1813 ist also von einem Ende der Blüte Mariascheins auszugehen. Die vielen Maßnahmen unter denen es jedoch bereits zuvor schon zu leiden hatte machen jedoch ein früheres Ende wahrscheinlich.
1815 begann man mit einer Restauration der durch die Kämpfe von 1813 ziemlich beschädigten Kirche. Dieser Kämpfe wegen erhielt die Kirche später auch öfter Besuch von gekrönten Häuptern Europas. Nachdem man sich 1845 in der Litomericer Diözese zur Gründung eines Knabenseminars entschlossen und diese 1853 nach Mariaschein verlegt hatte, kamen auch wieder Jesuiten, deren Orden 1814 wiederhergestellt worden war, nach Mariaschein. Allerdings waren die Besitzungen der Wallfahrtskirche in der Zwischenzeit auf einen kläglichen Rest zusammengeschmolzen. Da der Bischof sich die Rechte an der Kirche sichern wollte, wurde so auch kein Jesuit sondern ein Weltpriester Pfarrer in Mariaschein.
1879 wurde die Kirche erneut restauriert und von einem Bischof Frind konsekriert, der möglicherweise in Zusammenhang mit dem Verfasser der Kirchengeschichte Böhmens steht.
Im Zeitalter der Industrialisierung wuchs auch der Ort Mariaschein von etwa 80 Häusern 1868 auf über 200 im Jahre 1890. Auch die Eisenbahn erreichte nun Mariaschein und wurde besonders im 20. Jahrhundert gern von Wallfahrern genutzt.
An dieser Stelle endet das Werk Alois‘ Kröss und die noch bis 1933 veröffentlichten Wallfahrtsbüchlein, Gespräche und Touristenbroschüren können es für die folgende Zeit nicht ersetzen, so bleibt mir nur die bekannten Bruchstücke hier aufzuführen und soweit möglich zu verbinden. Folgende Fakten lassen sich für die Zeit bis zum 2. Weltkrieg finden:
Das Gymnasium[97] erlangte 1905 das Öffentlichkeitsrecht und ihm wurde von 1905 bis 1912/13 durch die Bischöfe Schöbel und Groß ein Neubau errichtet, der Platz für 300 bis 400 Schüler bot. Die Schülerzahl erlebte durch den 1. Weltkrieg einen starken Einbruch und begann sich 1925 wieder zu erholen. Daneben wurden Anfang des 20. Jahrhunderts auch verschiedene marianische Kongregationen gegründet, die beispielsweise die „Mariascheiner Sodealenkorrespondenz“ herausgaben.
Die Wallfahrtskirche wurde 1924 vom Papst zur „Basilika minor“ erhoben, dem muß ein Prozeß vorausgegangen sein. Schmidt stellt es in den Zusammenhang mit dem ein Jahr später gefeierten Jubiläum[98].
1925 wurden mit viel Aufwand und einem internationalen marianischen Kongreß 500 Jahre Mariaschein gefeiert. Dies muß ein Ausdruck einer erneuten und vorerst letzten Blüte Mariascheins gewesen sein, denn auch Henriette Plötner sprach von großen Wallfahrten besonders im Marienmonat Mai, an denen sie als Kind teilnahm und auch Pater Cukr erwähnte die Zahl von 100.000 Gläubigen.
Ich halte es für gerechtfertigt von einer Spätblüte Mariascheins zwischen den Weltkriegen zu sprechen, auch wenn der Wallfahrtsort nicht mehr die Bedeutung des 18. Jahrhunderts erreichte, aber schon allein der Untertitel des letzten Wallfahrtsbüchleins[99] „dem deutsch-böhmischen Lourdes des 17. und 18. Jahrhunderts“ zeigt an, in welchen Zusammenhang man Mariaschein damals stellte und auch die Anzahl der Wallfahrer dürfte der des 18. Jahrhunderts nahegekommen sein. Auch durch die Förderung des Bischofs Groß muß Mariaschein eine Bedeutung erlangt haben, die sich selbst heute noch bei den Treffen[100] und Fahrten der Sudetendeutschen widerspiegelt. Ich selbst habe mehrfach Familienangehörige nach Mariaschein begleitet und dabei die Faszination erlebt, die dieser Ort noch immer für sie hat und ich kenne keinen, der damals in Nordböhmen lebte, der nicht mehrfach auf Wallfahrt nach Mariaschein war. Allerdings die Zeiten hatten sich geändert: 1872 beschreibt der tschechische Schriftsteller Jan Neruda[101] die Industrielandschaft bei Mariaschein, eine Wasserleitung, ein Krankenhaus, eine Badeanstalt, eine weltliche Schule, Eisenbahnlinien werden errichtet und diverse Vereine gründen sich. 1882 gab es einen großen Bergarbeiterstreik und 1918 wurde die Tschechoslowakei gegründet in der die die Mariascheiner Tradition tragenden Deutschsprachigen[102] in der Minderheit waren. So wurde 1934 in Krupka gegen viele Widerstände eine tschechische Schule eröffnet. Bemerkenswert ist, daß Mariaschein in dieser Zeit an Einwohnern die Stadt Krupka fast überflügelte und 1921 mit 3704[103] Einwohnern nur 178 Menschen weniger als in der alten Bergstadt lebten.
Die Kirche konnte ihre in der josephinischen Aufklärung verlorene Bedeutung keinesfalls wieder gewinnen, dennoch ist die Bedeutung gerade Mariascheins und seines Jesuitengymnasiums nicht zu unterschätzen: Denn nicht nur die Kommunistin Herta Lindner wurde hier geboren und wuchs hier auf, Mariaschein brachte auch viele Pfarrer und Theologen hervor, wie die Zeitungs- und Internetartikel belegen.
Mit dem Einmarsch der Deutschen 1938 und einer wohl letzten großen Wallfahrt 1939 oder 1938 war Mariaschein auch die Möglichkeit genommen, auf neue Weise wieder ganz zu der alten Größe zurückzufinden. Eine kurze Spätblüte ging zu Ende und der Wallfahrtsort fiel in einen Dornröschenschlaf, aus dem er bis heute noch nicht wieder richtig erwacht ist.
IV. Exkurs: Kalvarienberg und Annenkirche
Henriette Plötner berichtet, daß bei den Wallfahrten nach Mariaschein Anfang des 20. Jahrhunderts nicht nur die Wallfahrtskirche, sondern auch andere Orte in Mariaschein und Krupka besucht wurden. Zwei dieser Orte sind mir bekannt: Die St. Annenkirche in Krupka liegt auf einer Anhöhe etwas über Mariaschein. Sie findet sich auch mit einem Foto im letzten Wallfahrtsbüchlein von 1933[104]. Daneben wird dort auch vom Kalvarienberg berichtet: „Wir treten wieder auf die Straße und erblicken im Norden den Kalvarienberg, der gern von den Wallfahrern und Fremden besucht wird. ..... Der ziemlich steile Weg führt an der hl. Grabkapelle vorüber, in der eine etwa zwei Meter tiefe Höhle im Felsen zu sehen ist, die ehemals einem Einsiedler als Aufenthalt gedient haben soll. Die Höhe des Kalvarienberges trägt eine schöne Kreuzigungsgruppe aus Eisenguß. Von hier aus läßt sich ganz Mariaschein übersehen“[105] Eine Touristenbroschüre[106] schreibt, daß sich dort ein Kreuzweg und eine Kapelle aus dem 18. sowie eine Statuengruppe aus dem 19. Jahrhundert befinden.
Daneben sind mir aus anderen Publikationen keinerlei Hinweise auf diesen Berg bekannt, allein Kröss[107] geht kurz auf eine Nachbildung „der hl. Stiege“[108] die der Krupkaer Pfarrer Kroh 1736 auf seine Kosten errichten ließ. Auf jeder Stufe waren damals Reliquien eingesetzt. Nachdem die Stiege von Litomericer Bischof 1738 geweiht worden war, gewährte Papst Benedikt XVI. denen die im Gedenken an die Leiden Christi die Treppe besuchten und auf- und abstiegen einen Ablaß. Ich halte es für wahrscheinlich, daß Kröss hier den Kalvarienberg meint, zumal die Kreuzigungsthematik, die Entstehungszeit und die Lokalisierung auf einer Anhöhe übereinstimmen.
Auch eine Verbindung zwischen dieser Stiege und der Annenkirche ist möglich, zumal diese die Identität von Stiege und Kalvarienberg nicht ausschließen würde. Dies klingt plausibel, wenn man bedenkt, daß es in unmittelbarer Umgebung Mariascheins nur ein in Frage kommender Hügel befindet, auf dessen hinteren Teil sich die Annenkirche befindet. Alle anderen Erhebungen steigen steil zum Erzgebirgskamm hin auf. Ein weiteres Argument ist, daß der Krupkaer Pfarrer die Stiege „für seine Pfarrkirche“[109] anfertigen ließ. Die St. Annenkirche ist bis heute eine Krupkaer Pfarrkirche und war es wohl auch in jener Zeit. Als letztes spricht für eine Verbindung der St. Annenkirche, des Kalvarienberges, den ich selbst noch nie besucht habe, und der Nachbildung heiligen Stiege, daß Frau Plötner berichtet, in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts seien Wallfahrer auf Knien von Mariaschein zur Stankt Annenkirche hinaufgestiegen. Dies ist eine Tradition die aus Rom her bekannt ist. Über die Annenkirche ist bekannt, daß sie fast gleichzeitig mit der ersten Wallfahrtskirche in Mariaschein bis 1516 von Krupkaer Bürgern[110] errichtet wurde. Später, wohl um 1576, als der erste Protestantische Pfarrer Michael Winkler[111] nach Krupka kam, wurde sie lutherisch und blieb dies wohl einige Zeit. Aus dieser Zeit stammt wohl das mittlerweile sehr stark verblaßte Bild eines Mannes, das sich noch heute in der stark renovierungsbedürftigen Kirche befindet und das in Sachsen üblichen Lutherdarstellungen ähnelt, so daß man davon ausgehen kann, daß es sich auch um ein solches handelt. Dies wird auch von Besuchern beschrieben, die das Bild noch aus etwas besseren Tagen kennen. Wann die St. Annenkirche wieder katholisch und somit zur einzigen mir bekannten Kirche wurde, in der sich ein protestantisches Lutherbild befindet, ist mir nicht genau bekannt. Es ist anzunehmen, daß dies im Zuge der Gegenreformation geschah. Da Kröss[112] als letzten Anhaltspunkt das Ende der Amtszeit des vorletzten evangelischen Pfarrers in Krupka mit 1617 angibt und die Krupkaer Touristenbroschüre[113] von einem Umbau 1618 schreibt, ist die Wiederinbesitznahme der Kirche durch die Katholiken 1618 oder spätestens nach der Schlacht am weißen Berg 1620 mit der vernichtenden Niederlage der böhmischen Protestanten wahrscheinlich. Die St. Annenkirche wird gelegentlich als Friedhofskirche bezeichnet, da sie ein Friedhof umgibt auf den man durch ein schmiedeeisernes Tor aus dem Jahre 1619 gelangt. Die Tür der Kirche selbst ist ein Renaissancetor aus dem Jahre 1615 und damit wohl noch aus protestantischer Zeit.
Pater Cukr berichtete, daß man im Jahr 2000 auch wieder mit eigenen Wallfahrten zur Annenkirche begonnen habe und diese fortsetzen wolle. Sollte also Mariaschein wieder einen Aufschwung als Wallfahrtsort erleben, dürfte dieser nicht nur auf die Wallfahrtskirche beschränkt bleiben.